Unter den großen Liebesgeschichten der Weltliteratur ist die Geschichte von „Paul und Virginie“ möglicherweise eine der unbekanntesten. Spielte sie noch vor gut einhundert Jahren in der gleichen Liga wie „Romeo und Julia“ oder „Abelard und Heloise“, ist sie heute fast vergessen. Und das, obwohl der Romantizismus, der ihr zugrunde liegt, noch immer ein Grundakkord unserer Zeit ist.
Wie der Roman war auch der Autor Jacques-Henri Bernardin de Saint-Pierre ein typisches Kind seiner Zeit. Er wurde im Jahre 1737 in einfachen Verhältnissen geboren, begeisterte sich in seiner Jugend für „Robinson Crusoe“, reiste in die Karibik und besuchte 1768 als Vermessungstechniker im Auftrag der französischen Kolonialverwaltung die Insel Mauritius im indischen Ozean. Ab 1771 lebte er in Paris, wo er als glühender Anhänger Rousseaus seine dreibändigen „Naturstudien“ veröffentlichte, die ohne großen Nachhall blieben. Erst die Neuausgabe von 1788 mit einem neuen, vierten Band „Paul et Virginie“ machte Bernardin de Saint-Pierre auf einen Schlag berühmt. Obwohl von bescheidenem literarischen Wert traf die Romanhandlug genau den romantisch-aufklärerischen Nerv der Zeit.
„Ich wünschte“, schrieb Bernardin de Saint-Pierre, „mit der Schönheit der Tropennatur die moralische Schönheit einer kleinen Gesellschaft zu verbinden. Dabei beabsichtigte ich den Beweis von mehreren großen Wahrheiten herzustellen, z. B. von der, dass unser Glück einzig und allein auf einem natur- und tugendgemäßen Wandel beruht. Ich brauchte nicht erst einen Roman zu ersinnen, um glückliche Familien zu schildern. Ich kann versichern, dass Diejenigen, von denen ich sprechen will, wirklich gelebt haben, und dass ihre Geschichte in den Hauptbegebenheiten wahr ist.“
Schauplatz der Romanhandlung sind also die Tropen, genauer gesagt, die Insel Mauritius, die damals als „Ilse de France“ unter französischer Kolonialverwaltung stand. Auf ihr landen im Jahre 1721 zwei Frauen aus Frankreich, die man sich unterschiedlicher kaum vorstellen kann. Sophie de la Tour hatte Frankreich wegen einer unstandesgemäßen Ehe mit einem Bürgerlichen verlassen müssen. Ihr Plan, mit diesem bürgerlichen Mann in Mauritius ein neues Leben zu beginnen, scheitert, als ihr Ehemann kurz nach der Ankunft verstirbt. Von ihrer Liebe bleibt Sophie de la Tour nur ihr neugeborene Sohn Paul.
Die zweite Frau, mit deren Schicksal der Roman beginnt, ist Marguerite Duval, die sich in Frankreich auf eine Liaison mit einem Adligen eingelassen hatte. Als sich dieser nach der Schwängerung weigert, sein Eheversprechen einzulösen, zieht sich Marguerite Duval nach Mauritius zurück und bringt dort ihre uneheliche Tochter Virginie zur Welt. Sophie, de la Tour und Margaret Duval freunden sich an und leben gemeinsam im „Tal des klaren Wassers“, wo ihre Kinder Paul und Virginie unbeschwert von allen gesellschaftlichen Konventionen in einer paradiesischen, natürlichen Umgebung aufwachsen. Wie es nach dem Glauben der Aufklärung nicht anders sein kann, bewahrt sie das einfache Leben vor allem moralischen Fallstricken. Sie sind voller Freude an den Schönheiten der Natur und voller Mitleid für die Sklaven, wodurch sie mit den hartherzigen französischen Zuckerrohrpflanzern in Konflikt geraten. Die Situation spitzt sich zu, als Virginies adlige Tante ihre Nichte nach Frankreich zurückruft, um ihr eine angemessene Erziehung zuteilwerden zu lassen. Doch der Aufenthalt in Frankreich wird für Virginie eine schreckliche Tortur. Sie vermisst Paul und weigert sich, eine arrangierte Ehe Verbindung mit einem alten, adligen Schwerenöter einzugehen. Erbost Schickt die Tante Virginie mitten in der Monsunzeit zurück. Kurz bevor das Schiff wieder im Mauritius anlegt, gerät es am Cap Malheureux in einen Sturm und sinkt. Soweit so tragisch, wenngleich nicht ohne Kuriosität, denn wie der Autor ausdrücklich vermerkt, hätte Virginie gerettet werden können, wenn sie ihr Mieder abgelegt hätte und ans Ufer geschwommen wäre. Sich vor den Augen der Matrosen zu entkleiden, wäre aber mehr gewesen, als ihr ihre Tugend erlaubte, so dass sie lieber ertrank als sich zu entblättern. Paul, der das Drama vom Ufer aus beobachtet, stirbt kurz darauf an gebrochenem Herzen.