Bernhardin de Saint Pierre: Paul und Virginie

Jacques Henri Bernhardin de Saint Pierre wurde im Jahre 1721 in einfachen Verhältnissen geboren und begeisterte sich zeitlebens für die Ideale der europäischen Aufklärung. Er fuhr zur See, bereiste die Karibik, war Soldat, und hielt sich 1768 als Vermessungstechniker auf der Insel Mauritius auf. 1771 ließ er sich in Paris nieder und versuchte, sich an die Enzyklopädisten  anzuhängen. Als diese ihn zurückweisen, näherte er sich Rousseau und veröffentlichte ein dreibändiges spekulatives Werk über die Natur. Da der Verkauf dieses Werkes lahmte, hing er ihm 1788 einen vierten Band mit einem Gedankenroman an, in dem er anhand des Schicksals zweier Naturkinder Rousseaus Lehre von der guten Natur in eine rührselige Romanhandlung überführte. In seinen eigenen Worten hörte sich das so an: „Ich wünschte die Schönheit der Tropennatur und die moralische Schönheit einer kleinen Gesellschaft zu verbinden. Dabei beabsichtigte ich den Beweis von mehreren großen Wahrheiten herzustellen, z. B. von der, dass unser Glück einzig und allein auf einem natur- und tugendgemäßen Leben beruht.“ Auch wenn dem Leser unserer Tage bei der Lektüre dieses Programmes die Füße einschlafen, schlug das Buch im jahr vor der Französischen Revolution wie ein Bombe ein. Der Roman, heute fast vergessen, arrivierte am Ende des 18.Jahrhunderts zu einer der großen Liebesgeschichten der Weltliteratur.

Die Handlung des Romans spielt im Jahre 1720  in der französischen Kolonie Mauritius, einer Insel im Indischen Ozean, die gerade erst von Frankreich besetzt worden war. Hier treffen sich zwei französische Frauen in einer verzweifelten Lebenssituation.  Die erste, Sophie de la Tour, die  in Frankreich unstandesgemäß einen Bürgerlichen geheiratet hatte und deswegen verstoßen worden war. Ihr Plan mit diesem bürgerlichen Mann in Mauritius ein neues Keben zu beginnen, scheitert, als ihr Ehemann bei einer Reise nach Madagaskar  verstirbt. Von ihrer Liebe bleibt Sophie de la  Tour nur ihr neugeborene Sohn Paul, der im Mauritius, befreit von allen Konventionen, aufwächst.
Die zweite Frau  ist Margaret Duval, die sich in Frankreich auf eine Liaison mit einem Adeligen artigen eingelassen hatte. Als sich dieser nach dem Beischlaf weigert, Margaret Duval zu heiraten, zieht sich diese nach Mauritius zurück und bringt dort ihre uneheliche Tochter Virginie zur Welt.

Sophie de la Tour und Margaret Duval freuten sich an und leben mit einem Sklavenpaar gemeinsam im „Tal des klaren Wassers“, wo ihre Kinder Paul und Virginie  in einer paradiesischen, natürlichen Umgebung aufwachsen. Das Leben in der Natur bewahrt sie  vor allem moralischen Fallstricken, und wie es Rousseau in seinem Erziehungsroman „Emile“ beschrieben hatte, ist ihr Gewissen der unfehlbarer Maßstab ihres Verhaltens.  Kein Wunder, dass sie für die die Sklaven Mitleid empfinden und mit den  hartherzigen französischen Zuckerrohrpflanzern in Konflikt geraten.

Davon unabhängig erwächst zwischen Paul und Virginie eine tiefe, unschuldige Liebe, die allerdings keine Erfüllung finden sollte. Denn inzwischen hatte sich aus Frankreich Virginies adlige Tante gemeldet und ihre Rückkehr gefordert, um ihr standesgemäße Erziehung angedeihen zu lassen. Dieser Aufforderung kann sich die gehorsame Virginie nicht entziehen, auch wenn ihr die Trennung von Paul fast das Herz bricht.  Auch ihr Aufenthalt in  Frankreich wird eine Tortur. Sie vermisst Paul und weigert sich, eine Eheverbindung mit einem alten, adligen Schwerenöter einzugehen. Erzürnt schickt die  Tante Virginie daraufhin mitten in der Monsunzeit zurück nach Mauritius. Kurz bevor das Schiff Mauritius erreicht, gerät es in einen Sturm und sinkt. Dabei stirbt Virginie unter Umständen, die, von heute aus gesehen, gerade komisch wirken. Virginie hätte überlebt, wenn sie ihr Mieder abgelegt hätte, um sich schwimmend zu retten Aber ihre Schamhaftigkeit hinderte sie daran, sich vor den Matrosen zu entkleiden, so dass sie das Mieder in die Tiefe zeiht. Paul bricht bei der Kunde von Viriginies Tod zusammen und wird seines Lebens nicht mehr froh und stirbt als gebrochener Mann.

Dieser Roman war in der europäischen Romantik ein ungeheurer Erfolg, weil er in Reinkultur die Lehre der Aufklärung, von der Reinheit, der natürlichen Erziehung und der Verderbtheit der Gesellschaft literarisierte. Heute sind Buch und Autor  vergessen. Auch die Unschuld und Reinheit, die die Liebe der beiden Naturkinder kennzeichnet, gehört in der Epoche einer frühsexualisierten Kindergartenpädagogik zu einer längst versunkenen Welt. Mir begegnete die Mär von Paul du Virginie als Lokalkolorit auf einer Reise nach Mauritius wie ein Gruß aus der Vergangenheit

 

-Pierre zaghaft als vierten