Die Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Für kaum einen Bereich trifft das so zu, wie für die 68er Bewegung, deren Profiteure sich im Zenit ihrer politischen und medialen Macht im Jubiläumsjahr 2018 ausgiebig beweihräucherten. Das ist umso erstaunlicher, als die 68er Bewegung jede Menge Leichen im Keller hat, an denen allerdings das Bemerkenswerteste ist, dass sich aus diesen Leichen im Laufe der Zeit Mythen entwickelten, die ihre Faszination bis auf den heutigen Tag nicht eingebüßt haben. Die Rede ist von der RAF.
Bettina Röhls Buch „Die RAF hat euch lieb“ ist der Versuch gegen diese Mythenbildung der 68er anzuschreiben. Als Tochter der RAF Terroristin Ulrike Meinhof ist Bettina Röhl dazu wie wenige befähigt, denn sie hat die Hochphase der Apo-Revolte in Berlin und die Gründung der RAF als Kind aus nächster Nähe miterlebt. Dementsprechend besteht das vorliegende Buch aus drei Schwerpunkten, die sich zueinander verhalten wie die Bestandteile einer russischen Puppe. Den ersten Schwerpunkt bildet eine zeitgeschichtliche Darstellung, in der Bettina Röhl in mehreren „Essays“ die 68er Bewegung einer Gesamtkritik unterzieht. Innerhalb dieses Rahmens beschäftigt sich der zweite Schwerpunkt des Buches mit der Person Ulrike Meinhofs, dargestellt als der Verfall einer extrem intoleranten und gewalttätigen Frau, die am Ende gegen jede Plausibilität zu einer Ikone der 68 Bewegung avancierte. Ergänzt werden diese beiden Zugänge durch die parallel erzählte Geschichte der Zwillingsschwestern Bettina und Regina Röhl, die im Strudel der Ereignisse fast zugrunde gegangen wären.
Bettina Röhls Mutter Ulrike Meinhof gehörte übrigens schon vor der Entstehung der APO zum linken Journalismus Jet-Set, deren Angehörige nichts dabei fanden, die junge Bundesrepublik als „faschistoid“ zu denunzieren und über die Repression in der DDR locker hinwegzusehen. Nicht zuletzt mit dem Geld aus dieser DDR entwickelte der Meinhofs-Ehemann Klaus Röhl aus einer ehemaligen Studentenpostille das einflussreiche politische Linksmagazin KONKRET, von dem in Spitzenzeiten fast 200.000 Hefte verkauft wurden. Meinhof und Röhl empfingen in ihrer Villa in Blankenese lange vor dem Ausbruch der Apo-Revolte bereits die künftigen sugar daddys und Sympathisanten des ansehenden „Kulturbruchs“ (Karl Heinz Weißmann): Nannen, Augstein, Walser, Grass, Reich Ranicki, aber auch Oswald Kolle und andere Bonsai-Giganten des linken Feuilletons. Diese wunderbare Welt des High Society-Salonsozialismus zerbarst, als Ulrike Meinhof im März 1968 wegen des Ehebruchs ihres vitalen Gatten zusammen mit ihren sechsjährigen Töchtern Bettina und Regina die Hamburger Villa verließ um in den Hexenkessel Berlin überzusiedeln. Dort, wo die Apo-Revolte gerade ihrem Höhepunkt entgegentaumelte, war die hochrenommierte Politjournalistin Meinhof hochwillkommen, auch wenn ihre rückhaltlose Bejahung der Gewalt zunächst befremdete.
In diesen turbulenten Jahren zwischen 1968 und 1970 waren die kleinen Meinhof-Töchter immer dabei, schliefen in niktotinverseuchten Räumen, während ihre Mutter nächtelang diskutierte, zechte und ihre Beziehungen auslebte. Später, als die Meinhof Wohnung in der Kufsteiner Straße zum Anlaufpunkt für gewaltbereite Aktivisten geworden war, mussten die Mädchen oft mitten in der Nacht in Schlafanzughosen auf die Straße, um den Nachschub an Reval und Rothändle zu sichern.
Wahrscheinlich wären Bettina und Regina Röhl bald rettungslos verwahrlost, hätten sie nicht anstelle der Mutter andere Bezugspersonen gefunden, die ihnen konkrete Hilfe und emotionale Wärme boten, vor allem die „Tanten“ Holde Bischof und Renate Riemeck und der zeitweilige Meinhof- Freund Peter Homann, der den Kindern jahrelang die Schulbrote schmierte und sich um ihren Alltag und ihr Wohlbefinden kümmerte. Die Situation der Mädchen verdüsterte sich jedoch schlagartig, als auf Betreiben des Rechtsanwaltes Horst Mahler die Rote Armee Fraktion (RAF) als revolutionäre Stadtguerilla gegründet wurde, intern geführt durch den soziopathischen Kleinkriminellen Andreas Baader, nach außen vertreten durch die noch immer prominente Ulrike Meinhof. Als sich die Spirale der Gewalt mit der Baader-Befreiung vom Mai 1970 zu drehen begann und die Gruppe einschließlich Ulrike Meinhofs in den Untergrund ging, wurden die Mädchen in einem sizilianischen Erdbebenlager versteckt – und das nur, um sie dem Ex-Ehemann Klaus Röhl, der ihnen ein sicheres Leben hätte bieten können, vorzuenthalten. Mehr noch: während eines Abstechers von Baader, Ensslin und Meinhof in ein palästinensisches Terrorcamp wurde beschlossen, die Mädchen in Sizilien abzuholen in einem jordanischen Flüchtlingslager zu entsorgen.
Die Geschichte der Rettung der Kinder vor ihrem sicheren Untergang in einem orientalischen Massenlager gehört zu den zentralen Passagen des Buches, die hier nicht im Einzelnen dargestellt werden können. Jedenfalls gelang es Peter Homann, der sich inzwischen von der RAF getrennt hatte und dem Journalisten Stefan Aust in einer Nacht- und Nebelaktion gerade noch rechtzeitig die Kinder aus dem Erdbebenlager in Sizilien herauszuholen, ehe Ulrike Meinhof eintraf, um ihre Kinder nach Jordanien zu überführen. Bettina Röhl, die sehr anschaulich darüber berichtet, wie sie und ihrer Schwester auf dieser Weise ihrem Untergang nur um Haaresbreite entgingen, interpretiert das Verhalten ihrer Mutter als einen „Selbstmord auf Raten“. Mit dem Sprung in den Terror, so Bettina Röhl, hatte ihre Mutter einen etappenweisen Suizid eingeleitet, in deren Verlauf sie mit voller Absicht ihre Kinder mit in den Untergang reißen wollte.
Umso erstaunlicher, dass sich der Mythos von der „fehlgeleiteten“, aber letztlich „edlen“ Ulrike Meinhof ungeachtet der zahleichen menschlich abstoßenden Details und ihrer Gewaltaffinität („Natürlich darf geschossen werden.“) nach Gefangennahme und Freitod erst richtig entfaltete. Befremdlich ist es zu lesen, wie sich Heinrich Böll an der Reinwaschung Meinhofs beteiligte und kein Wort über die getöteten Polizisten verlor, und wie Johannes Rau in einer Mischung aus Sentimentalität und Senilität vom „Blockflötenmädchen“ spricht. Elfriede Jelinek widmete ihr ein Theaterstück als moderner Maria Stuart, und Erich Fried erkannte in ihr eine neue Rosa Luxemburg. Jutta Ditfurth schreckte in der Verharmlosung des Jordanien-Plans noch nicht einmal vor der Frage zurück, ob die kleinen Mädchen in einem palästinensischen Flüchtlingslager weniger Liebe bekämen als in einem Elite-Kinderladen in Deutschland.
In Wahrheit stellt die Person Ulrike Meinhofs ebenso wie die vieler RAF-Aktivisten ein besonders bedrückendes Exempel für jene Diskrepanz dar, über die Ernst Jünger nach einem Kontakt mit Joseph Goebbels in sein Tagebuch notierte: Kann man es wirklich ernstnehmen, wenn menschlich und moralisch minderwertige Subjekte menschheitsbeglückende Ideale propagieren? Mit anderen Worten: Kann eine Frau glaubhaft von der Befreiung der Welt faseln, die ihre eigenen Töchter verkommen lässt?
Am Ende zieht Bettina Röhl ein zwiespältiges Fazit. Die RAF ist keineswegs tot, sondern hat sich innerhalb der siegreichen 68er Bewegung in Gestalt kurioser Mystifikationen erhalten. Sie hat Traditionen begründet, die auf das Unheiligste fortwirken: in der faktenverachtenden Inkompetenz eines desolaten politischen Personals und der spätpubertären Gewalttätigkeit der Antifa-Straßenschläger. Aber eine Gegenbewegung ist in Gang gekommen, die fest entschlossen ist, die Freiheit des Individuums gegen die Kräfte der Selbstzerstörung zu verteidigen. Mit dem vorliegenden Buch ist der Autorin ein wichtiger und lesenswerter Beitrag zu dieser Widerstandsbewegung gelungen.
Ludwig Witzani 24.8.2018