Bisky: Die Entscheidung. Deutschland 1929-1934

   Publikumsandrang und Geräuschverlockung  führten mich zum Messestand der FAZ, an dem Jens Bisky sein Buch „Die Entscheidung. Deutschland 1929 bis 1934“ vorstellte. Jens Bisky, der Sohn des ehemaligen PDS Vorsitzenden Lothar Bisky, war ein elegant gekleideter Endfünfziger mit Stirnglatze und markanten  Gesichtszügen. Ihm gegenüber saß der FAZ-Redakteur Patrick Bahners, ein viel gelesener Feuilletongigant, den ich mir aufgrund seiner wuchtigen Meinungbeiträge wie eine Mischung aus Perikles und Thomas Gottschalk vorgestellt hatte, der aber als ein kleiner, freundlicher Mann daherkam, der den Bisky mit Stichworten fütterte, die dieser dankbar aufnahm und paraphrasierte. In seinem Buch, das den Untergang der Weimarer Republik zwischen dem Tod Außenministers Stresemanns 1929 bis zum Tod Reichspräsident Hindenburgs 1934 beschrieb,  ließ Bisky einen vielstimmigen Chor von Zeitzeugen zu Wort kommen, die von ihm „geschickt orchestriert“ (so Patrick Bahners) dem Leser ein Nachempfinden dieser Entscheidungssituation gestattete. Aber war es denn überhaupt eine Entscheidungssituation gewesen? fragte Bahners. Hatte es irgendwann einen Punkt gegeben, an dem Hitler noch zu verhindern gewesen wäre? Diese Frage wollte Bisky nicht verneinen, verwies aber darauf, dass schon vor dem Zusammenbruch der Börse in New York die Zeichen  auf Sturm gestanden hätten. Noch zu Lebzeiten Stresemanns waren die Bomben protestierender Bauern in Schleswig-Holstein hochgegangen, noch zu Lebzeiten  Stresemanns hatte die Neuverhandlung der Reparationszahlungen das Volk erbittert. Außerdem, so Bisky, dürfe man die Nationalsozialisten nicht mit der „regressiven heutigen Rechten“ vergleichen.  „Auch wenn es Verbrecher waren“, so Bisky, operierten die Nazis vor dem Hintergrund einer positiven Zukunftsvision, die die Menschen mitriss. Zudem war die Hitler-Bewegung organisatorisch allen anderen politischen Konkurrenten weit überlegen. Sie besaß einen Zugriff auf die Massen, der ihr nach 1933 Uhr mühelos ermöglichte, ihre „faschistischen Kumpane“ von der DNVP auszumanövrieren.  Deswegen warnte Bisky vor „Kurzschlussurteilen“ und davor, „sich in der Hitler-Ecke denkfaul einzurichten“. Politische Vergleiche seien legitim, müssten aber konkret sein, fuhr er fort, und konkret seien wir noch weit von Weimarer Verhältnissen entfernt. Denn in den Jahren zwischen 1929-34 herrschte in Deutschland ein kalter Bürgerkrieg, Kommunisten und Nationalsozialisten drangen in die Wohnungen ihrer Gegner ein und brachten sie vor den Augen ihrer Familien um. Die Menschen hungerten und Bomben gingen vor öffentlichen Gebäuden hoch. Kampfbereite Bürgerkriegsarmeen wie Rotfront, und SA standen sich gegenüber, und die Demokratie hatte, wie die Reichspräsidentenwahlen des Jahres 1932 zeigten, die Mehrheit der Wähler längst verloren. Angesichts dieser Verhältnisse hätten die wohlfeilen Vergleiche etwas „frivoles“,  schloss Bisky. „Ja, lassen sich denn aus der Geschichte keine Maximen für heute entwickeln?“ fragte Bahners. „Die Geschichte spricht nicht in Maxime zu uns«, erwiderte Bisky mit durchgedrückt Rücken. Er habe keine Maximen im Angebot, sagte er, sah aber zugleich so aus als besäße er sie reihenweise in der Jackentasche. Dass die Geschichte keine Maximen in petto habe, brachte den Bahners einen Augenblick ins Schleudern, ehe er sich besann und die epische Kraft des vorliegende Werkes rühmte. Die Zeit, die der Autor beschreibe, sei zwar schon hundertmal beschrieben worden, aber so, wie Bisky sie beschreibe. noch nie. Damit brachte er, ohne es zu wollen, ein ästhetisches Motiv der Geschichtsschreibung zur Sprache, nämlich das Bedürfnis, die Vergangenheit in den Farben der Gegenwart immer neu zu kolorieren, wobei mitunter nicht das Richtige oder Neue, sondern einfach nur das Andere im Vordergrund stand. Leider wurde dieser Gedanke nicht vertieft. Das Publikum applaudierte, und die Diskussion war zu Ende. Bevor ich den Stand verließ, notierte ich mir das Buch für meine Leseliste.

(Aus einem Erlebnisbericht über einen Besuch der Frankfurter Buchmesse am 18.10.2024)