Böttiger: Die Gruppe 47

Innerhalb der Betriebswirtschaftslehre bezeichnet man den Akteur, der als erster einen Markt erschließt, als „First Mover“. Der klassische First Mover auf dem Gebiet des Betriebsystems für PCs war zum Beispiel  Microsoft, eine Firma, die aufgrund glücklicher Umstände (und nicht aufgrund ihrer fortdauernden Innovationskraft) auf dem Markt der PC-Betriebssysteme bis heute eine beherrschende Stellung behauptet. Ähnlich verhielt es sich mit McDonalds, Coca Cola oder den Whigley Kaugummis. Und mit  Hans Magnus Enzensberger, den man geradezu als einen literarischen First Mover ansprechen kann, der neue Trends wittert, während die anderen noch unter alten Decken schnüffeln.

Auf das Feld der Literaturgeschichte übertragen war die Gruppe 47 der „First Mover“ der neuen deutschen Literatur nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Eine literaturgeschichtliche Beschäftigung mit der Gruppe 47 ist deswegen immer auch eine Beschäftigung mit den geistigen Grundlagen der zweiten deutschen Demokratie. Wer wie viele der jüngeren Intellektuellen nichts anderes als die  Dominanz der Linken in der offiziellen Literaturszene erlebt hat,  mag sich darüber wundern, dass das jemals anders war. Aber so war es tatsächlich, wie man dem vorliegenden Buch entnehmen kann, das sich zur Eröffnung erst einmal mit der dunklen bundesrepublikanischen Frühzeit beschäftigt, in denen sich die Linke noch nicht an den üppigen staatlichen Fördertöpfen laben durfte.  Zwar war Hitler-Deutschland gefallen, doch die alte konservative Garde, die sogenannten „Daheimgebliebenen“, die sich mit ihrer „inneren Emigration“ während der Nazi-Ära  einen Persilschein ausstellten, besetzten sofort nach 1945  die entscheidenden Positionen des deutschen Literaturbetriebes  – wie etwa den Vorsitz der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Die maßgeblichen Autoren dieser Zeit waren  Frank Thiess, Werner Bergengruen, Hagelstange, Erich Kästner, Gertrud von le Fort, Ricarda Huch, der kometenhaft wieder auferstandene Gottfried Benn und der scheu verehrte geradezu mythische Ernst Jünger. Emigranten wie Thomas Mann hatten in diesen Kreisen ganz und gar keine gute Presse. »Es geht nicht an, in Geburtstags-Sentimentalität zu vergessen, was uns von Thomas Mann scheidet“, schrieb Frank Thiess über den im Ausland gefeierten Großdichter. „Er tritt uns als Exponent einer bis zur Dummheit gehenden Abneigung gegen Deutschland entgegen, und diesem Affekt, der ihn zu verzehren scheint, antworten aus dem Volk, dem er einmal angehörte und von dessen Schicksal er sich nicht 1933, sondern 1945 trennte, Verachtung und Wut.“ Das waren harte Worte, derentwegen man heute sofort in der Nazi-Tonne entsorgt werden würde. In Wahrheit aber, so Böttiger, handelte sich bei Thiess und Konsorten um konservative-nationalistische Apologeten der deutschen Innerlichkeit, die auf den NS-Pöbel immer schon herabgesehen hatten,  ohne sich wirklich mit ihnen auseinanderzusetzen. Man sieht, der Autor differenziert.

Hnas Werner Richter

Die Ursprünge der Gruppe 47 liegen im geistigen Umfeld der „reeducation“, d. h. in jener  groß angelegten  Umerziehungskampagne, in deren Verlauf  die Amerikaner versuchten, den Deutschen „die Demokratie beizubringen“. Zwei der maßgeblichen „Väter“ der Gruppe 47, Hans Werner Richter und Alfred Andersch, waren von der reeducation tief geprägt worden, auch wenn sie im Detail andere Ziele verfolgten als die Besatzer. Der Neuanfang Deutschland inklusive seiner Literatur sollte eine Art „dritter Weg“   zwischen amerikanischem Kapitalismus und sowjetischem Kommunismus sein. Werner Richter verstand sich als Anhänger eines freiheitlichen demokratischen Sozialismus, in dem er die beste Weltanschauung für das neue Deutschland erblickte.

Alfred Andersch

„Eine wichtige Etappe nach dem Ende seiner Tätigkeit für den Ruf und im Bestreben, sich jetzt vor allem literarisch zu orientieren, bildete für Hans Werner Richter ein vom neu gegründeten Stahlberg-Verlag ausgerichtetes Treffen neuer Autoren Ende Juli 1947 in Altenbeuern“, notiert Böttiger. Mit dieser Tagung war Richter aber nicht zufrieden, das konnte er besser, so dass er schon im September des gleichen Jahres seinerseits erneut einlud. Diese  am Bannwaldsee bei Füssen im Haus einer befreundeten Autorin  abgehaltene Tagung gilt als die Geburtsstunde der Gruppe 47. Schon auf diesem ersten Treffen wurden die Regeln definiert, die  dann jahrzehntelang bestand haben sollten:  Die Auswahl der Einzuladenden folgte allein dem Gusto Hans Werner Richters, es bestand von Anfang an ein Verbot grundsätzlicher politischer Diskussionen und auch, dass ein Autor seinen Text vorlas, um sich dann ohne die Möglichkeit der Verteidigung die Kritik der Zuhörer anzuhören, wurde von Anfang an praktiziert.  Große Worte und expressionistische Exaltationen waren verpönt, die Tendenz ging formal   in Richtung Neorealismus mit kurzen, eindeutigen Aussagesätzen. Die Namensgebung der Gruppe ging übrigens  auf eine Idee des  Autors Hans Georg Brenner zurück, der unter Rekurs auf die spanische Gruppe „Generation von 98“ auf die Vorteile einer möglichst neutralen Benennung verwies.
Schon bei der zweiten Tagung in Herrlingen bei Ulm war Alfred Andersch anwesend, der mit seinem Text zwar durchfiel, mit seinen programmatischen Postulaten über die „Rolle der modernen Literatur“ jedoch begeisterte Zustimmung erfuhr (Gastgeber der Tagung war der Vater der ermordeten Scholl-Geschwister als Bürgermeister des Ortes) . Alfred Andersch sah die deutsche  Literatur  der „dunklen Jahre“ zwischen 1933 bis 1945  übrigens bei weitem nicht so kritisch wie seine Tagungskollegen. Er unterschied drei Klassen von Literaten, die in der NS Zeit in Deutschland geblieben waren:  in einer ersten Gruppe subsummierte er patriotisch-nationalistische Autoren, die der völkischen Gedankenwelt der Nationalsozialisten nahestanden, ohne sich mit persönlicher Schuld beladen zu haben. Die zweite Gruppe bildeten bürgerliche Klassiker wie Bergengruen oder Ricarda Huch mit deutlicher  Distanz zur NSDAP, und die dritte Gruppe bestand aus  sogenannten „Kalligrafen“,  d.h. Edelfedern, die sich schon durch das Niveau ihrer Sprache vom NS-Pöbel unterschieden. Paradebeispiel für diese dritte Gruppe war für Andersch Ernst Jünger, den Andersch lebenslang bewunderte. Man staunt, welche Differenzierungen im deutschen Literaturbetrieb damals möglich waren. Etwas peinlich, dass sich   Böttiger als literarisches Zeitgeistgewächs die Bewunderung für  Jünger überhaupt nicht verstehen kann. Mehrfach schaltet er sich aus dem OFF ein, um sich in an einer  seitenlangen Jünger-Kritik abzuarbeiten, was nichts weiter als seine  linken Scheuklappen zur Schau stellt.

Günter Eich

In der ersten Phase der Gruppe 47, der sogenannten „Formierungsphase“, waren viele Autoren dabei, die heute kein Mensch mehr kennt.  Wie etwa der hochbegabte Hans Jürgen Soehring, ein frankophoner Autor, der das Schreiben später aufgab, um im diplomatischen Dienst zu verschwinden. Andere Jung-Autoren mit großer Außenwirkung wie Wolfgang Borchert („Draußen vor der Tür“) starben zu jung, um noch Einfluss nehmen zu können. (Borchert hätte aber möglicherweise wegen seines  Expressionismus auch nicht zur Gruppe 47 gepasst). Schon bei der siebten Tagung wurde 1950 zum ersten Mal den „Preis der Gruppe 47“ verliehen, der als Nachwuchspreis für junge Autoren gedacht war.  Er  ging unangefochten an  Günther Eich, einen schon etwas älteren Lyriker, der genau  den Ton traf, mit dem sich alle identifizieren konnten. Landesweit bekannt wurde Eich durch sein Hörspiel „Träumen“, das 1951 im Hörfunk gesendet wurde und eine heftige Kontroverse auslöste.  ( Damals entstand der „Hörspielpreises der Kriegsblinden“) Der keineswegs mehr besonders junge Günter Eich war ein Autor, der sich seiner eigenen Verstrickung in das Dritte Reich bewusst war, aber beanspruchte, aus der eigenen Läuterung heraus eine heftige  Kritik an  der Adenauer Zeit zu entwickeln. Viele seiner Gedichte beeindrucken noch heute.

Hans Werner Richter blieb der Spiritus Rektor und unangefochtene Leiter der Gruppe 47. Seine eigenen Romane („Die Geschlagenen“ und „Sie fielen aus Gottes Hand“) fielen in der Gruppe zwar krachend durch, auch wenn er für seinen zweiten Roman  1952 den „René Schickele Preis“ erhielt.  Von etablierten Autoren wie Thomas Mann wurde Richter höflich-mitleidig behandelt „Rufen wir ihn zum Schützenkönig aus, auch wenn er unter die ABC Schützen gehört“, schrieb Thomas Mann, als er nach heftigem Zureden endlich einwilligte, Richter den Rene´ Schickele Preis zu geben.

Zweierlei ist für den weiteren Erfolg der Gruppe 47 maßgebend geworden:

  1. Ab 1950 erscheinen Verleger auf den Tagungen und suchen Nachwuchstalente, was die Attraktivität der Gruppe enorm erhöht.
  2. Die Vernetzung der Gruppe 47 und ihrer Autoren mit dem Rundfunk, dessen Gelder und Honorare der Gruppe Lebenssaft einflößen und ihre öffentliche Wirksamkeit multiplizieren.

Als glücklich erwies sich darüber hinaus auch die Auswahl der  (demokratisch gewählten)  Preisträger der Gruppe 47: 1950 Günter Eich, 1951 Heinrich Böll, 1952 Ilse Eichinger, 1953 Ingeborg Bachmann – 1958 Günther Grass.

Derweil machte Alfred Andersch  Karriere bei den Medien. Er veröffentlichte seinen Roman „Die Kirschen der Freiheit“, in dem er seine Desertation aus der Wehrmacht literarisch aufarbeitet, was eine heftige Kontroverse auslöste.  Bei dieser Gelegenheit kommt Böttiger anlässlich der Biografie von Andersch auf eine Attacke des Autors W.G. Seebald aus dem Jahre 1993 zu sprechen, bei der es um die Scheidung Anderschs von seiner halbjüdischen Frau im Jahre 1943 ging.

Ingeborg Bachmann

In den Fünfziger Jahren kommen mit Bachmann, Celan und Thelen  neue expressivere Töne in die deutsche Literatur. Bei Ingeborg Bachmann wird das toleriert, weil, so Richter, die ganze Gruppe von der Bachmann „verhext“ war. Böttiger notiert: „Ingeborg Bachmann wurde zu einer Art Fetisch der Gruppe. Wenige Jahre vorher, im Krieg, waren Lale Andersen und Zarah Leander weit entfernte Sehnsuchtsobjekte gewesen. Ingeborg Bachmann schien da bei vielen eine Traditionslinie fortzusetzen.  Ihre Wirkung resultierte aus einer unerklärlichen Mischung von Schüchternheit und Koketterie.” Ein Beobachter ergänzt: „Dass sie natürlich, wenn sie was vorlas, immer anfing zu hauchen und unter Tränen vorlas und ihr eigentlich jedes Mal die Manuskriptblätter hinfielen, und jedes Mal stürzten die Männer, um diesem armen scheuen Reh zu helfen, während die Frauen, auch meine, sagten: Mein Gott, hat sie das nötig,“

Dem    Lyriker Celan  wird ein ähnliches Verständnis nicht zuteil Sie bekommen  eine volle Dröhnung ab. Über Celan urteilt Richter „liest wie Goebbels“ und  „Eine solche Emigrantenliteratur brauchen wir nicht.“ Der Plan, eine Zeitschrift für die Gruppe 47 zu schaffen, misslang, nicht zuletzt aufgrund des „verfrühten Versuches“ einen Brückenschlag zum allgemein verfemten Thomas Mann herzustellen.  Kaum etwas verdeutlicht übrigens den Wandel der Zeiten stärker als der Tumult, den 1955 Thomas Mann und dann 1982 Ernst Jünger erregten, als sie den Goethepreis der  Stadt Frankfurt erhielten.  Zweimal das gleiche Spiel der Verfemung-  zuerst durch die Rechte, dann durch die Linke , beim zweiten Mal nur unendlich viel gemeiner.

Nicht alle waren damit einverstanden, dass Richter den Kontakt zu (offiziellen) Autoren der DDR suchte. Auch die Neueintritte schufen Unstimmigkeiten, wie etwa der von  Joachim Kaiser (Grass: „Er kam frisch aus dem Adornoseminar und konnte druckreif sprechen“).   Auch Walser war bereits wichtig, er war Redakteur beim Süddeutschen Rundfunk und repräsentierte die Schrittstelle zu den Medien.

Günter Grass

Ein wichtiges Datum markiert der Neueintritt von Günter Grass, der lange mit materiellen Problemen zu kämpfen hat und eigentlich immer pleite war. Böttiger schreibt: „Wenn es wieder einmal an der Zeit war, machte sich Grass per Anhalter auf nach Deutschland, klapperte die Rundfunkstationen ab und verhandelte um Aufträge.“    An einer anderen Stelle hieß es bei Höllerer. Grass „sah verwegen aus, etwas heruntergekommen, wie mir schien, desperat wie ein bettelnder Zigeuner.« Er wollte ihn zuerst »hinausweisen«.

Enorm gestärkt wird die Gruppe durch Walter Höller, der als Literaturwissenschaftler und Medienmann zu einer zentralen Figur aufsteigt.  Zwei literarisch wichtige Gestalten der frühen Fünfziger Jahre – Koeppen und Schmidt – blieben allerdings durchweg distanziert. ( Originalton Schmidt: „Der allgemein verbreitete Irrtum beim Leser ist, weil er lesen kann, könne er auch jedes Buch lesen“ und als Replik auf eine Einladung Richters “Muss man bei der Gruppe 47 auch singen, oder braucht man nur nackt vorzulesen?« )

Großes Aufsehen erregte der Grass Auftritt mit seinem Roman „Die Blechtrommel“, für den er im Jahre 1958 den Preis der Gruppe 47 erhielt.  Reich Ranicki, der aufgehende Kritikerstern der Gruppe 47, zerriss in der ihm eigenen Selbstherrlichkeit das Werk und musste drei Jahre später, als  das Werk weltberühmt geworden war, Abbitte leisten.

Marcel Reich Ranicki

Dieser Vorgang war symptomatisch für eine Gestaltveränderung der Gruppe 47, die Böttiger folgendermaßen beschreibt. „Spätestens Ende der fünfziger Jahre konnte man etwas beobachten, was zu Beginn der Gruppe 47 undenkbar gewesen war: Eine kleine Garde von Berufskritikern dominierte die Diskussion, und sie wurden zu den eigentlichen Stars. Das war ein unwillkürlicher Prozess, den Hans Werner Richter keineswegs beabsichtigt hatte.” Diese Großkritiker waren Walter Höllerer, Walter Jens, Joachim Kaiser, Reich-Ranicki und am Ende als Höhepunkt Professor Meyer aus der DDR. Sehr unbeliebt war  Reich-Ranicki, und das gleich aus zwei Gründen er plusterte sich auf „wie ein gackerndes Huhn, das lauter Windeier legt“ und pflegte einen sehr harten, oft verletzenden Ton. Auch seine literaturtheoretische Position war suspekt. „»Prosa, die nicht unterhaltsam in irgendeinem Sinne ist, ist damit disqualifiziert“, schrieb Reich Ranicki und traf damit keineswegs den Mehrheitston.

Heimito von Doderer

Inzwischen begann das Fernsehen seinen Siegeszug und drängte den Rundfunk zurück. Auch hier war Höllerer innovativ und organisierte die ersten Fernsehlesungen, unter  anderem mit Heimito von Doderer, der dabei seine Arbeitsweise beschrieb. »Ich mache auf großen Reißbrettern ein Graphikon, in dem angegeben ist, wieviel Seiten jedes Kapitel haben darf. Meine Damen und Herren, ich fahre pünktlich in meine Bahnhöfe ein und aus ihnen wieder aus. Und wenn das einmal da ist, dieses Graphikon, dann sehe ich natürlich schon – jeder würde das sehen, der sein Metier versteht – wo die  schweren Stellen sind. Dann schreibe ich all diese schweren Stellen zwei-, dreimal, so wie jemand, sagen wir mal, eine schwere Klaviersonate übt, eine späte Beethovensonate, der spielt ja auch nicht von Anfang bis zu Ende immer wieder durch, er übt die Stellen, die schwierig sind. Genauso ist es hier. Und wenn das einmal durch ist, wenn die Zeichnung liegt, die Komposition, dann beginne ich von vorne und improvisiere die Komposition”

Uwe Johnson

Inzwischen wird die Gruppe immer bekannter. „1959 war das Jahr, in dem auf der Buchmesse mit Grass’ „Blechtrommel“, Bölls „Billard um halbzehn“ und Johnsons „Mutmaßungen über Jakob“ drei zentrale Werke der Literaturgeschichte der Bundesrepublik auf einen Schlag erschienen; alle drei Autoren waren eng mit der Gruppe 47 verbunden“, schreibt Böttiger. Man war zum ersten Mal im selbstverständlichen Bewusstsein anwesend, dass man sich auf dem Weg zur literarischen Hegemonie befand. Der Spiegel brachte Titelgeschichten  über die Gruppe 47 und die ZEIT  bezeichnet sich als „Hauspostille der Gruppe 47“. Dem  gegenüber wirken die Abwehrhaltungen des konservativen Milieus um Krämer-Badoni, Hans Habe und Sieburg wie lahme Abwehrkämpfe, auch wenn Sieburg bereits sehr zutreffend das Autoritäre am Gehabe der Gruppe 47 beklagt. „»Der Intellektuelle wage es einmal, Bert Brecht abzulehnen, Wolfgang Borchert mittelmäßig zu finden, vier dicke Bände Tucholsky für ein wenig reichlich und Heinrich Böll für den Nobelpreis nicht qualifiziert zu erklären, und er wird sehen, welche Meute er sich auf den Hals zieht und wie unwiderruflich er sich deklassiert.” Nach dieser Kontroverse wurden Sieburg wochenlang jeden Tag Gartenzwerge von wechselnden Absendern zugeschickt.

Ein Reflex dieses Ringens um die literarische Hegemonie stellt auch die Kontroverse  von Uwe Johnson und Friedrich Sieburg über den Mauerbau dar. (Was Uwe Johnson damals über den Mauerbau geschrieben hat, ist aus heutiger Sicht nur noch peinlich, aber so waren sie halt, unsere frühen Linken, ihnen wird der größte Unsinn verziehen.)

Mit Hubert Fichte, Peter Bichsel, Hans Christoph Buch, Hermann Peter Piwitt, Nicolas Born und einigen anderen kam erschien am Anfang der Sechziger Jahre die dritte Generation junger Autoren bei der Gruppe 47.  Andere folgten wie etwa Peter Weiß, dessen Theaterstücke faszinierten, und  der epochale Lyriker Bobrowski, der viel zu früh an einem Blinddarmdurchbruch sterben sollte.

Hans Magnus Enzenberger

Im Zusammenhang mit der Spiegelaffäre des Jahres 62 engagierte sich ein großer Teil der Autoren der Gruppe 47 mit Protestresolutionen und Rücktrittsforderungen   In Hans Magnus Enzensberger erschien schließlich eine exemplarische Figur, die die Gruppe 47 als Inkubator benutzte, sich dann aber weit über sie erhob. Böttiger weiß sich kaum zu fassen vor lauter Bewunderung  über dieses Chamäleon, das immer neue Trends setzte ohne selber den Trends anheimzufallen. In einem vollkommen unkritischen Gestus, der geradezu  frappiert, feiert Böttiger für Enzensbergers für  „die Vereinigung von Literatur und Journalismus“.  Dass  jemand für den Blödsinn, den er  früher einmal  gesagt hat, später nicht mehr einstehen muss, ist tatsächlich ein Merkmal der Moderne, das aber nicht nur für Linke gilt.

Peter Handke

Das Ende der Gruppe kam mit ihrem Erfolg, der weit über die Grenzen Deutschlands ausstrahlte.  Als eine perfekt geölte „Kritikermaschine“ erregte das autoritative ihrer Urteile Widerspruch innerhalb und außerhalb der Gruppe. Die ab 1966 mit Macht einsetzende Linksverschiebung des politischen Spektrums rückte die sich vermeintlich so progressiv gebärdende Gruppe in den Fokus radikaler Studenten, die die Gruppe 47 als eine Bande von „Papiertigern“ verhöhnten. Handkes Beschimpfung der Gruppe 47 war dann der „Blattschuss“ (G. Grass) für die Gruppe, die sich mit ihren Ritualen und Themen  überlebt hatte.

1968 war dann plötzlich alles zu Ende. Was dabei und wie geschah, beschreibt   Böttiger akribisch, ohne dass es sonderlich interessant wäre. Im Grunde verhielt es sich mit der Gruppe 47 wie mit dem Liberalismus. Als der Liberalismus herrschende Weltanschauung wurde, benötigte man keine dezidiert liberalen Parteien mehr. Sobald der  linke Mainstream die kulturelle Hegemonie errungen hatte, benötigte man keine besondere Pressure Group mehr.

Der Geneervte MRR

Böttinger, der sein Buch ohne eine explizite Gesamtwürdigung beendet, scheint der Auffassung zu sein, dass der Beitrag der  Gruppe 47 in der neuartigen Verknüpfung von Literatur und Massenmedien bestand. Insofern dies unter linken bzw. linksliberalen Vorzeichen geschah, wurde damit eine generationenlange kulturelle Hegemonie der Linken etabliert, deren Ende überhaupt noch nicht abzusehen ist. Der „first Mover“ lässt grüßen. Was die äußeren Formen der Literaturkritik betrifft, so wurde Marcel Reich Ranicki als egozentrischer Starkritiker mit  dem Klagenfurter Literaturwettbewerb und dem literarischen Quartett der wahre Erbe der Gruppe 47: ein literarischer Zampano, dessen fernsehtaugliches Gehabe  der Literatur neue Leser erschloss, auch wenn dabei die  differenzierte Kritik nach Böttigers Meinung etwas auf der Strecke blieb.

Soweit meine Leseeindrücke von diesem unglaublich reichhaltigen und informativen Buch. Für mich war es ein Stück nachgeholter intellektueller Sozialisation, die deutsche Literaturgeschichte der Nachkriegszeit aus der Perspektive der Gruppe 47 (und damit auch die literarisch-politische Gegenwart) neu verstehen zu lernen.

 

 

 

 

 

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