Boyle: Dr. Sex

 Diese Geschichte entstammt einer Zeit, in der die Welt noch jung war. So vieles war noch zu entdecken, vor allem der Inhalt der eigenen Unterhose, was sich als ungemein spannend herausstellte.  Die ganze Epoche verharrte atemlos im Zustand eines Knaben kurz vor dem ersten feuchten nächtlichen Traum und  geriet ins Sabbern beim bloßen Gedanken an die Ekstasen, die auf einen warteten, wenn nur das Tor zur Mündigkeit endlich durchschritten würde.

Das ist der Geist einer Epoche, in der Prof. Kinsey zum „Mann der Stunde“ wurde, zum bahnbrechenden Kopf, der dieses  Tor zur Mündigkeit weit aufstößt – und zwar mit der Stoppuhr und dem Zentimetermaß, mit dem er den Krümmungswinkel des eigenen Penis´ vermaß. Wie ein Bombe schlugen Kinseys Veröffentlichungen in die prüde amerikanische Nachkriegsgesellschaft ein, in der es damals z. B. in Nevada noch als no-Go galt wärhend des Verkehrs zu lachen. T.C. Boyle hat in dem vorliegenden Buch ein literarisches Portrait von „Dr. Sex“ Alfred Kinsey vorgelegt, das sich leicht und locker liest und 2004 mit Liam Neeson in der Teilrolle erfolgreich verfilmt wurde.

Erzählt wird das Buch aus der Perspektive des Kinsey-Mitarbeiters John Milk,  einem Provinzler, der über einen von Kinsey drastischen Ehekursen in den Dunstkreis des Forschers gerät. John Milk ist fasziniert, muss sich aber auch den homoerotischen Zumutungen Kinseys beugen, d. h. dem berühmten „Prok“, wann immer der es wollte, einen runter holen. Immerhin ist in die Romanhandlung in Gestalt von Iris, der Gattin von John Milk; eine Gegenkraft eingebaut, die einen Rest des gesunden Menschenverstandes zu Gehör bringt. Iris hält es für schädlich, diesen Bereich der intimsten Verhaltensweisen mit der schrillen Leuchte der Wissenschaft vor jedermann zu entblößen. „Aber warum?“ fragt ihr Ehemann. Weil diese Datenaufnahme das Ende jeder privaten Intimität darstellt, antwortet Iris.  Weil dann, wenn diese Schamgrenzen, die zur menschlichen Würde gehören erst einmal gefallen sind, es unwichtig wird, mit wem man sich „reibt“. Das ist für mich die stärkste Szene des Buches. Die moderne Polyamorität lässt grüßen.

Viel mehr kann ich rückblickend über das Buch nicht sagen, außer,  dass es vom Thematischen vielleicht zu jenen Büchern gehört, die zu weiterer Recherche Anlass geben. Diese Recherche ergab , dass der  Ruhm von „Dr. Sex“ inzwischen einige Kratzer bekommen hat. Seine damals sensationellen Ergebnisse im Hinblick auf eine erstaunliche sexuelle Freizügigkeit der Amerikaner haben sich als methodische Artefakte herausgestellt – ganze einfach, weil seine Untersuchungsgruppe weder repräsentativ noch ausreichend groß war. Kinseys Mitarbeiter Abraham Maslow hielt die Aussagen schon damals für „schwachsinnig“. Inzwischen existieren sogar glaubwürdige Vorwürfe, dass Kinsey bei seiner Datensammlung mit Pädophilen kooperierte, d.h. dass er wusste, dass seine Kontaktleute fortgesetzt mit Kindern Unzucht trieben, ohne er das den Behörden meldete.

Merkwürdig übrigens, dass diese dunkle Seite Kinseys in der öffentlichen Rezeption so gänzlich unterschlagen wird. In den 1980er  Jahren, als die Grünen versuchten, die Pädophilie zu entkriminalisieren, wurde sogar ausdrücklich auf Kinsey als wissenschaftliche „Lichtgestalt“ Bezug genommen. Derart einbetoniert ist Kinseys tadelloser Ruf, dass sich kritische Betrachtungen zu seiner Arbeit im deutschen Sprachraum  kaum finden lassen. Er sitzt unangefochten im Pantheon der modernen Nihilisten als ein Entzauberer der Weltordnung. Angetreten als Befreier ist er in Wahrheit ein Räuber, ein Räuber der menschlichen Scham und Würde.