Boyle: Talk, talk

Interessiert es sie, wie es einer kalifornischen Hippiekommune ergeht, die es nach Alaska verschlägt? Wollen Sie wissen, wie sich ein mexikanisches Emigrantenpaar fühlt, das am Rio Grande die amerikanischen Grenzanlagen überwinden muss? Reizt es  Sie nicht, endlich erfahren, wie es mit dem sagenhaften Dr. Kinsey und der sexuellen Revolution eigentlich angefangen hat? Wenn sie dergleichen Fragen interessieren, dann sind sie bei den Büchern von T. C. Boyle („Drop City“, „America“, „Dr. Sex“) genau an der richtigen Adresse. T.C. Boyle gießt solche Problematiken in  gut durchkonstruierte Romanhandlungen, die man eigentlich  eher als romanhafte Reportagen bezeichnen müsste, und am Ende des Buches ist der Leser belehrt und unterhalten zugleich.

Das vorliegende neue Buch „Talk, talk“ liegt genau in diesem Trend, denn diesmal geht es um das Problem des Identitätsdiebstahls. Sie habe diesen Begriff noch nie gehört? Dann geht es ihnen wie Dana Halter, die  eigenwillige, aber bildschöne taube Lehrerin für Gehörlose, die mit pINs und TANs auf Kriegsfuß steht – bis sie selbst eines Tages wegen Betrug, Kreditkartenüberziehung und zahlreicher anderer Delikte von einem auf den anderen Tag verhaftet und eingesperrt wird.  Es dauert eine ganze Weile, ehe ihr Freund Bridger Martin der Justiz die Verwechslung erklären und seine Freundin aus dem Gefängnis holen kann, doch wer würde den entstandenen Schaden ersetzen? Peck Wilson, der Übeltäter, der sich mit der Kreditwürdigkeit, den Karten und der Identität von Dana Halter ein schönes Leben gemacht hatte, war längst über alle Berge, um einem anderen Ahnungslosen die Identität zu rauben und von dessen Konto eine Zeitlang zu leben.

Aber diesmal war er an die Falsche geraten. Dana Halter, die im Zusammenhang mit der Verhaftung ihren Job verloren hatte, macht sich zusammen mit ihrem Freund Bridger auf, den Übeltäter quer durch die Vereinigten Staaten zu verfolgen, um ihn schließlich in seinem Geburtstort in Peterskill zu stellen. So weit der Plot: Wie aber ist er gelungen ?

Um die Wahrheit zu sagen: mäßig. Das durchaus interessante Problem des Identitätsdiebstahl kommt zwar einige Mal in seinen technischen Details zur Sprache, aber wie die Methode richtig funktioniert, kann auf der Grundlage des Buches kein Mensch verstehen. Warum der Autor eine Gehörlose als Hauptperson erwählt, bleibt ebenfalls uneinsichtig. Einen besonderen Einblick in der Situation tauber oder stummer Menschen bietet das Buch jedenfalls nicht wirklich, und für das Thema Identitätsdiebstahl  selbst ist die Behinderung des Opfers ohne Belang. Auch die Charakterzeichnungen der  Romanfiguren ist durchaus unterschiedlich gelungen. Während Bridger wie ein Weichei durch die Handlung trottet und sich die mondänen Frauen in dem vorliegenden Buch gleichen wie ein Ei dem anderen, entfaltet Boyle seine literarischen Stärken  nur bei der Beschreibung des Übeltäters Peck Wilson. Dabei ist Boyles Sprache  wie immer fetzig und hyperaktiv, wenngleich diesmal die  Zahl der Stilblüten selbst eingefleischte Boyle-Fans beunruhigen muss.  Als sich Dana über den schlafenden Bridger beugt, „regte sich in ihr ein gewisses hormonelles Wollen“(S. 239), dem Übeltäter Peck Wilson „flüsterte der Wein seine Geheimnisse zu“(S. 275), wobei offen bleibt, welche das sein könnten. Und während Bridger und Dana dem den Bösewicht „über die fetten ausladenden Hüften des Landes“ (S. 267) verfolgten, zieht sich für Peck Wilson die „Straße an der Bergflanke entlang wie eine Bauchnaht, die das Bindegewebe zusammenhielt“ (295). Am unerfreulichsten an dem vorliegenden Buch jedoch seine pseudoepische Weitschweifigkeit, die auch schon den Genuss der früheren Boyle Werke durchaus verleidete. Diesmal aber entpuppt sich der Autor als eine echte Labertasche und schreibt, als würde er nach Zeilen bezahlt, so dass der rote Faden der Handlung mitunter verschwindet. Lieber T.C., ist man fast versucht zu  sagen, bitte, mach es das nächste mal wieder etwas besser!