Nur etwa 45 Jahre alt wurde der Schriftsteller Joseph Roth, doch dieses kurze Leben hat ausgereicht, ihn zu einem der größten Erzähler des 20. Jahrhunderts zu machen. Roth lesen, hat man gesagt, ist wie guten Wein trinken – man bemerkt es sofort, verlangsamt das Lesetempo und taucht ein in eine literarische Welt, die den Leser auf eine unnachahmliche Weise glückhaft und tragisch zugleich umhüllt.
Das vorliegende Standardwerk des amerikanischen Germanisten David Bronsen macht den biographischen und literarischen Werdegang dieses großen Autors zu seinem Thema – und das auf eine wahrhaft monumentale Weise. Bronsen erzählt nicht nur Roths Lebensgeschichte von seiner Geburt im galizischen Brody im Jahre 1894 bis zum frühen Tod im französischen Exil im Jahre 1939 – sondern er bietet darüber hinaus in enger Anbindung an die jeweilige biographische Konstellation eine komplette Werkschau aller bedeutenden Erzählungen, Gedichte und Romane, die auch der Liebhaber und Kenner der Rothschen Welt mit Gewinn und Überraschung lesen wird. So oft wie möglich lässt Bronsen den Meister selbst mit seinen Aphorismen, seinen Witzen oder in Werkausschnitten zu Wort kommen, aber auch die Äußerungen von Bekannten, Zeitgenossen und Freunden erhalten breiten Raum. Trotzdem ähnelt die Biographie mehr einem Roman als einem Sachbuch, was keineswegs abwertend gemeinst ist: genau genommen handelt es sich bei dem vorliegenden Werk um einen exakt recherchierten und sprachlich geschliffenen Roman der europäisch-jüdischen Literatur in der ersten Jahrhunderthälfte mit Joseph Roth als Hauptfigur.
Jeder wird in dieser umfangreichen 700-Seiten-Biographie etwas anderes finden, für den Neuling wird es das ganze Leben des Autors sein, die Roth-Liebhaber werden neue Details entdecken. Wie aber entfaltet sich Roths schillernde Gestalt in dem vorliegenden Werk als Ganzes? Meiner Ansicht nach sind es sechs zentrale Aspekte, die Bronsen herausarbeitet:
1) Die Prägung Roths durch das Judentum seiner galizischen Heimat, auch wenn Roth das immer wieder durch Mystifikationen (so behauptet er mehrfach, statt aus Brody aus dem deutschsprachigen Ort Szwaby zu stammen) zu vertuschen versucht.
2) Die Prägung des Autors durch die deutsche Kultur des späten Habsburgerreiches, denn der junge Roth studiert nicht an der Universität Lemberg, wo die Unterrichtssprache seit 1871 polnisch war, sondern er geht nach Wien.
3) Eine im umfassenden Sinne humanistische Zeitkritik als Hintergrund des literarischen Schaffens, aber eine Zeitkritik, die immer auf den leidenden Menschen bezogen wird, auf Gestalten die es in die Welt „geworfen“ hat und die, wie Roth selbst, beständig ihre Heimat suchen, aber niemals finden werden.
4) Eine quälend-ambivalente Einstellung zum religiösen Glauben, dessen Notwendigkeit Roth einleuchtete, ohne dass er selbst zum Glauben fand.
5) Eine mit fortschreitendem Alter immer stärkere Glorifizierung der untergegangenen Habsburgermonarchie, mit dessen stark idealisierte Gestalt er seiner eigenen chauvinistisch-nationalistischen Gegenwart entgegentritt.
All diese Züge hätten Roth schon unter den vorwiegend sozialistisch-kommunistisch orientierten Zeitgeistliteraten der Zwanziger und Dreißiger Jahre zu einem Sonderling werden lassen, hätte er es mit seiner gewinnenden Persönlichkeit, seinem Charme und seinem Witz nicht verstanden, jedermann im Gespräch oder in großer Runde für sich einzunehmen. Aber auch das wäre belanglos geblieben, wenn Roth sie (sechstens) mit seiner schier unerschöpflichen Sprachbegabung und seinem erzählerischen Genie nicht in den Geschichten über „Hiob“ und „Die Flucht ohne Ende“, vom „Radetzkymarsch“ (der Marseillaise des Konservativismus, wie Bronsen anmerkt) , dem „Falschen Gewicht“ oder der „Legende vom heiligen Trinker“ auf eine unsterbliche Weise literarisch verwebt hätte.
Soweit der erfreulich zu lesende Teil der vorliegenden Biographie. Aber Bronsens Darstellung umfasst auch die Agonien, die Verluste und die Leidensgeschichte Josephs Roths. Wir erleben den Aufstieg des armen galizischen Schreiberlings zum geachteten Korrespondenten der vornehmen Frankfurter Zeitung (1923-32), seine Reisen und seine Heirat mit der schönen Friedel in der kosmopolitischen Welt der Goldenen Zwanziger Jahre. Von scheinbar unbegrenzter Schaffenskraft beseelt, sitzt Roth in den Cafes von Wien, Berlin und Paris, konzipiert seine Romane und Feuilletons und kreuzt das intellektuelle Florett mit seinen Schriftstellerkollegen. Doch schon am Ende dieses glücklichen Jahrzehntes erkrankt seine Frau Friedel an einer unheilbaren Schizophrenie, sie verschwindet in Kliniken und in einem öffentlichen Irrenhaus, ehe sie von den Nationalsozialisten ermordet wird. Roth selbst gerät in der Emigration nach 1933 in immer größere Geldschwierigkeiten. Sein immer schon latent vorhandener Alkoholismus ufert aus, am Ende rauchte er achtzig Zigaretten am Tag, und von allen nur denkbaren körperlichen Gebrechen geplagt, gleicht er schon als Mitvierziger einem Greis. „Gebe Gott uns Trinkern einen leichten und schnellen Tod“, schreibt Roth in seiner „Legende vom heiligen Trinker“. „Es war ihm jedoch kein schöner und leichter Tod vergönnt, er kam fiebernd, elend und leidend um“, resümiert Bronsen am Ende seines Buches.
Ich habe die vorliegende Biographie mit großem Gewinn und Anteilnahme gelesen. Liebhabern und Freunden Josephs Roths empfehle ich, dabei die Werke des Meisters selbst zur Hand zu nehmen und die Passagen, die Bronsen zitiert, umfänglicher nachzulesen. Schade aber auch, dass David Bronsens beeindruckende Biographie vergriffen und nur noch gebraucht zu erhalten ist. Aber auch das würde Joseph Roth nicht verwundern: so viel germanistischer Schrott verstopft die Märkte, und Perlen wie das vorliegende Buch sind kaum noch zu erhalten.