Broyard: Verrückt nach Kafka

„Mir ist klar, dass Menschen heute immer noch Bücher lesen, und dass es auch noch Büchernarren gibt, aber was wir 1946 im Village für Bücher empfanden, ging über Liebe hinaus. Es war, als hätten wir nicht gewusst, wo Bücher anfangen, und wo sie enden. Bücher waren unser Wetter, unsere Umwelt, unsere Kleidung. Wir lasen sie nicht nur, wir wurden zu Büchern. Wir nahmen sie in uns auf und formten aus ihnen unsere Geschichten. Es wäre einfacher zu sagen, wir hätten uns in die Welt der Bücher geflüchtet, aber in Wahrheit hatten die Bücher von uns Besitz ergriffen. Bücher waren für, was die Drogen in den Sechziger für junge Männer waren.“ Das ist nur eine der zahlreichen Stellen, in denen Anatol Broyard den Geist von Greenwich Village beschreibt, jenem Ort, in dem die Bibliophilen verrückt waren nach Kafka, Freund, Marx oder wie die neuen Götter auch immer heißen mochten.  Auf der Bühne des New Yorker Village traf der Lebenshunger einer jungen  Generation, die heil aus dem größten aller Kriege heimgekehrt war auf die missionarische Attitüde einer  europäischen Bildungselite, die  vor den Nationalsozialisten nach New York geflüchtet war und die sich nun anschickte, ihren juvenilen Novizen in den Hörsälen die Welt zu erklären. Am besten waren  Meyer Schapiro, Erich Fromm, Max Wertheimer, Otto Rank „und all den anderen deutschen Professoren“ merkwürdigerweise aber darin, zu erklären was an der Welt  nicht richtig war. „Was ist falsch an der Regierung, der Familie, der Persönlichkeitsstrukturen und an den zwischenmenschlichen Beziehungen – was ist falsch an unseren Träumen, an unserer Liebe, an unserer Arbeit, an unseren Wahrnehmungen n, an der conditione humaine überhaupt?“ So wurde für diese junge  und bildungshungrige Generation, die ihre Professoren wie Gurus verehrten, das   Inventar der eigenen Tradition ohne großes Federlesen auf dem Müll der Geschichte entsorgt und durch ein Gefühl grenzenloser Freiheit ersetzt, in der Literatur,  Kunst und die erotischen Affären dominierten. Am Beispiel seiner eigenen Bildungsgeschichte, aber mit der Distanz von vierzig Jahren beschwört der reife Broyard die faszinierende Szenerie einer kulturellen Morgenröte, in der plötzlich alles möglich schien, einer sozialen Welt, in der  „sich für Politik interessieren gleichbedeutend damit war,  Kommunist zu sein“, einer Zeit, in der eine avantgardistische Persönlichkeit  nur in einem  schäbigen  Appartement leben konnte, denn „Schäbigkeit erschien  a priori  wie eine Form von Charakter“. Und es war die Zeit, in der der Sex entdeckt wurde, ein Ritus „wie eine Kombination von Halloween und Weihnachten“, eine „Art verzweifelter Demokratie“ und einer Kraft, die ausgereicht hätte, „hundert Raketen auf den Mond zu schicken“. Die Darstellung dieser Welt aus  Literatur und Liebe, Jazz und Politik, Tanzen und Reden ist ein literarisches Glanzstück, nicht nur, weil das ganze Roman von der ersten bis zur letzten Seite brillant und witzig geschrieben ist, sondern auch, weil die zauberhaften kleinen Miniaturen, aus denen das Buch besteht,  in ihren Pointen die  Kritik an dieser Moderne gleich mitliefern. Denn je weiter die Erzählung voranschreitet, desto deutlicher stellt sich heraus, dass die die intellektuellen Theorien der „deutschen Professoren“ vielleicht für die Jugend, aber nicht für das ganze Leben reichen.  Mit Schrecken entdeckt der junge Broyard, dass plötzlich Unbeholfenheit, Begehren und  Verlegenheit, all die heiligen Gefühle, die die Liebe umgeben wie eine magische Aura, zurückgetreten waren hinter die obszöne Einsicht, „dass alle Mädchen unter ihren Röcken Mösen haben.“ Was man aber vergaß, war dass die Mädchen „unter ihren Röcken auch Seelen haben. Wenn sie entkleidet waren, konnte ich unter ihren Röcken nicht nur ihre Mösen sondern auch ihre Seelen sehen. Sie trugen sie wie Negligés, die sie nie auszogen. Und wie man Liebe mit einer Seele macht, weiß unter einer Million Männer, höchstens einer.“

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