Calic: Südosteuropa. Weltgeschichte einer Region

  Vor dem ersten Weltkrieg kursierte in den Entscheidungszentren der großen Mächte die Idee, dass die Herrschaft über den Balkan oder Südosteuropa gleichbedeutend sei mit der Herrschaft über den ganzen Kontinent. Das erscheint im Rückblick zwar etwas übertrieben, dass aber Südosteuropa die „große“ Geschichte Europas maßgeblich prägte und prägt, wird niemand bestreiten. Das ist die erste und allgemeinste Perspektive, mit der Marie-Janine Calic, Lehrstuhlinhaberin für die Geschichte Südosteuropas in München, ihre „Weltgeschichte einer Region“ angeht.

König Matthias Corvinius von Ungarn

Was aber ist Südosteuropa? Unter Südosteuropa versteht Calic  praktisch den gesamten Balkanraum inklusive Rumänien und Moldawien außer Ungarn. Dieser Raum war den größten Teil seiner Geschichte nicht Subjekt, sondern Objekt externer Mächte.  Deswegen wurde er lange Zeit nur aus der Perspektive der Imperien beschrieben, die diesen Raum beherrschten (Rom, Byzanz, Osmanisches Reich, Habsburger, Sowjetunion) oder retrospektiv-nationalgeschichtlich aus dem Blickwinkel der in dieser Regionen entstandenen Staaten. Soweit, so bekannt. Das Anliegen der Autorin besteht in einem zweiten Zugang darin, unterhalb der imperialen und oberhalb der fiktiv-nationalen Ebene eine Weltgeschichte Südosteuropas aus der Perspektive der grenzüberschreitenden Regionen zu schreiben. Das hört sich kompliziert und abgehoben an, trifft aber viel eher den Kern der Sache als ersten beiden Perspektiven. Gehört etwa Siebenbürgen zu Ungarn oder zu Rumänien? Was ist mit Bessarabien, dem Gebiet zwischen Pruth und Dnister, das zwischen Rumänien und Russland hin und her wechselte? Die Bukowina erstreckt sich heute auf ukrainischem und rumänischem Territorium, ihre Geschichte geht bei weitem nicht in der Nationalgeschichte beider beiden Staaten auf.  Um die Dobrudscha streiten sich Rumänien und Bulgarien, von Thrakien und Bosnien-Herzegowina ganz zu schweigen.

Diesen immensen Stoff bewältigt Calic kapitelweise in einem dreifachen Zugriff. Am Beginn jedes Kapitel umreißt sie erstens die großen politischen Entwicklungslinien, um sie schließlich zweitens durch vertiefende sozialgeschichtliche und kulturgeschichtliche Betrachtungen zu ergänzen. Unglaublich etwa, wie viele kreative Serben, Rumänen, Griechen oder Bulgaren dieser Raum hervorgebracht hat, die heute im Westen praktisch niemand kennt. Drittens bündelt sie diese vielfältigen Aspekte zu herrlich zu lesenden Stadtportraits, in denen etwa Saloniki oder Belgrad zu einem bestimmten Stichtag vorgestellt werden (etwa Saloniki zum Zeitpunkt der Balkankriege von 1912, oder Belgrad zwischen den Weltkriegen).  Auf diese Weise entsteht immer in drei Anläufen (globalgeschichtlich, kulturgeschichtlich, stadtgeschichtlich) ein jeweils recht anschauliches und dichtes Bild jeder Epoche.

Angesichts der ungeheuren Fülle des Materials, das die Autorin in dem vorliegenden 800 Seiten-Werk ausbreitet (und das durch ein vorzügliches Register erschlossen wird), ist es ganz und gar unmöglich, das Buch an dieser Stelle inhaltlich nachzuzeichnen. Wollte man die grundlegenden Sequenzen, die die Maie-Janine Calic aufzeigt, wenigstens ansatzweise benennen, dann wären es die folgenden:

  • Die Ethnogenese der südosteuropäischen Völker, über die es bis heute jede Menge Zoff gibt – man denke nur an die Bosnier, die Albaner oder die Makedonien.
  • Die Christianisierung Südosteuropas und die darauf fußende katholisch-orthodoxe Rivalität, die sich in der Konfession einzelner Nationen niederschlägt (katholische Kroaten und orthodoxe Serben).
  • Die kurze Glanzzeit der mittelalterlichen Reiche etwa der Serben und Bulgaren.
  • Die lange Nacht der türkischen Fremdherrschaft und damit zusammenhängenden Entwicklungsverzögerungen der ganzen Region.
  • Die demografischen Verschiebungen, die mit der Einwanderung der Moslems in den Balkanraum begannen, sich über die Migrationspolitik der Habsburger fortsetzten bis hin zu den blutigen ethnischen „Entmischungen“ des 20. Jahrhunderts.
  • Das nationale Erwachen der Völker im 18. und 19. Jhdt, das vom „Konfessionsnationalismus“ ausging und sich über Sprache und willkürliche geschichtliche Referenzen bis hin zu chauvinistischen Übertreibungen entwickelte.
  • Südosteuropa als Rivalitätsfeld der Großmächte, als „Pulverfass“ Europas, das im Ersten Weltkrieg in die Luft fliegt
  • Die Verheerungen durch den Nationalsozialismus und den Faschismus und die künstliche Ruhigstellung des Ostens durch den Kommunismus und
  • die Rückkehr aller Probleme nach dem Zusammenbruch des Kommunismus nach 1989, wenn am nur an die Balkankriege denkt.

Die heutige Situation ist durch Einbeziehung der Region in die Globalisierung einerseits und verstärkte Identitätsbildung und Feindschaft der Nationen und Religionen untereinander geprägt.  Auf der andern Seite sind sich die Gesellschaften Mittel- und Südosteuropas hinsichtlich der Konsum- und  Nutzungsgewohnheiten von Massenkommunikationsmitteln ähnlicher geworden. Der Südosteuropäer ist hin und hergerissen zwischen hedonistischem Konsumismus einerseits und einer noch immer vergleichsweise starken Bindekraft des Nationalgefühls und einer konservativen Kirche andererseits.   Sollte sich die Waage  zuungunsten der Religion neigen, wird der Osten genau den gleichen problematischen Weg gehen wie der Westen. Neigt er sich zur andern Seite, droht wieder der  Krieg entfesselter Nationalismen.

Am Ende legt der Leser dieses monumentale Geschichtswerk fast ein wenig deprimiert aus der Hand. Repräsentiert die Geschichte tatsächlich nur die ewige Wiederkehr von Mord- und Totschlags? Ist der „Engel der Geschichte“ vor allem in Südosteuropa zuhause? Ganz trübsinnig kann man werden, wenn man von den Leichenbergen liest, die in dem Buch in schier unendlicher Reihung beschrieben werden.

Dem gegenüber bleibt nur die Hoffnung –  oder um es mit Kant zu sagen: die regulative Idee, dass ein wirkliches „Besser“ in der Geschichte zwar unmöglich ist, dass man sein Leben aber so einrichten sollte, als sei es möglich. Ein lahmer Spruch angesichts der Ströme von Blut, die geflossen sind. Etwas Besseres fällt mir aber am Ende der Lektüre nicht ein.  Jetzt brauche ich erst einmal einen Slibowitz.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kommentar verfassen