Manche schlechten Weine kippen während der Flaschengärung um. Sie werden ungenießbar. Mit Büchern verhält es sich mitunter ebenso. Man kann sie schon nach wenigen Jahren nicht mehr lesen. weil sie überholt oder widerlegt sind. Das Gegenteil ist bei dem vorliegenden Buch der Fall, obwohl seine Erstausgabe ein Dreiviertel Jahrhundert zurückliegt. Es handelt sich um Raymond Cartiers packende historische Monografie „Europa erobert Amerika“. Unter diesem Titel beschreibt Cartier zwei Jahrhunderte nordamerikanischer Geschichte, genauer gesagt die abenteuerliche Entstehung der Neuen Welt. Nach einem einleitenden Kapitel über die spanische Erkundung Kaliforniens folgen die beiden Hauptteile des Buches: die Entstehung von Neufrankreich und Neuengland. Der Entdecker des Sankt-Lorenz-Stroms, Jacques Cartier, Samuel Champlain, der „Vater Kanadas“, aber auch John Smith aus Virginia, die Puritaner der Mayflower und die Hexen von Salem haben ebenso ihren Auftritt wie Irokesen, Schweden oder Holländer. Zusammen mit Vasques de Coronado und Hernando Soto irrt der leser durch den Süden der heutigen USA auf der vergeblichen Suche nach Eldorado. Mit Staunen und Ergriffenheit folgt er den französischen Waldläufern in die Tiefen des nordamerikanischen Kontinent. Er erfährt vom tragische Schicksal die Huronen, die von christlichen Missionaren eingeschleppten Krankheiten zum Opfer fielen und den Ausrottungskriegen, denen die Küstenindianer von Maine bis Virginia zum Opfer fielen.
Ganz gleich, an welcher Stelle man das Buch es aufschlägt, immer gelingt es dem Autor die Geschichte Nordamerikas anhand fesselnder Lebensgeschichten zu veranschaulichen. Leider endet das Buch schon 1689, als die „Glorious Revolution“ in Großbritannien die politischen Karten neu mischte. Zu diesem Zeitpunkt lebten bereits über 100.000 britische Siedler in den Neuenglandstaaten, während es die Franzosen gerade mal auf 15.000 Personen brachten. Kein Wunder, dass Frankreich drei Generationen später den Endkampf um die Herrschaft über Nordamerika gegen Großbritannien verlieren sollte.