Ein Gespenst geht um in der westlichen Welt: das Gespenst des Populismus. Die Erscheinungsformen dieses „Gespenstes“ sind widersprüchlich und uneinheitlich, aber eines einigt Trump-Anhänger und Brexiteers, die Gelbwesten in Frankreich, Trucker in Kanada oder neuerdings die Bauern in den Niederlanden: der Protest gegen eine als ungerecht und unfair empfundene Gesellschaft, der unterstellt wird, der eigenen Existenz die Lebensgrundlagen zu entziehen. Auch wenn es die etablierte Politik nicht wahrhaben will, was die meisten dieser Menschen antreibt, ist nicht die Lust an der Randale, sondern die nackte Angst um das wirtschaftliche und soziale Überleben. Der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Angus Deaton und die Gesundheitsökonomonin Anne Case haben es unternommen, in ihrem Buch „Tod aus Verzweiflung. Der Untergang der amerikanischen Arbeiterklasse und das Ende des amerikanischen Traums“ den realen Ursachen, Erscheinungsformen und Folgen dieser Angst am amerikanischen Beispiel nachzuspüren.
Die Rede ist von jenen knapp 70 Millionen nicht hispanischen weißen Nichtakademikern, deren Qualifikationsprofil in einer sich zunehmend digitalisierten und globalisierten Weltwirtschaft immer weniger gefragt ist. Ihr Prokopfeinkommen ist in den letzten beiden Generationen nicht nur um 13 % gesunken (während das BIP in der gleichen Zeit um 85% zulegte), sie leben nicht nur in schlecht bezahlter, prekärer Beschäftigung oder in Arbeitslosigkeit und in fragilen sozialen und gesundheitlichen Verhältnissen – sondern sie sterben auch früher. Eine Analyse der US-Sterbedaten zeigt, dass im Unterschied zu allen anderen Bevölkerungsschichten, deren Sterblichkeitsraten von Jahr zu Jahr sinken (das trifft sogar für die schwarzamerikanische Bevölkerung zu), nicht akademische Weiße seit der Jahrtausendwende eine signifikant höhere und steigende Sterblichkeit aufweisen. Die allgemeine Lebensverschlechterung hat seit 1998 675.000 Amerikaner aus dieser Bevölkerungsgruppe mehr dahingerafft, als im statistischen Vergleich zu erwarten gewesen wäre. Das entspricht dem Absturz dreier vollbesetzter Boeing 737 tagtäglich über zwanzig Jahre hinweg und ist mehr als amerikanische Soldaten in beiden Weltkriegen gefallen sind.
Deaton und Case bezeichnen diese Opfer als „Verzweiflungstote“, d.h. als Menschen, die sich aufgrund der Perspektivlosigkeit ihres Lebens als Selbstmörder, Drogensüchtige, Medikamentenabhängige oder Alkoholiker kurz- oder langfristig umbringen. Diese Definition von Drogensucht, Alkoholismus und Medikamentenabhängigkeit als „verzögertem Selbstmord“ ist ungewöhnlich, aber erhellend, enthüllt sie doch schlaglichtartig die ganze Schieflage, in die die amerikanische Arbeiterschicht geraten ist. „Unser Hauptargument in diesem Buch ist, dass sich im Tod aus Verzweiflung ein langfristiger, langsam vonstatten gehender Verlust eines Lebensstils der weißen, gering qualifizierten Arbeiterklasse spiegelt. Die Arbeitslosigkeit ist Teil dieser Geschichte – aber eben nur ein Teil“, schreiben die Autoren. Es handelt sich also um einen von außen angestoßenen, langfristigen und kumulativen Prozess, bei dem eine Gesellschaftsschicht unter dem Druck des wirtschaftlichen und sozialen Wandels zusammenbricht.
Das Epochenjahr, in dem diese Entwicklung einsetzte, war 1970. Vorher war die Wirtschaft in der Sichtweise der Autoren mit einem System von zwei Rolltreppen vergleichbar, die Akademiker und Nichtakademiker gleichermaßen (wenngleich unterschiedlich schnell) nach oben brachte. Nach 1970 beschleunigte sich die Rolltreppe der besser Ausgebildeten, während die Rolltreppe der geringfügig Qualifizierten stockte. Dieser Prozess kam um 1970 in Fahrt, wirkte lange Zeit als individueller Stress im Verborgenen und wurde ab der Jahrtausendwende als Krise offenbar.
Eine besonders unheilvolle Rolle in diesem „epidemischen Prozess“ spielt das amerikanische Gesundheitssystem einschließlich der Pharmaindustrie, an der Deaton und Case kein gutes Haar lassen. Lobbyisten der Pharmaindustrie propagierten im Rahmen von Schmerzvermeidungskampagnen eine extrem lockere Verschreibungspraxis für Opioide, die die Kasse klingeln ließ, bei den Klienten aber zu massenhafter Medikamentensucht führte. Die durch die Firma Purdue Pharma hervorgerufene Opiatkrise ist hier nur die Spitze des Eisberges. Inzwischen ist es so weit gekommen, dass Drogendealer vor den Türen der Arztpraxen warten, um Patienten, denen der Arzt kein Oxycontin mehr verschreiben will, Heroin und Fentanyl anbieten. „Die größte Einzelkategorie des Todes aus Verzweiflung bilden die an einer Drogenüberdosis Verstorbenen. Diese Kategorie ist Teil einer breiteren Epidemie, die Alkoholtote und Selbstmordopfer einschließt – ein Spiegelbild des gesellschaftlichen Versagens, das wir in diesem Buch beschreiben.“ Was diese Drogentoten betrifft, so vergleichen die Autoren die aktuelle Entwicklung Amerikas mit der Chinas zur Zeit des Opiumkrieges von 1838 – ein massenhafter Drogengebrauch zermürbt immer größere Teile der Gesellschaft. Möglicherweise ist die hier infrage stehende Bevölkerungsgruppe nur die erste, der andere folgen werden.
So dezidiert sich die Autoren zu den Erscheinungsformen der Krise äußern, so vorsichtig sind sie, was mögliche Ursachen und Therapien betrifft. Sie anerkennen zwar, dass die internationale Arbeitsteilung schwere Existenzkrisen bei den „freigesetzten“ amerikanischen Arbeitern erzeugt, glauben aber ein wenig blauäugig an „Ersatzarbeitsplätze“ und sozialverträgliche Lösungen. Dabei wäre eine Ausleuchtung der politischen Verantwortung für die amerikanische Deindustrialisierung der Obamazeit mehr als notwendig – man denke nur an die Beschimpfung amerikanischer Arbeiter als „erbärmliche Rassisten“ durch Hillary Clinton, die als Teil der Obama-Regierung dafür mitverantwortlich war, dass hunderttausende amerikanischer Arbeiter durch das NAFTA Abkommen ihre Arbeitsplätze verloren.
Mit ihren Vorschlägen für eine mögliche Linderung der Krise verweisen die Autoren auf den Instrumentenkasten des sozialliberalen Interventionsstaates. Sie plädieren für eine Stärkung des Kartellrechts, mehr Transparenz beim Lobbyismus, Lohnkostenzuschüsse und eine Erhöhung des Mindestlohns und für eine strenge Regulierung des Gesundheitswesens und der Medikamentenverschreibung. An Marktwirtschaft und Globalisierung haben die Autoren keinen Zweifel, was nach der schockierenden Zustandsbeschreibung, die sie in ihrem Buch liefern, etwas überrascht.
Trotzdem ist die Lektüre des vorliegenden Buches für den europäischen Leser ein Gewinn. Eine schier enzyklopädische Detailfülle trägt dazu bei, die amerikanischen Verhältnisse besser zu verstehen, wenngleich dieses vertiefte Verständnisses wenig erbaulich ist. Denn wenn es wahr ist, dass die amerikanischen Verhältnisse oft mit einer gewissen Zeitverzögerung auf Europa übergreifen, wenn es wahr ist, dass sich bereits in Großbritannien ähnliche Verhältnisse andeuten, dann stehen dem alten Kontinent düstere Zeiten bevor.