Dass ältere Menschen am Ende ihres Lebens die Zeit, die sie umgibt, nicht mehr verstehen, ist ein Dauerbrenner der Kulturgeschichte. Schon in der „Politeia“ meckert Plato über die Jugend, die permanent über die Stränge schlage. Auch der alte Goethe, der 80-jährig im Weimar mit der Endfassung des „Faust II“ ringt, wird an seiner Zeit irre. Die Epoche der Maschinen beginnt, was Goethe um die Strukturen der alteuropäischen Kultur fürchten lässt. Aber auch seiner Zeit selbst ist er derzeit fremd geworden. Seitdem er sich von dem Furor der Befreiungskrieg gegen Napoleon bewusst ferngehalten hat, ist er dem jungen Deutschland suspekt. Er gilt als überholt, nicht mehr relevant, als ein Relikt in Weimar, dem man unterstellt, die Zeichen der Zeit nicht mehr zu verstehen.
Vor dem Hintergrund dieser Konstellation unternimmt der alte Goethe im Jahre 1831, nur wenige Monate vor seinem Tod, eine letzte melancholischer Weise. Den Impetus, die er ihn dabei leitet, wird jeder verstehen, der etwas älter geworden ist. Als ich diese Passage las, dachte ich an Reinhold Messner, der als 75-jähriger noch einmal zum Nanga Parbat reiste, wo seine Bergsteigerkarriere auf so tragische Weise begann.
Goethe aber geht es gemütlicher an. Er reist mit seinen beiden Enkeln (Goethes Sohn August war ein Jahr vorher verstorben) in der Kutsche nach Ilmenau. Im Ort Ilmenau hatte dereinst Goethes Beschäftigung mit der Natur, begonneen, ein lebenslanges Studium, das ihm am Ende offenbarte, was es mit den Menschen auf sich hat.
Diese letzte Reise verläuft völlig ereingnislos gibt der Autorin aber Gelegenheit, anhand der Briefe und der Rückblicke des Altmeisters wesentliche Stationen in Goethes Leben nachzuzeichnen. Neben den rückblickenden Betrachtungen zur Naturphilosophie geht es um Goethes letzte Romanze mit der blutjungen Ulrike von Levetzow, deren Peinlichkeit nicht verschwiegen wird, ferner um die Endfassung des Faust II, bei dem sich Goethe sicher ist, dass das Werk nicht von seiner Gegenwart, sondern erst in Zukunft verstanden werden wird. Am Ende folgen Reflektionen über Goethes Verhältnis zu seinem Sohn, der ein Jahr vroher auf einer Italienreise plötzlich verstorben war. Am Ende, Goethe ist schon wieder heimgekehrt, stirbt der Dichtefürst am 27. Oktober 1832 im Kreis seiner Familie.
Das vorliegende Buch, das im Grunde eine kleine Goethebiografie beinhaltet, besitzt etwas Einnehmendes, Tröstliches, was ältere Leser gut verstehen werden. Das Leben geht zu Ende, und man wundert sich, dass es im Rückblick nicht mehr schmerzt. Das ist eine Haltung, die der alte Goethe kultivierte und um die man sich selbst, nicht immer erfolgreich, bemüht. Zugleich hat es aber auch etwas Großväterliches, fast etwas Betuliches, was als solches bereits zu den Regressionsmerkmalen des Alters gehört . Zwischen diesen beiden Stimmungen habe ich das Buch in einem kalten Januarwochenende auf mich wirken lassen. Es füllte meine Gedanken für eine Weile.