Im Jahre 1916 war der belgische Universalhistoriker Henri Pirenne Insasse des deutschen Kriegsgefangenenlagers in Holzminden. Da kurz vorher sein Sohn Pierre als Freiwilliger der belgischen Armee gefallen war, versuchte er sich von seinem Kummer abzulenken, indem er seinen Mitgefangenen Vorlesungen zur europäischen Wirtschaftsgeschichte im Mittelalter hielt. Ganz ohne wissenschaftlichen Handapparat erzählte er seinen Zuhörern klar und verständlich Grundlegendes zu tausend Jahren europäischer Geschichte. Auf der Basis dieser frei gehaltenen Vorlesung entstand später seine „Geschichte Europas von der Völkerwanderung bis zur Reformation“, die der S. Fischer Verlag im Jahre 1961 als eine 560 Seiten umfassende Buchfassung herausgab. Auf die Einarbeitung neuerer Forschungsergebnisse wurde bewusst verzichtet, um die Lesbarkeit nicht zu beeinträchtigen.
Diesem Dualismus von wissenschaftlicher Aktualität und erzählerischer Prägnanz geht auch Dan Jones in seinem Buch “Mächte und Throne. Eine neue Geschichte des Mittelalters“ aus dem Weg. Nichts von dem, was Jonas erzählt, ist neu (von daher führt der Untertitel ein wenig in die Irre), aber wie er es erzählt, ist dazu angetan, Epochen und Zeiten wie ein großes Drama aufs Neue lebendig werden zu lassen. Dan Jones beginnt seine Geschichte des Mittelalters mit dem Untergang des römischen Reiches und endet nach über 1000 Seiten und/oder 27 Stunden Hörbuch mit der europäischen Reformation. Wenn es zwischen diesen Epochen überhaupt eine übergreifende Klammer gibt, dann ist es die Überzeugung des Autors, dass das Mittelalter eine Epoche eigenen Rechts ist nicht nur das Vorspiel der Neuzeit und dass unsere aktuelle Welt in weit höherem Umfang, als wir denken, ihre Wurzeln im Mittelalter hat.
Um es gleich voweg zu sagen: Das Buch ist ein echter Page-Turner, eine Lesefreude, der man glatt erliegen kann. Ob die ersten Mönche, die Reisen der Wikinger, der Ansturm des Islam und die Kreuzzüge, das Reich der Franken und der Mongolen, die mittelalterlichen Städte, die Pest und die Vorboten der Renaissance, immer gelingt es dem Autor seinem Leser die Haube der Imagination überzustülpen und ihn in fremde Zeiten und Räume zu entführen. Dabei ist der Text nicht nur in geschliffener Sprache verfasst, sondern auch erfreulich quellennah, denn immer wieder lässt der Autor Zeitzeugen breit zu Wort kommen. In dieser Manier gelingt es Jones das Erfolgsrezept aller gelungenen Erzählungen einzulösen: das Detail und das Wesentliche so miteinander zu verbinden, dass sich für die Zuhörer Unterhaltung und Belehrung zugleich einstellt. Noch ein zweites kommt hinzu: Selten habe ich so stark empfunden, dass der pure Ablauf der Ereignisse als solcher eine ästhetische Qualität besitzt, die sich nicht um Sinn oder Telos zu kümmern braucht. Wenig verwunderlich, dass diese Darstellung in einem Hörbuch in ganz besonderer Weise zu Geltung kommt.