Engels: Die Geschichte der Korruption. Von der frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert

Unter Korruption versteht man den nicht sachgerechten Erwerb individueller Vorteile auf der Grundlage persönlicher Netzwerke, die im Verborgenen agieren.  Als solche ist die Korruption ein Universal der Weltgeschichte,  vom Alten Testament bis zu den Grundstückgeschäften der Clintons und der Trumps, ein Anlass beständiger Klage derer, die selbst nicht die Möglichkeit besitzen, ihre Mitmenschen auf der Grundlage persönlicher Netzwerke übers Ohr zu hauen.

Halt, ist das nicht zynisch? Wird hier der Leser einwenden. Teils, teils würde der Autor antworten, denn das Phänomen der Korruption ist systemsprengend und systemstabilisierend zugleich.  Am besten man untersucht sie sine ira et studio und noch besser: mit einem neutralen Neologismus, dem Begriff der „Mikropolitik“   Drei Merkmale definieren nach Engels das mikropolitische Verhalten:  (1) Es dient partikularen Interessen, (2) Es beruht auf Netzwerken, und (3) es vollzieht sich  unterhalb der institutionalisierten Ebene geregelter Verfahren, ist also informell. Mikropolitik ist also ein Sammelbegriff für all jene Machttechniken, die auf personenbezogenen, netzwerkartigen Strukturen beruhen, in denen Einzelinteressen vorherrschen, und die formalisierte Verfahren unterlaufen oder ergänzen.

Aber Mikropolitik ist nicht gleich Mikropolitik, sondern wandelt sich mit den Epochen.  In vorbürgerlichen Zeiten dominierte die hierarchische Variante von Mikropolitik, also Patronage und Klientelismus. Horizontale Verflechtungen unter Gleichberechtigten existierten kaum. Die hierarchische Variante entsprach der gesellschaftlichen Norm der  Ungleichheit. Insofern war etwa der Ämterverkauf paradoxerweise bereits ein Fortschritt, weil er die Vergabe von Ämtern an öffentlich nachvollziehbare Kriterien band.

In der Epoche des  bürgerlichen Parlamentarismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert war die Klientelpolitik des Ancien Regimes verpönt, weil an die Politik höhere „aufklärerische“ Maßstäbe angelegt werden. Damit entstand ein Dilemma, denn der alte mikropolitische Adam blieb sich gleich, aber die moralischen Stöckchen, über die er die der Öffentlichkeit springen musste, wurden höher. Denn natürlich überlebte die Mikropolitik auf der Grundlage mehr egalitär aufgebauter Netzwerke, kochte weiter ihr Süppchen im Stillen, wurde nun aber – das war neu – durch die freie Presse enttarnt. Aufgedeckt wurden die großen Skandale des bürgerlichen Zeitalters in der Regel von Insidern, die sich an persönlichen Feinden rächen wollten und sich dafür der Presse bedienten. Die Folge der Enthüllungen waren zum Teil beträchtlich, denkt man nur an die Bildung der französischen und spanischen Volksfronten in den 1930er Jahren, denen große Korruptionsfälle vorausgegangen waren.  Auch der Niedergang der liberalen Partei in Großbritannien war maßgeblich durch  veröffentlichte Skandale bedingt.  Die offensichtliche Sichtbarkeit jüdischer Finanzier in nahezu allen großen Skandalen des bürgerlichen Zeitalters bereitete den Boden für den politischen Antisemitismus, wobei allerdings nicht berücksichtigt wurde, dass die meisten sozialistischen Aufklärer von Skandalen ebenfalls Juden waren.

Das weitverbreitete Gefühl der Bürger, in korrupten, „verfaulten“ Demokratien zu leben, erleichterte vermeintlich unbestechlichen Führern wie Hitler, Mussolini, Primo der Rivera, Franco oder  Salazar den Aufstieg zur Macht – obwohl diese Potentaten in Wahrheit korrupt bis auf die Knochen waren. Im Unterschied zur bürgerlichen Gesellschaft ermordeten sie allerdings die Aufklärer, wenn man nur an den von Mussolini persönlich angeordneten Mord an dem italienischen Korruptionskritiker Matteotti denkt.

Hier wie an anderen Stellen des vorliegenden Buches klingt ein wenig die These an, dass die hohen Maßstäbe, der sich die demokratische Praxis in westlichen Ländern wenigstens  offiziell unterwerfe, ein Potenzial der Überforderung enthielten. Dadurch werde es ihren totalitären Gegnern zu einfach, sie zu denunzieren  Man müsse vielmehr verstehen, dass Demokratien eben die Systeme seien, die sich gerade durch das öffentliche Aufdecken von Missständen definierten. Deswegen sähen sie für den naiven Betrachter chaotischer aus als autoritäre Systeme, die ihre noch viel schlimmere Korruption einfach unter den Teppich kehrten.

An diesem Gedanken mag etwas dran sein, er darf aber nicht dazu verführen, ausufernde Korruption in demokratischen Systemen einfach hinzunehmen. Denn die wohlfahrtsstaatlichen Systeme, die nach dem zweiten Weltkrieg entstanden sind, laden zur Korruption geradezu ein. Ein großer Teil der bundesrepublikanischen Kommunalpolitik funktioniert durch und durch mikropolitisch. Die Frankfurter SPD und die Arbeiterwohlfahrt lassen grüßen – vom mikropolitischen Großsystem der EU ganz zu schweigen, deren Privilegien an den Adel des Ancien Regimes erinnern.

Dergleichen kritische Anmerkungen finden sich in dem vorliegenden Buch leider nicht, womit zugleich  seine Hauptschwäche benannt ist. Neben seiner sehr instruktiven und aufschlussriechen Geschichte der Korruption fehlt eine tragfähige Analyse der gegenwärtigen Mikropolitik.  Denn das freiheitliche rechtsstaatliche Modell beruht ja in wesentlichen Teilen auf der einwandfreien Funktion einer freien Presse, die die Mauscheleien mikropolitischer Amigos aufdeckt. Davon kann aber im bundesrepublikanischen System nur sehr eingeschränkt die Rede sein.  Die beispiellose und offensichtliche Korruption der CDU Politikerin Ursula von der Laien wurde von der regierungsaffinen Qualitätspresse  butterweich behandelt und praktisch verschwiegen. Die Tatsache dass eine korrupte und unfähige Politikerin Präsidentin der europäischen Kommission wurde, delegitimiert mittlerweile das europäische Projekt.  Denkt man an die Postenschieberein in Mecklenburg-Vorpommern, Berlin oder Sachsen wird man  geradezu von einer Blüte der postmodernen Mikropolitik im Schatten einer wohlwollend diskreten Presse und eines zwangsfinanzierten Staatsfunks sprechen können.

Wohlgemerkt, davon erfährt man in dem vorliegenden Buch nichts. Möglich auch, dass es sich der Autor mit den aktuellen Netzwerken nicht verderben möchte. Dass er aber mit seinen Begrifflichkeiten und seinem historisch fundierten Blickwinkeln die kritische Potenz des Lesers auch für aktuelle Vorgänge schärft,  kann man ihm nicht absprechen.

 

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