Zuerst eine Entschuldigung. Obwohl einige meiner Freunde, deren literarisches Urteil ich hoch schätze, Enzensberger für eine der größten literarischen Gestalten überhaupt halten, hat sich mir sein Genie bislang noch nicht vollständig erschlossen. Ich weiß, dass das nur an mir liegen kann, weswegen ich ehrlicherweise gleich vorneweg auf meinen begrenzten Horizont hinweisen möchte, aus dem heraus ich das vorliegende Buch beurteile.
Abweichend von den fünf Kapiteln von ‚Tumult‘ dreht sich die Darstellung in der Hauptsache um viererlei: erstens um die Begegnung Enzensbergers mit Sowjetrussland, zweitens um seine berühmt-berüchtigte Reise nach Kuba, beides untermischt drittens mit der Geschichte einer Ehekatastrophe und viertens Reminiszenzen an die kaffeemaschinenhaften Eruptionen der Studentenrevolte im Berlin der späten sechziger Jahre. Überall ist Enzensberger irgendwie mit dabei, wird hofiert und kutschiert, ohne sich auf die ideologischen Idiotien wirklich einzulassen. Wollte man dem Autor besondere Ehre antun, könnte man den jungen Enzensberger in dieser Phase mit Ulrich aus Musils ‚Mann ohne Eigenschaften‘ vergleichen, den es hierhin und dorthin treibt, der sich so seine Gedanken macht, aber nie wirklich eingreift und immer irgendwie neben sich steht. Inhaltlich ist das Buch eine Bekräftigung der bekannten Enzensbergerschen Distanzierung vom Sozialismus in der sowjetischen, kubanischen und berlin-anarchistischen Variante, was zwar nichts Neues bringt, aus der Feder eines ehemaligen Linken aber interessant zu lesen ist. Dass er als bekennender Linker mit Eisenstein, dem Deutschenhasser, tafelt, sich von Castro aushalten lässt, während die einfachen Leute in diesen Ländern geknechtet werden, hat ein unbestreitbares Geschmäckle, doch wird man dem Autor zugute halten müssen, dass er seine parasitäre Rolle im Rückblick keineswegs beschönigt. Dass er noch heute die Notstandsgesetze als „Schweinerei“ empfindet und davon „nichts zurücknehmen“ möchte, stellt ihm allerdings kein gutes Zeugnis aus, denn der berüchtigte Artikel 20/4 als sich als ein kümmerlicher und folgenloser Appendix der Verfassung erwiesen.
Die Darstellung der ‚Tumulte‘ im Doppelton eines fiktiven Gespräches wirkt geziert, ist manchmal sogar ein wenig peinlich, wenn etwa Enzensbergers alter Ego als Claqueur fungiert und lobend anmerkt „Einleuchtend, wie du die Mängel der Bürokratie beschreibst“, oder: „Dein Repertoire scheint unerschöpflich zu sein.“ Auf der andern Seite sind die dahingeworfenen Skizzen, in denen der Autor Irkutsk, Havanna oder Taschkent beschreibt, geradezu meisterhaft. Knapp und treffend, von kaum überbietbarer Lakonie. Davon hätte ich gerne mehr gelesen. Dann wieder ist die Sprache über weite Passagen völlig kunstlos und uninspiriert, was irritiert, weil man weiß, dass es der Autor viel besser kann. Distanz? Faulheit? Desinteresse? Mit den eingeschobenen Gedichten kann ich überhaupt nichts anfangen, wobei ich mich schon immer gefragt habe, was an der Enzensbergers Tabulatorlyrik poetisch sein soll. Tut mir leid, wenn ich hier nicht auf der Höhe der germanistischen Forschung argumentiere, aber so sehe ich es. Am meisten Farbe gewinnt das Buch für mich, wenn der Autor mit Freundschaft und Einfühlungsvermögen Personen aus der linken Szene beschreibt, etwa den unendlich eitlen Neruda, den quirligen Chruschtschow, den sympathischen Kolja, aber auch viele beeindruckende russische Persönlichkeiten, die der Sozialismus in eine Nische der Gesellschaft verbannte und um das Glück ihres Lebens brachte. Auch über diese Personen hätte ich gerne mehr erfahren.
Trotz dieser Einwände habe ich das Buch in einem Rutsch mit großem Interesse gelesen, was mich selbst überraschte. Der Grund dürfte bei mir wie bei vielen anderen der gleiche sein: denn wenn das Buch literarisch auch nicht unbedingt der Brüller ist, so besticht es doch als ein Insiderbericht darüber, was in den turbulenten Spätsechzigern bei den angesagte Leuten in Berlin, Moskau und Havanna so abging. Weil die Leser meiner Generation genau in dieser Zeit ihr geistiges Erwachen erlebten, bewahren sie sich dieser Epoche des Umbruchs gegenüber immer eine merkwürdig virulente Anteilnahme. Wer an dieser biographisch-zeitgeschichtlichen Selbstvergewisserung interessiert ist, wird an den Details und Schlüssellochinfos, die das Buch bietet, seine Freude haben. Literarisch allerdings ist „Tumult“ meilenweit entfernt von der vornehmen Poetik, mit der Botho Strauß in HERKUNFT seinen eigenen Rückblick gestaltet.