Mitunter erhellen einzelne Begriffe einen Gesamtzusammenhang, dessen Konturen man bisher nur geahnt hatte. Dieser Zentralbegriff ist „Selbstbewahrheitung“. Selbstbewahrheitung bedeutet, dass sich eine als wahr apostrophierte Hyperrealität wie eine Haube über die Lebenswelt des einzelnen stülpt. Diese Hyperrealität wird durch einen homogenen gesamtgesellschaftlich aktiven „Chor“ erzeugt dessen Mitglieder alle die gleiche Melodie singen und deren Gesang über zwangsfinanzierte Staatsmedien bis in die hintersten Winkel jedes Haushaltes verbreitet werden. Der Einzelne sieht sich umgeben von Zeitungen, Fernsehen, Parteien, Kirchen und den Agenturen der Zivilgesellschaft, die sich unablässig gegenseitig zitieren und bestätigen. Das macht den Einzelnen aber nicht misstrauisch, sondern gilt ihm als Beleg für Richtigkeit. Warum Abweichler dieser selbstbewahrheiteten Hyperrealität widersprechen ist ihm güngstigstenfalls schleierhaft, schlechtestenfalls vermtutet er in ihren Motiven moralische Niedertracht und Hass.
„Selbstbewahrheitung“ als Strategie ist per se kein linkes Projekt. Alle Diktaturen versuchen sich selbst über Selbstbewahrheitung zu zertifizieren. Wladimir Putin lässt grüßen. Allerdings stießen diese Selbstbewahrheitungen bislang auf konkurrierende Wirklichkeitsentwürfe, die ihre Durchschlagskraft begrenzten. Das Besondere der modernen Mediengesellschaft besteht in nun in der Vollständigkeit, der Wucht und der Konkurrenzlosigkeit, in der eine bestimmte paradoxe Hyperrealität (hier: multikulturell, woke, migrationseuphorisch, trans- und gendersensibel, klimaneutral) die bislang unhinterfragt gültigen „Bestände“ der Lebenswelt dekonstruiert. Von der Grundschule, in denen den Kleinen mit Unterrichtsmaterial zum Geschlechterwechsel zu Leibe gerückt wird, bis zum Kampf der „Omas gegen rechts“ hat sich diese Hyperrealität wie eine zweite Haut über die Menschen gestülpt. Sie beraubt den einzelnen der Plausibilität des „common sense“, dessen Existenz für Hannah Arendt eine Bedingung der Personalität war.
Soweit die Diagnose, die frappierend an Berthold Brechts Rede über die Widerstandskraft der Vernunft erinnert: “Tatsächlich kann das menschliche Denkvermögen in erstaunlicher Weise beschädigt werden. Dies gilt für die Vernunft des einzelnen wie der ganzer Klassen und Völker. Die Geschichte des menschlichen Denkvermögens weist große Perioden teilweiser oder völliger Unfruchtbarkeit, Beispiele erschreckender Rückbildungen und Verkümmerungen auf. Der Stumpfsinn kann mit geeigneten Mitteln in großem Umfang organisiert werden. Der Mensch vermag unter Umständen ebenso gut zu lernen, dass zwei mal zwei fünf ist, als dass es vier ist.“
Eine Therapie aber bietet das vorliegende Buch nicht. Längst ist der Prozess massenmedialen Verhexung über die Grenzen dessen Hinausgeschossen, was noch korrigierbar ist. Allenfalls Katastrophen apokalyptischen Ausmaßes könnten die Hyperrealität zum Einsturz bringen, aber die kann ehrlichen Herzens niemand wünschen.