Flichy de La Neuville: Der Islamische Staat

Das vorliegende  Buch beschreibt die Geschichte des islamischen Staates bis zum Jahre 2015. Im Unterschied zum westlichen Narrativ, nach dem der IS aus einer Bande von Mördern und Kriminellen besteht, führt der Autor den IS auf die islamische Tradition und aktuelle Geschehnisse zurück. Maßgeblich für den Aufstieg des IS und die massenweise Gefolgschaft, die er fand, war seiner Ansicht nach das  Bewusstsein einer jahrhundertelangen Marginalisierung durch Kreuzfahrer, Türken, Mongolen, Franzosen, Briten, Amerikaner und nicht zuletzt auch durch die feindlichen Schiiten: “Der Islamische Staat ist mehr als nur eine kriminelle Organisation. Er ist für viele ein arabischer Traum. Ein wahrgewordener Traum, der Tod verbreitet. Eine maßlose Sehnsucht nach Wiedererlangung der Macht nach lange erlittenen Demütigungen. Es reicht, `Kalifat´ zu skandieren, um es wirklich werden zu lassen; es reicht, sich diesem Traum hinzugeben, um kriminelle Taten in Sühnetaten zu verwandeln. “  Als Höhepunkt dieser historischen Benachteiligung empfanden die irakische Sunniten die Besetzung des Iraks durch die USA im Jahre 2003, in dessen Gefolge die lange Zeit von den Sunniten unterdrückte schiitische Bevölkerungsmehrheit im Irak in sogenannten demokratischen Wahlen die Macht ergriff. Ein gnadenloser Revancheterror gegen die Sunniten setzte ein, dem die Amerikaner tatenlos zusahen. Kein Wunder, dass sich bald sunnitische Widerstandszellen bildeten, die sich aus dem Personal des zerschlagenen sunnitischen Machtapparates Saddam Husseins rekrutierten. Eine dieser Zellen war die 2004 gegründete  Dschamāʿat al-Tauhīd wa al-Dschihād (JTJ),die sich dem weltweit agierenden Terrornetzwerk Al Qaida unterstellte. Ab 2006 nennt sich die Terrorgruppe „Islamsicher Staat im Irak“, später „Islamischer Staat Irak Syrien“ (ISIS).

Zunächst nichts weiter als eine Terrorzelle, die im Irak unter der Regie von Al Qaida reihenweise Politiker, ausländische Journalisten und schiitische und christliche Zivilsten ermordet, beginnt nach dem Abzug der amerikanischen Truppen 2011 der Aufstieg des IS zu einer landesweit operierenden Terrorgruppe. Die dezidiert  religiös-fundamentalistische  Propaganda finden begeisterten Anklang, außerdem begünstigt der gleichzeitig ausbrechende  syrische Bürgerkrieg den Aufstieg des IS, weil zur Kooperation von Sunniten auf beiden Seiten der Grenze kommt. Gegner sind gleichermaßen das Assad Regime, die schiitische irakische Regierung, die Alawiten (Syrien) sowie die Christen  und Schiiten. Bei den anschließenden Kämpfen erweist sich die  von den Amerikanern hochgerüstete irakische Armee als vollkommen nutzlos. In zahlreihen kritischen Situationen laufen die Soldaten einfach  davon und überlassen die Waffenbestände dem Gegner.
2014 proklamiert der Terroristenführer Al Baghdadi in der Al Nuri Moschee von Mossul das „Islamische Kalifat“ unter direktem Bezugnahme auf die historische Vorbilder der frühen islamischen Geschichte. In enger Anlehnung an die härtesten Suren und Hadithe rechtfertigt der IS eine geradezu abscheuliche  Behandlung seiner gefangenen Gegner: sie werden öffentlich totgeschlagen, verstümmelt, ertränkt, gekreuzigt, verbrannt oder enthauptet  (damit sie nicht ins Paradies einfahren können, weil das nach der islamischen Überlieferung nur mit dem Kopf voran möglich ist). Junge Frauen werden gesteinigt, weil sie einen Facebook Account besitzen, ein Junge wird vor den Augen seiner Eltern tot geprügelt, weil er über den IS gespottet hatte. Ein Jordanier wird vor laufender Kamera bei lebendigem Leib verbrannt. Von seiner neuen Hauptstadt Raqqa aus schickt sich der IS ab 2015 an, den ganzen Syrien und Irak (die geschichtlich immer eine Einheit gewesen waren) zu erobern. Trotz (oder wegen?) dieser Exzesse bekennen sich  in der gesamten islamischen Welt zahlreiche radikale Zellen zum IS, auch die Terroristen, die in Paris die Redaktion der Zeitschrift „Charlie Hebdo“ massakrierten, behaupten, zum IS zu gehören.

Viel Mühe verwendet der Autor darauf, die verschiedenen Fraktionen innerhalb und außerhalb des IS auseinander zu differenzieren. Besonders ertragreich ist das nicht, denn Mörder sind sie alle. Ein Lehrstück in geopolitischer Kuriosität bieten die Nachzeichnungen der internationalen Akteure. Die Türkei machte lange Zeit gemeinsame Sache mit den IS und ließ die Anreise ausländischer IS-Rekruten ebenso zu wie den Ölschmuggel, mit dem sich der IS finanzierte. Saudi Arabien lässt in der ersten Phase des Kampfes gegen das syrische  Assad-Regime  zu, dass sich IS Kämpfer auf sein Territorium  zurückziehen können, Katar finanziert sowohl den Kampf des IS wie die Allianz dagegen. Die  USA bombardieren die Truppen Assads und die Kampfeinheiten des IS und sehen erst allmählich ein, dass der IS ohne Assad und die ihm folgenden Minderheiten in Syrien nicht aufgehalten werden kann.
An dieser Stelle endet das Buch mit drei Szenarien, von denen eine (Niederlage des IS und Instabilität der Region) inzwischen eingetreten ist.  Das hatte eine Reihe von Ursachen, die im Buch nicht mehr behandelt werden, die aber hier angedeutet werden sollen: (1) der massive Eingriff Russland und des Irans  an der Seite Syriens ab 2015, (2) eine weit unterschätzte Widerstandsfähigkeit des syrischen Assad Regimes und (3) eine massive Unterstützung der irakischen Kurden  durch die Amerikaner, was Spannungen mit der Türkei erzeugt. (4) Die zunehmend ablehnende Haltung der arabischen Staaten, namentlich Ägyptens, gegenüber den islamistischen Terrorgruppen. Der „Kalif“ Al Bagdadi wurde 2019 bei einem Spezialeinsatz des amerikanischer Antiterroreinsatzkommandos „Kayla Mueller“ gestellt und eliminiert (Ihren Namen trug das Einsatzkommando nach der amerikanischen Entwicklungshelferin Kayla Mueller, die von Soldaten des  IS massenvergewaltigt und ermordet worden war).

Inzwischen ist der IS in Syrien und dem Irak zu Ende. Aber die Gewalt ist weiter präsent. Man denke nur an den Drohnenangriff auf die Kadettenanstalt in Homs im Oktober 2023 , bei dem über 100 Menschen zu Tode kamen.  Die These des Autors, dass die abscheulichen Propagandavideos, die der IS in seiner Hochzeit weltweit verbreite, ihm bei den Muslimen geschadet hat, möchte ich allerdings bezweifeln. Man denke nur an die positiven Reaktionen tausender „normaler“ Moslems in westlichen Gesellschaften (!) auf das Massaker, das die Hamas am 7. Oktober 2023 an unschuldigen Zivilisten in Südisrael angerichtet hat.  Der IS ist vorläufig besiegt, seine Bestialität aber hat Schule gemacht.

 

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