Ford: Kanada

Kennt jemand die Empfindung, dass in  Zeiten plötzlichen Entsetzens, aber auch in Perioden lang anhaltenden Ungemachs die  Wahrnehmung der Gegenstände in unserer Umgebung geradezu schmerzhaft plastisch wird? Eine Straßenansicht, eine Wandfarbe, eine Tasse, lauter zufällige Eindrücke, die sich einbrennen wie für die Ewigkeit?   Das etwa ist die literarische Grundstimmung, in der der vorliegende Roman erzählt wird.

Denn den Geschwister Dell und Bernie Parsons ist Schreckliches widerfahren. Ihre an sich harmlosen Allerweltseltern haben eine Bank ausgeraubt und wurden vor den Augen ihrer Kinder verhaftet. Dieser Tatbestand wird dem Leser gleich am Anfang mitgeteilt, doch es dauert dreihundert Seiten, ehe die Charaktere der Protagonisten entfaltet, die Handlung abgerollt und die Eltern tatsächlich verhaftet werden – dargestellt in der eingangs geschilderten Stimmung des Entsetzens aus der Perspektive des fünfzehnjährigen Dell Parsons. Eine erstaunlich intensive und packende literarische Erzählhaltung, die die Kleinschrittigkeit der Darstellung mit einer bedrohlichen emotional getönten Erwartungshaltung verbindet.

Nach der Verhaftung der Eltern verschlägt es den kleinen Dell nach Kanada, während seine Schwester in Kalifornien als Hippie verwahrlost. In Kanada, genauer gesagt in Fort Toyxal in Satchketawan, wiederholt sich die Konstellation des ersten Buchteils. Dell wird Bestandteil einer  Geschichte, die am Ende in einem Doppelmord an zwei Polizisten endet. Die Technik der Darstellung ist ähnlich, wenngleich nicht mehr so eindrucksvoll wie im ersten Teil

Der dritte und kürzeste Teil des Buches bietet dann ein Fazit. Der gerade frisch pensionierte Dell blickt als leidlich arrivierter Lehrer auf sein Leben zurück. Er ist Kanadier geworden und gibt dem Leser am Roman- und Lebensende ein Fazit mit auf den weg, das sich,  isoliert zitiert, zwar hausbacken anhört, nach der Lektüre des Buches aber eine erstaunliche Evidenz besitzt. „Ich weiß nur, dass man bessere Chancen im Leben hat – bessere Überlebenschancen –, wenn man gut mit Verlusten umgehen kann; wenn man es schafft, darüber nicht zum Zyniker zu werden; wenn man Prioritäten setzen kann, wie Ruskin angedeutet hat, Proportionen einhalten, ungleiche Dinge zu einem Ganzen verbinden, in dem das Gute geborgen ist, auch wenn es, zugegeben, nicht immer leicht zu finden ist. Wir versuchen es, wie meine Schwester”

Wie hat mir das Buch gefallen? Es ist ein Roman, den man  Begeisterung beginnt, der dann im zweiten Teil seine Längen hat.  Dass Ford die gleiche literarische Technik wie beim Bankraub auch im zweiten Teil bei dem Polizistenmord anwendet, hat etwas Durchsichtiges. Auch das Ford als Erzähler zwischen den Zeitebenen hin- und herspringt, mal als Jugendlicher  haarklein berichtet, dann als ersichtlich reiferer Mensch resümiert, entbehrt nicht einer gewissen Onkelhaftigkeit. Dafür einige Belege:   Einmal heißt es „Man denkt immer, man würde das Schlimmste kennen. Aber es ist nie das Allerschlimmste.« An einer anderen Stelle: „Diese Worte hätte ich damals nicht formulieren können, sie ruhten in irgendeinem noch unerschaffenen Teil meiner selbst.“ Dann wieder ganz abgehoben:  „Das Kleingedruckte der Wahrheit schien unauffindbar zwischen all den Tatsachen.” Erheblich besser: „Auf ihren Gesichtern – oft gutaussehend, aber verwüstet – habe ich die Überreste der Menschen erkannt, die sie, knapp gescheitert, beinahe geworden wären, bevor sie zu sich selbst wurden.“ Mitunter hat man fast das Gefühl, als müsse sich der sprachmächtige Autor zügeln, um innerhalb seiner formalen Konzeption zu bleiben. Hier schreibt ein Epiker, dessen Sprachkraft Formen und Perspektiven glatt gefährdet.  Auf der andern Seite gelingt es Ford auf diese Weise, seine Geschichte mit unglaublicher Anschaulichkeit und Präzision zu erzählen.  So kommt Dell Parsons, die erzählende Hauptperson, dem Leser so nahe, dass er sich ganz am Ende für das Lebensfazit des Protagonisten interessiert wie für das Lebensschicksal eines guten Bekannten. Warum das Buch allerdings „Kanada“ heißt, kann sich jeder selbst ausmalen. Mit kam es so vor, als repräsentiere Kanada im Vergleich zu den USA, die der Autor sehr kritisch sieht, eine Art distanzierterer, zivilisiertere Lebensform. Alles in allem ein lesenswertes Buch, wenngleich nicht von dem Rang der drei Basscombe-Romane  „Der Sportreporter“ „Unabhängigkeitstag“ und „Die Lage des Landes“.

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