Frankfurter Buchmesse 2023: Der Elefant im Raum ist noch immer unsichtbar

Am 7. Oktober 2023, anderthalb Wochen vor dem Beginn der Frankfurter Buchmesse, überfielen Hamas-Terroristen aus dem Gazastreifen israelische Kibbuzims und ein Musikfestival und schlachteten wie in einem Blutrausch alles ab, was ihnen vor die Messer oder die Gewehre kam. Kleinkinder wurden erschossen, Frauen vergewaltigt, alte Menschen verstümmelt.  Weit über tausend Israelis fielen dem Terroranschlag zum Opfer, ehe die  israelische Armee die Kontrolle über den Süden des Landes wiederherstellen konnte. Sie trafen auf Leichenberge erschossener, geköpfter, massakrierter Zivilisten. Über zweihundert Israelis waren in den Gazastreifen verschleppt worden, um sie als lebende Schutzschilde gegen Israel einzusetzen.
Die Reaktion auf diesen Blutrausch zeigte die Lage des Landes. Deutschland betonte seine Solidarität mit Israel, fuhr aber mit der Finanzierung der Palästinenser im Gazastreifen fort.  Tausende muslimische Mitbürger solidarisierten sich in den deutschen Großstädten mit den Kindermördern von der Hamas, schrien „Juden ins Gas“ und forderten, Israel von der Landkarte zu tilgen. Unbekannte markierten wie in den dunkelsten Tagen der deutschen Geschichte die Wohnhäuser von Juden mit einem Davidstern oder rissen Israelflaggen von öffentlichen Gebäuden. Die deutsche Polizei erwies sich als  überfordert und war nicht in der Lage, die öffentliche Ordnung wieder herzustellen. Sogar der Mainstream erschrak. Als hätte man gerade erst die Existenz eines massenhaften Antisemitismus in Deutschland entdeckt, gab man sich überrascht.  Wie? Es gibt muslimische Antisemiten in Deutschland? Das hätten wir nicht gedacht. Dabei hatten genau die konservativen und rechten Verlage, die seit 2017 auf der Frankfurter Buchmesse stigmatisiert worden waren, schon seit Jahren auf die Gefahr eines importierten Antisemitismus hingewiesen. Damals waren diese Warnungen als Ausfluss rassistischer Menschenfeindlichkeit abgetan worden. Jetzt, wo sie sich bewahrheiteten, kam natürlich kein Mensch auf die Idee, sich bei den Ausgegrenzten zu entschuldigen.

Womit wir bei der diesjährigen Buchmesse wären, die am 18.10.2023  ihre Tore öffnete.  Schon bei der Eröffnungsveranstaltung kam es zum Skandal, als der slowenischer Philosoph Çiçek den Kontext des Hamas-Überfalls unter Hinweis auf die Praxis des israelischen Besatzungsregimes „analysieren“ wollte. Wegen der regierungsamtlichen Solidarität Deutschlands mit Israel hatten Indonesien und Malaysia ihre Teilnahme an der Buchmesse abgesagt. Da Anschlagsdrohungen eingegangen waren, patrouillierten hunderte Polizisten über das Ausstellungsgelände. Die Wirklichkeit, so lange verleugnet, hatte nun auch Eingang in die Frankfurter Buchmesse gehalten.

Oder doch nicht? Obwohl sich die Zeiten geändert hatten, sahen die Messebesucher genauso aus wie in den letzten Jahren. Eine besondere Verunsicherung war nicht spürbar, stattdessen dominierte das ungebrochene Interesse am Buch, eine hemmungslose Bereitschaft zu geistigen Inkorporation  dessen, was in den Hallen ausgestellt wurde. So unterschiedlich die  Besucher in weltanschaulicher Hinsicht auch sein mochten, es einte sie die Freude am Lesen und die Liebe zum Buch, ganz unabhängig davon, wie gefährdet die Lage war.  Handelte es sich bei dieser Liebe um eine Kraft, die verbindet  – oder führt sie zur Spaltung, weil in den Millionen Büchern, die gedruckt werden, die Welt in unendlich vielen disparaten Facetten erscheint? Im Grunde eine unlösbare Frage, die sich allerdings in den letzten Jahren dadurch etwas entspannt hatte, weil die Vielfalt des seriös Publizierbaren gehörig reduziert worden war. Ich war gespannt darauf, wie es sich diesmal verhalten würde.

In den letzten Jahren war ich völlig ziellos durch die Hallen gelaufen. So wie ein Nackedei, der sich unbekleidet von der literarischen Sonne bescheinen ließ, erhoffte ich mir dadurch einen ungefilterten Zugang zu Debatten und Trends. Diesmal aber wollte ich meinen Rundgang mit dem Deutschen Buchpreis beginnen. Der deutsche Buchpreis ist eine der bedeutendsten Literaturauszeichnungen im deutschsprachigen Raum, der alljährlich im Vorfeld der Buchmesse vergeben wird, so auch in diesem Jahr. Sieben Jurymitglieder hatten seit Ausschreibungsbeginn im  Oktober 2022 aus 196 neu erschienenen Titeln zuerst eine „Longlist“ mit 20 und dann eine „Shortlist“ mit 6 Titeln erstellt. Diese sechs Titel waren  ein Bildungsroman von Therezia Mora („Mona oder die Hälfte des Lebens“),ein Migrantenroman von Necati Öziri („Vatermal“), eine ostdeutsche Familiengeschichte von Anne Rabe („Die Möglichkeit von Glück“),  ein feministischer Roman über das Leben einer unterdrückten Frau von Sylvia Schenk („Maman“), ein medienkritischer Trashroman von Ulrike Sterblich („Drifter“) und ein  Gamer-Roman von Thomas Schachinger  („Echtzeitalter“).

Den Schmökertisch, auf dem die Bücher dieser sechs Finalisten auslagen, fand ich zwar nicht, dafür stieß ich auf den FAZ-Buchmessestand, an dem gerade eines dieser sechs Bücher vorgestellt wurde, und zwar Anna Rabes Buch  „Die Möglichkeit von Glück“. Frau Rabe  hatte ein  freundliches Durchschnittsgesicht mit so ausgewogen platzierten Gesichtskomponenten,als sei ihre Verteilung im Raum durch Quoten geregelt worden. Moderiert wurde das Gespräch vom FAZ Redakteur  Tobias Rüther, einem konfus wirkenden Mann mittleren Alters, dessen Fragen so wirr waren, dass sie der Autorin Gelegenheit ließen, einfach das zu sagen, was sie ohnehin sagen wollte.  In dem Buch „Die Möglichkeit von Glück“  ging es um die Gewalterfahrung einer Familie in Ostdeutschland im Wechsel der Generationen. Das Interessante an Frau Rabes Buch war die erzählerische Nachzeichnung einer institutionellen Gewaltkontinuität ganz unabhängig von dem jeweils herrschenden Regime. Einmal monierte die Autorin das Agieren gewalttätiger DDR-Institutionen, die sich ständig selbst dazu gratulierten, den Nationalsozialismus überwunden zu haben, wobei sie ihm doch in ihren Mitteln sehr ähnlich waren.  Hoppla, dachte ich, wenn diese Gleichsetzung Frau Rabes Chancen auf den Deutschen Buchpreis nicht mal beeinträchtigt. Tatsächlich war Frau Rabes Roman in der Endrunde des Deutschen Buchpreises leer ausgegangen. Gewonnen hatte der Gamer-Roman „Echtzeitalter“ von Thomas Schachinger, unter dem ich mir überhaupt nichts vorstellen konnte.

Deutscher Buchpreis hin oder her, gesprochen wurde auf der Buchmesse über ganz andere Bücher. Am Stand des Berenberg-Verlages drängten sich die Besucher vor einem Tisch, auf dem das Buch der palästinensischen Autorin Adenia Shibli auslag. Es trug den Titel „Eine Nebensache“ und beschrieb auf der Grundlage eines authentischen Falles die  Vergewaltigung und Ermordung eines Beduinenmädchens im Jahre 1949 durch israelische Soldaten. Dieser Roman sollte wegen seiner literarischen Qualität  auf der Buchmesse ausgezeichnet werden, was auf heftigen Widerspruch gestoßen war.  Obwohl das Buch im Original bereits 2017 veröffentlicht und sogar für den angesehenen Booker Price nominiert worden war, erschien seine Auszeichnung angesichts des aktuellen Hamas-Massakers an israelischen Zivilisten problematisch.  Wenige Tage vor Beginn der Buchmesse hatte man deswegen die Preisverleihung verschoben. Hunderte angesehener Autoren, darunter Nobelpreisträger und Booker Price-Winner, verurteilten die Nichtauszeichnung als einen Akt der Zensur.  Auch auf der Buchmesse wimmelte es von Solidaritätsadresse für Adenia Shibli –  von einer vergleichbaren Solidarität  mit Israel war nicht die Rede. Die Autorin selbst war nicht auf der Buchmesse erschienen, was ich bedauerte. Gerne hätte ich sie bei einer Lesung und in einer anschließenden Diskussion mit einem israelischen Autor erlebt, aber der Buchmesseleitung war das wohl  zu heikel gewesen.

Nach dem Besuch des Berenberg-Verlages brauchte ich einen Kaffee. Ich fand eine Art Bistro im Innenhof der Buchmesse und setzte mich mit meinem Getränk auf eine Bank.  Da es noch früher Nachmittag war, bewegten sich die meisten Buchmessebesucher  mit federndem Schritt durch das Gelände. Sie ließen die Blicke kreisen, trafen auf andere Blicke, blieben verschlossen oder zeigten ein zwinkerndes, unmotiviertes Einverständnis. Ich fragte mich, woran man Augen erkennt, die viel lesen. Wirken Sie müde oder besonders wach? Sind Augen, die viel lesen, von Runzeln gezeichnet, bedürfen sie der Hilfe von Brillen, die im Laufe der Jahre immer stärker werden müssen? Dass ständiges Lesen für die Augen nicht gut ist, wusste ich aus eigener Erfahrung. Augen sind für das Lesen wie der Rasen für den Fußball: Wenn viel gespielt wird, ist der Rasen natürlich mitgenommen. Ein schräger Vergleich, ich weiß, aber er kam mir einfach in den Sinn, während ich meine Brille putzte.

Nachdem ich eine Zeitlang frische Luft geschnappt hatte und das Koffein langsam zu wirken begann, traute ich mich erneut in eine der Hallen. Der Publikumsandrang hatte womöglich noch zugenommen, an vielen Ständen drängelten sich die Besucher bis weit über die Sitzreihen hinaus. Allerdings zweifle ich mittlerweile daran, dass der Andrang der Zuhörer bei einer Lesung etwas mit der  Wertigkeit der Bücher zu tun hat.  In dieser Auffassung wurde ich durch den Andrang bestärkt, der sich vor dem Stand des STERN gebildet hatte, an dem Kai Dieckmann  zu Gast war. Kai Diekmann war der ehemalige Chefredakteur der BILD-Zeitung und zeitweise die meist gehasste Antifigur der Linken gewesen. Auf dem ersten Blick wirkte er mit seinem Dreitagebart, seiner Jeans und dem sportlichen Blazer wie eine Figur aus einer Modezeitschrift, hätte das jahrzehntelange Pressegeschäft ihm nicht ein Journalistengesicht verpasst, dem Wachsamkeit und ein Schuss Falschheit  anzumerken war. Ob diese Falschheit von Anfang an in ihm gesteckt  oder sich erst als Resultat seines Berufes entwickelt hatte, wusste ich nicht.  Die von ihm geführte BILD-Zeitung hatte  Schröders „Agenda 2010“ jahrelang mit billigstem Populismus bekämpft und damit zu seiner Abwahl im Jahre 2005 beigetragen. Insofern hatte er nicht unwesentlich zum Regierungsantritt von Angela Merkel beigetragen, wofür er in der Hölle schmoren soll.  Alexandra Kraft, eine blondierte alterslose Dame, kam auf Dieckmanns Männerfreundschaft zum ehemaligen Bundeskanzler Helmut Kohl zu sprechen und fragte, ob denn nicht der enge Kontakt zu einem Politiker die Unabhängigkeit des Journalisten beeinträchtige.  Sie stellte diese Frage völlig ironiefrei, als bestände  der größte Teil der gegenwärtigen Mainstreampresse  nicht aus glattgebügelter Hofberichterstattung. Kai Diekmann überging diese Frage, ohne mit der Wimper zu zucken und erzählte über seine Duzfreundschaft mit Helmut Kohl. Allerdings bedauerte Dieckmann rückblickend seine Attacken auf Gerhard Schröder,  denn seine Agenda, so Dieckmann, habe Deutschland ein Jahrzehnt beispiellosen Wachstums beschert. Das war richtig, auch wenn die Ampel-Regierung gerade erst diese Agenda 2010 in der Tonne entsorgt und den Sozialstaat noch viel üppiger ausgebaut hatte,  als es vor Gerhard Schröder der Fall gewesen war.
Da passte es gut, dass ich gleich um die nächste Ecke auf den Pressestand des „Vorwärts“ traf.  Der „Vorwärts“ war die Parteizeitung der Sozialdemokraten, ein ehrwürdiges, über 150 Jahre altes Blatt, in dem Rosa Luxemburg und Friedrich Ebert geschrieben hatten und das sich in kritischsten Zeiten der deutschen Geschichte, in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg und im Vorfeld der nationalsozialistischen Machtergreifung unsterblichen journalistischen Ruhm erworben hatte. In der neuen Medienwelt der Bundesrepublik kam der „Vorwärts“ aber nicht so gut zurecht. Nach seiner Existenz als kostenloses Mitgliederblatt mit einer Auflage von über einer Million Exemplaren war das Blatt als  kostenpflichtige Wochenzeitung gnadenlos abgestürzt. Seine Funktion als  Sprachorgan der Partei hatte das Blatt aber behalten und als solches präsentierte es an seinem Buchmessestand einen  sozialdemokratischen Prominenten nach dem nächsten. Heute war Ralf Stegner zu Gast, ein sozialdemokratischer Bundestagsabgeordneter aus Schleswig-Holstein, von dem es hieß, dass jeder seiner Auftritte im Fernsehen ein kostenloses Promotionsprogramm für seine politischen Gegner sei. Stegner war berüchtigt für den Missmut, den er ausstrahlte, seine Schroffheit und Schnodderigkeit, die er wahrscheinlich mit Volkstümlichkeit verwechselte.  Allerdings kam er live viel besser rüber als im Fernsehen. Keine Spur von Zornesfalten auf seiner Stirn, keine heruntergezogenen Mundwinkel, stattdessen eine anmutbare,  wenngleich inhaltlich einseitige Diktion. Er diskutierte mit Robert Misik über dessen Buch „Politik von unten. Wie die Sozialdemokratie aus ihrer Sackgasse kommt: Gelingt das Comeback der Sozialdemokratie?“  Misik war ein schlanker, etwas scheu wirkender Sozialwissenschaftler aus Österreich, der es als seine Aufgabe ansah, der Sozialdemokratie als „Partei der kleinen Leute“ wieder Hoffnung zu machen. Bei dieser Ausgangslage hätte es mich interessiert, wie die beiden Diskutanten den Abschied der Sozialdemokratie von ihrer traditionellen Wählerklientel und ihre Zuwendung zur woken  Großstadtkultur inklusive Multikulturalismus und unbezahlbaren alternativen Energien erklärt hätten. Doch darüber wurde nicht gesprochen, ganz im Gegenteil. Deutschlands Probleme seien im Grunde „Luxusprobleme“, meinte Stegner, denn so schlimm stände es mit dem Land überhaupt nicht. Der Rückblick auf die Leistungen der Sozialdemokratie erfüllte ihn, Stegner, mit Stolz und der Gewissheit, dass eine SPD, die Kurs hält, in der Lage sei, das Land in eine bessere Zukunft zu führen. Das Problem der SPD schien für Stegner eher in der Verführbarkeit der Wählerschaft zu liegen, die nicht in der Lage sei, ihre wahren Interessen zu erkennen. Hauptverursacher dieser Fehlwahrnehmung war für ihn die „faschistische AfD“, die die deutsche Demokratie abschaffen wolle. Dagegen, so Stegner, gälte es „Haltung zu zeigen“, „Klartext zu reden“ und „Nazis als Nazis zu bezeichnen“.    Damit war die Lehrstunde in sozialdemokratischer Strategie und Programmatik beendet. „Politik von unten“ war im Grunde eine „Politik von oben“, die mit Hilfe der öffentlich-rechtlichen Medien denen da unten so lange übergestülpt werden sollten, bis sie glaubten, es sei ihre eigene.

Die politische Blasenexistenz, in der Ralf Stegner lebte, war erstaunlich, aber keineswegs die Ausnahme.  Je länger ich die Stände entlang spazierte und die Auslagen der Verlage musterte, je klarer wurde mir, dass ein  Großteil der deutschen Publizistik die Berliner Blase weiter verteidigte. Diese Blase war zwar so brüchig geworden wie ein Beduinenzelt im Wüstensturm, doch abgesehen von den Buchangeboten der sogenannten „rechten Verlage“, die wieder an die Peripherie der Messehallen verbannt worden waren, gab es keine  aktuelle Veröffentlichung aus einem großen etablierten Verlag, in denen die Krise von Staat und Gesellschaft wirklich auf den Begriff gebracht wurde. Im Gegenteil: den Kräften, denen es mit dem Abrwacken der freiheitlichen und funktionierenden Bundesrepublik nicht schnell genug gehen konnte, wurde auf der Buchmesse ein Raum und eine Aufmerksamkeit zuteil, die in groteskem Missverhältnis zu ihrer politischen Bedeutung stand. Mitten im besten Teil der Halle 3.1 residierte zum Beispiel die „Junge Welt“, das ehemalige Zentralorgan der FDJ in der DDR,  eine lupenreine kommunistische Parteizeitung, deren Geschichte seit  der Wende eine einzige Aneinanderreihung von Pleiten und Peinlichkeiten war. Trotzdem war sie immer noch da wie ein Zombie, der nicht sterben konnte und  besaß  mitten im besten Teil der Halle 3.1. einen Stand, ohne dass irgendeiner der führenden Mainstreamdemokraten daran Anstoß nahm  Dementsprechend waren die jungen Leute am Stand der „Jungen Welt guter Dinge und verteilten ihre Literaturbeilagen gratis. Diese Beilage war erstaunliche 24 Seiten dick, ein richtiges Konvolut des linken Denkens mit dutzenden Buchbesprechungen. Ich las einige Rezensionen und war enttäuscht. Die Kastenartigkeit des Denkens erzeugte auch im Sprechen über Bücher Propaganda statt Eleganz, Parteilichkeit statt Sublimität.

Am Stand der “Verlag gegen rechts“ wurde auf die gleiche Pauke geschlagen.  Drei junge Leute, Lena Lucczak, Lukas Wanke und Saaba-Nur Chena (Namen ohne Gewähr) unterhielten sich über den sogenannten „Rechtsruck“ und die Möglichkeiten, die drohende Machtergreifung der Rechten noch zu verhindern. Ohne den dreien zu nahe treten zu wollen, besaß ihr Auftritt etwas Rührendes. Nicht nur, dass ihre ganze Erscheinung  ein wenig an eine Sitzung der Schülermitverwaltung erinnerte, sie sprachen auch in voller Ernsthaftigkeit über ein zu 95 % herbeifantasiertes Problem, das aber in einer bemerkenswerten individuellen Brechung.  Die Moderatorin Lena Luczak verzog den Mund bei allem, was sie sagte, als widere sie das Thema an. Wenn sie ins Mikro sprach, klangen ihre Worte gepresst, als kämen sie ganz tief aus ihrem Politchakra.  Lukas Wanke, ein dicklicher junger Mann im Schlabberpulli referierte über seine Störversuche bei den Tagungen des  rechten „Instituts für Staatspolitik“ in Schnellroda.  Dabei war immer wieder „vom Kubitschek“ die Rede, wobei alle drei abschätzig die Lippen verzogen, als handele es sich bei dem Genannten um den Leibhaftigen persönlich.   Allerdings musste Lukas Wanke zugeben, dass der Auftritt seiner kleinen Demonstrantenschar weder bei den Seminarteilnehmern noch bei den Dorfbewohnern in Schnellroda irgendeine Resonanz gefunden hatte. Allerdings hatte er bekannte Leute, Professoren, Lehrer, Journalisten, namentlich identifizieren können, um sie in geeigneter Form an den öffentlichen Pranger zu stellen. Zufrieden schaute Lukas Wanke in die Runde und war in diesem Augenblick der lebende Beweis dafür, dass Denunziantentum nicht zwingend mit politischem Druck verbunden sein muss, sondern sich in einer entsprechend gearteten Seele auch ganz freiwillig entfalten kann. Sheba-Nur Chena war der älteste der drei Diskutanten, ein schlanker junger Mann im lässigen Outfit, der in einem sehr sachlichen Habitus eine Geschichte des „Rechtsrucks“ auf der Frankfurter Buchmesse zum Besten gab. Alles habe damit begonnen, dass die Messeleitung im Jahre 2017 Kubitscheks „Instituts für Staatspolitik“ gleich neben den Stand der Anne Frank Stiftung und der Antonius Amadeus Stiftung platziert hatte. Dazu sofort von der linken Szene zur Rede gestellt, hatte sich die Messeleitung mit dem naiven Argument verteidigt, dass die nachbarschaftliche Platzierung unterschiedlicher weltanschaulicher Positionen dem dialogischen Auftrag der Buchmesse in besonderer Weise gerecht würde. Mehr noch, erzählte Sheba-Nur Chena, die Buchmesseleitung habe sich sogar einen Austausch der Argumente erhofft, was geradezu unfassbar sei, weil diese Perspektive links und rechts auf die gleiche Stufe stellt. Das ginge ja überhaupt nicht. Stattdessen müsse man, wie seit 2017 geschehen,  rechte Verlage an den Rand drängen, wo sie auch hingehörten, notfalls in Sackgassen und an Hallenrändern, wo kein Mensch vorbeischaue. Für die eigene Bewegung plädierte Sheba-Nur Chena  für Bündnisse mit gemäßigten bürgerlichen Kräften, deren politische Ausrichtung man zwar ablehne, mit denen man aber letztlich „eine gemeinsame demokratische DNA“ teile. Das Merkmal dieser gemeinsamen DNA sei „ein immerhin tendenzieller Bezug zur Wahrheit“, wovon bei den „Faschisten“ keine Rede sein könne. Mit dem dramatischen Appell „Wir dürfen nicht zum zweiten Mal verlieren“, schloss er seine Ansprache und erhielt von seinen Gefolgsleuten im Plenum tosenden Applaus. Ich blickte mich um und sah ausnahmslos junge Leute in dunkler Kleidung, lauter Aktivisten für das Gute in gefährdeten Zeiten. Weit  entfernt davon an ihren lauteren Zielen zu zweifeln, fiel mir doch bei ihrem Anblick die „Politeia“ ein, in der Platon behauptete, dass ein Staat, in dem unmündige Jugendliche politisierten, zum Untergang verurteilt sei. Aber wer ist schon Platon, dachte ich. Ein alter weißer Mann aus uralten Zeiten.
Gerade als Lena Lukacs wieder das Mikrofon übernahm, um“ gute linke Literatur“ zu empfehlen, startete auf der anderen Gangseite die Lesung des weißrussischen Autos Zmicier Vishniou.  Zmicier Vishniou sah genauso aus, wie man sich einen osteuropäischen Dissidenten vorstellt: kräftige Figur, lockige Haare, Rollkragenpulli und ein gutmütiges, wenngleich entschlossenes Gesicht. Er hatte eine dunkle, kräftige Stimme, die etwas Überzeugendes besaß, ohne dass ich ein Wort verstehen konnte. Gottlob wurden seine Texte intervallweise von Astrid Vehstedt übersetzt. Das vorgestellte Buch „Unterordnungsverweigerung“ bestand aus verstreuten Notizen und Aphorismen aus der Lebenswelt eines weißrussischen Literaten, eine Mischung aus Lyrik, Gaga und Nonsens, zu der sich ein jeder seine eigene Meinung bilden konnte. “In meiner Brust  knarzt eine Kröte“ klagte der Autor, um sich anschießend über diese Kröte auszulassen. Von der Kröte kam er auf Minsk und Berlin zu sprechen, wobei Minsk als eine geschändete Schöne erschien und Berlin als ein schräger Ort der Verheißung. Mit „Helden“ konnte der Autor allerdings gar nichts anfangen. Er empfahl sie „aufzuschneiden“, um zu sehen, „aus welchem Teig sie gemacht“ seien. Alternativ könne man sie auch backen oder ihr Blut und ihren Schleim näher untersuchen. Eine kleine Fangruppe von vielleicht einem halben Dutzend Personen hing an den Worten des Dichters, als sei er ein unfassbares Genie. Wahrscheinlich hatten sie dafür gesorgt, dass der Verlagsvertreter die Lautstärkeregler maximal aufdrehte, so dass das dunkle, weißrussische Timbre des Autors durch die halbe Halle tönte. Nur in den Pausen, in denen  Astrid Vehstedt in moderaterer Tonlage übersetzte, hört ich nebenan Lena Luczak ins Mikrophon piepsen.

Ich ging weiter und suchte das Azubi-Café, in dem ich in den letzten Jahren einen guten Kaffee für einen vertretbaren Preis erhalten hatte. Doch das Azubi-Café gab es nicht mehr, jedenfalls fand ich es nicht, dafür standen die Leute in langen Schlangen vor kommerziellen Kiosken in den Wandelgängen und zahlten für den Kaffee fast so viel wie für ein halbes Taschenbuch. Mir taten die Knochen weh,  und hätte es einen Ruheraum gegeben, hätte ich mich eine Stunde aufs Ohr gelegt. Einen Moment überlegte ich, mich im Awareness-Center zu melden, um die dortige Liege zu belegen, aber da ich keine Mikroaggressionen benennen konnte, die mich erschöpft hatten, ließ ich es.

So ging ich weiter, schlug hier einen Haken, setze mich dort ein wenig auf den Stuhl und las die Texte auf den Plakaten. An einem islamischen Verlag, an dem niemand zu sehen war, las ich „Der Beste unter euch ist derjenige, der seine Frau am besten behandelt.“ Das hörte sich superwoke an, und dass es der Prophet höchstselbst gewesen war,  diese Worte gesagt haben soll, erfüllte mich mit Zuversicht im Hinblick auf die weltweite Gleichberechtigung der Frau. Nicht weit von diesem Plakat erreichte ich einen Seitentrakt, in dem kleinere Verlage ihre Bücher ausstellten. Hier saß der Italiener Giovanni Natalie an einem Tisch und informierte ein halbes Dutzend konzentriert lauschender junger Leute über sein Buch „Camus muss sterben. Der mysteriöse Tod des Albert Camus.“ Giovanni Natalie hatte leicht angegrautes,  krauses Haar und trug eine schwere, schwarze Brille. Sein spitzes Gesicht wurde von einer herrischen Nase beherrscht und mündete in einen kleinen Kinnbart. An seinen Fingern trug er dicke Ringe, und mit den Händen gestikulierte er so raumgreifend, dass ich um die Kaffeebecher bangte, die auf dem Tisch herumstanden. So speziell wie sein Auftritt, war auch sein Thema. Sein Buch handelte vom Unfalltod des Literaturnobelpreisträgers  Albert Camus im Januar 1960, der nach Meinung des Autos kein Unfall, sondern ein Mordanschlag des KGB gewesen war. Albert Camus, so Giovanni Natalie, war als Kritiker der Sowjetunion den französischen und russischen Kommunisten ein Dorn im Auge gewesen, so dass der KGB den Dichter in Form eines fingierten Autounfall aus dem Weg schaffen ließ. Wie stichhaltig diese These war, konnte ich nicht beurteilen, aber das Nachhaken des Autors fand ich richtig.  Ich glaube fest daran, dass zahlreiche Unfälle in den letzten Jahren keine Unfälle, sondern Anschläge gewesen waren. Man denke nur an die Todesfälle in Putins Reich, in dem die Oppositionellen reihenweise aus den Fenstern fliegen. Aber auch bei uns sprangen schon einmal Politiker aus dem Flugzeug, ohne dass sich ihr Fallschirm öffnete.

Ein fester Topos in der gängigen Science-Fiction Literatur ist die Ankunft der Außerirdischen, meist in gigantischen Raumschiffen, die an Masse alles übertreffen, was die kümmerliche Menschheit zu bieten hat. Diese Assoziation kam mir in den Sinn, als ich von den Hallen 3.0, 3.1 und 4.1 über den Hof zum „Forum“ ging, einem riesigen Gebäude mit einem noch imposanteren Innenraum, in dem das Raumschiff der öffentlich-rechtlichen Medien während der Buchmesse gelandet war. Auf den ersten Blick erschien mir dieser riesige Innenraum des Forums wie die Schädelstädte des bundesrepublikanischen Geistes, besser noch: wie der Ort der Ergießung dieses Geistes auf eine unüberschaubare Zuhörergemeinde.  Das klingt polemisch, ich weiß, aber es ist eine Empfindung, die sich für mich von Jahr zu Jahr verstärkt, nicht nur wegen der thematischen Engführung, sondern auch wegen des bei der Präsentation der Buchbesprechungen zu Tage tretenden Gefälles zwischen Akteuren und Zuhörern. Keine Bühne auf der gesamten Buchmesse wirkte so abgehoben und kanzelartig wie der große Raum oberhalb der Sitzfläche der Zuhörerschaft. Wie das abgesonderte Domkapitel in den Kathedralen des Mittelalters war die riesige, über den normalen Saal-Level herausgehobene Bühne ein Ort der Abgrenzung zwischen Wissenden und Glaubenden.

Als ich im Forum eintraf, kam ich gerade noch richtig zur Buchvorstellung von  „Vaters Meer“ des deutsch-türkischen Autors Deniz Utlu. Bei diesem Roman handelt es sich um die literarische  Nachzeichnung eines väterlichen Migrantenlebens durch den Sohn, genauer gesagt, die Spiegelung der alten Gastarbeitergeneration und ihrer Prägungen mit den Augen eines „neuen Deutschen“ (Herfried Münkler). Die Bühne dieser Besprechung war das sogenannte „Literarische Quartett“, das von Thea Dorn geleitet wurde und in der Regel aus drei Gästen bestand, die Bücher mitbrachten und empfahlen. Da ich weder im Aushang noch im Netz die Namen der drei Mitdiskutanten erfahren konnte, beschreibe ich sie kurz. Ganz zur Rechten saß ein adretter Anzugträger, Typ Eintänzer in einem Tanzpalast der Zwischenkriegszeit. Neben ihm hatte eine kleine, schmale Frau in einem gestreiften Pullover pPatz genommen.   Last not least räkelte sich ein junger Mann im weißen Hemd mit sehenswerter Tolle cool und lässig neben Frau Dorn. Während „Eintänzer“ das Buch von Deniz Utli in höchsten Tönen lobte, seine Langsamkeit pries und die  Sprache bewunderte, fand „Gestreifter Pulli“ das Buch nicht langsam, sondern langweilig. Bei diesem Urteil zog sie einen Flunsch und fügte hinzu, dass viele Geschichten „nicht auserzählt“ seien. Frau Dorn bemängelte den überzogenen Gebrauch von „Weltmetaphorik“ und eine gewisse Zähflüssigkeit,  pries aber auf der anderen Seite die sorgfältige Rekonstruktion von Lebenswelten. Was „Weißes Hemd“ zu dem Buch äußerte, kann ich beim besten Willen nicht wiedergeben. Ich habe es einfach nicht verstanden. Immerhin wurden die Zuschauer bei dieser Buchvorstellung Zeugen, wie vier professionelle Leser mit  Bällen jonglierten, indem sie den ganzen Kosmos literarische Prädikate abspulten und wie ein großmaschiges Netz über das Buch warfen. Wie es dem Jäger egal ist, welchen konkreten Fuchs er fängt, hätte dieses Netz möglicherweise auch über jedes andere Buch geworfen werden können. Ob es die Zuhörer gemerkt hätten, will ich nicht beschwören.
Nur weil es mir inzwischen gelungen war, einen Sitz in der ersten Reihe zu ergattern und weil ich immer müder wurde, blieb ich einfach sitzen, als das nächste Gespräch begann. Es handelte sich um ein Interview mit dem  Journalisten Stefan Lamby, dessen Dokumentarfilm „Ernstfall. Regieren am Limit“ als ein Portrait von zwei Jahren Ampel-Regierungszeit vor einigen Wochen in der ARD gesendet worden war. Stefan Lamby war ein smarter Spätfünfziger, der mit seinem markanten Habichtkopf und seiner Eloquenz extrem kompetent rüberkam. Ihm gegenüber hatte der Moderator Uwe Timm Platz genommen, ein kleiner, runder Mann in einem etwas zu engen Anzug. Uwe Timm hatte sich auf das Gespräch mit einer Reihe von Fragen vorbereitet, musste aber hinnehmen, dass Lamby ihn öfter unterbrach und eigene Akzente setzte. Stefan Lamby   definierte das Projekt der Ampel zunächst als „den Versuch, eine Gesellschaft in Richtung Klimaneutralität zu transformieren“, was er als Zielvorgabe sympathisch fand, obwohl er die Art der handwerklichen Umsetzung kritisierte. Trotzdem sei die  Bilanz der Ampel-Regierung insgesamt positiv, denn man müsse die Leistungen der Minister an der Komplexität ihrer Aufgaben messen. In dieser Hinsicht, so Lamby, sei Wirtschaftsminister Habeck „interessant“, und Kanzler Scholz „kann mehr als er zeigt“, auch wenn er bisher noch keinen „Helmut Schmidt-Moment“ gehabt hatte. Kritischer beurteilte er Außenministerin Annalena Baerbock, die „ihr Herz auf der Zunge“ trüge, was in der Diplomatie nicht hilfreich sei.  Als  Uwe Timm nach der Verwicklung von Olaf Scholz in den Warburg-Skandal fragte, verwies Lamby auf Joschka Fischers Verhalten 2005 beim Visa-Skandal, bei dem er mit dem sturen Beharren auf Erinnerungslücken davongekommen war. Das war das Maximale, was Uwe Timm als Regierungskritiker aus Lamby herausholen konnte. Als das Gespräch beendet war, erntete das Duo anhaltenden Applaus. Die Mischung aus Schlüssellochperspektive, partieller Situationsbeleuchtung und sanfter Kritik war gut angekommen. Die ausufernde Staatsverschuldung mit all ihren Sonderhaushalten, die Inflation, die Abschaltung der Atomkraftwerke mitten in einer Zeit der Energieverknappung, die Deindustrialisierung und die völlig ungesteuerte muslimische Masseneinwanderung hatten die beiden ihren Zuhörern erspart. Möglich, dass Moderator und Autor dachten: man darf das Publikum auch nicht mit zu viel Komplexität überfordern.

Wie schon im letzten Jahr besuchte ich auch diesmal den ARTE-Pavillon, der wie eine fliegende Untertasse mitten im Hof der Buchmesse aufgebaut worden war und in dem gerade ein Gespräch zum Thema „The  Future of Human Rights“ stattfand.  Louis Klamroth, der Moderator der Sendung „Hart aber fair“, legte eine sehr zurückhaltende Diskussionsleitung an den Tag, die sich im Wesentlichen darauf beschränkte, nach seinen sehr kurzen Fragen nachdenklich dreinzublicken und durch zart angedeutetes Nicken sein universales Einverständnis auszudrücken. Frau Professor Irina Scherbakowa war eine russische Kulturwissenschaftlerin und führende Aktivistin der Menschenrechtsorganisation „Memorial“, die 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden war. Was Sie über die Lage der Menschenrechte in Russland unter Putin zu sagen gehabt hätte, hätte mich brennend interessiert, doch leider gab es dazu praktisch nichts zu hören, weil Michel Friedman, der Dritte im Bunde, etwa 90 % der Sprechzeit für sich beanspruchte. Auf jede von Klamroths minimalistischen Fragen antwortete Friedman mit umfassenden Zehnminutenexkursen, die sehr wenig mit Klamroths Fragen, aber viel  mit Michel Friedman zu tun hatten. Dabei gelang es ihm, ganz unabhängig vom Inhalt ellenlange Sätze mit einer  ganzen Latte von Neben-, Einschub- Indikativ- und Konditionalsätzen grammatikalisch sicher und korrekt zu Ende zu bringen. Wahrscheinlich verdankte Friedman dieser Endlossatzkompetenz einen Großteil seiner rhetorischen Reputation. Gut möglich auch, dass manch ein Zuhörer von Friedmans Fähigkeit, das korrekte Partizip nach Hundert-Wort-Sätzen zu finden, auf die Richtigkeit der Inhalte schloss, die er verkündete. Diese Inhalte waren ein Konzentrat des Merkelismus, also einer moralisch aufgeladenen Wünsch-dir-was-Weltanschauung, die er mit großer Emphase zu Gehör brachte. „Niemals dürfen Menschenrechte von ökonomischen Erwägungen abhängig sein“,  rief er, und Beifall brandete auf. „Was kann uns die Idee Europa anderes sein als ein Impuls zur Durchsetzung universal geltender Menschenrechte?“ setzte er nach, und wieder wurde er mit Applaus belohnt. Jetzt fehlte nur noch, dass er aufstand und sich verbeugte. Frau Scherbakowa nickte dazu und beschränkte sich darauf, das von Friedman Gesagte zustimmend zu paraphrasieren. Dieser aber geriet allerdings bei seinem nächsten Megaexkurs zur UN etwas aus dem Rhythmus.  Plötzlich verstummte er  und blickte erstaunt auf sein Mikro, als hätte ihm jemand den Stecker gezogen. Er  schwieg einige Sekunden, blickte auf sein Konzept, um dann, wie neu verdrahtet,  genau mit jenem Halbsatz fortzufahren, an dem er sich unterbrochen hatte. Obwohl bei dieser Gelegenheit das Einstudierte und auswendig Gelernte klar zu Tage trat, erhielt er auch für seinen UN Exkurs wieder dankbaren Applaus. Diesen Applaus nahm Friedman zum Anlass, sich gleich auch noch die Feinde der Menschenrechte vorzuknöpfen, nicht Russland oder der Hamas, sondern die AfD, die er als eine Partei von „neuen Faschisten“ bezeichnete, deren Gefährlichkeit gerade darin bestände, dass sie nicht mehr wie die klassische Rechte mit  Glatze und Springerstiefel aufträte, sondern in bürgerlicher Reputation daherkäme. Man denke nur an die menschenrechtsfeindlichen Parolen von „Professor Sarrazin“, einem Brunnenvergifter der schlimmsten Art, dessen Hetze von der  neuen Rechten nachgeplappert würde.

An dieser Stelle verließ ich den ARTE Pavillon leicht deprimiert, weil ich feststellen musste, dass der Realitätsschock, der sich in den letzten Tagen angesichts der antisemitischen Demonstrationen von Hamas-Anhängern auf Deutschlands Straßen breitgemacht hatte, bei den Meinungsmachern noch nicht angekommen war. Ich fragte mich, ob Friedman tatsächlich glaubte, was er sagte oder ob ihm manchmal Bedenken kamen, wenn er an die Elogen dachte, die er der Einwanderungskanzlerin Angela Merkel dafür gesungen hatte, dass sie hunderttausende Antisemiten ins Land geholt hatte. Außerdem nahm ich ihm das hohe moralische Ross, auf dem er ritt, einfach nicht ab. Als er vor Jahren in seiner Erscheinungsform als Paolo Pinkel bei einer Kokainparty mit ukrainischen Zwangsprostituierten erwischt worden war, war von Menschenrechten keine Rede gewesen.
Inzwischen war es dunkel geworden, und am Ende eines langen Tages war die allgemeine Erschöpfung unübersehbar. Diese Erschöpfung zeigte sich in müden Gesichtern,  in vollen Tüten mit Literaturbeilagen, an einer leicht zänkischen Stimmung  und am schwankendem Gang der Massen. Bei manchen Buchmessebesuchern glich die  Fortbewegung zu dieser späten Stunde dem Gang der Pilger im dritten Aufzug von „Tannhäuser“, nur ohne deren frohe Hoffnung.

Es war kurz vor 18:30 Uhr, als eine Durchsage das baldige Ende der Öffnungszeiten ankündigte. Zuerst langsam, dann immer deutlicher begannen sich die Massen in Bewegung zu setzen, ein Auszug aus dem Haus der Literatur kam in drei Richtungen in Gang: zur U-Bahn Station, zum Haupteingang und zum Busparkplatz. Die lammfromme Ergebenheit, in der hunderte Menschen in einer Warteschlange nach Schließung der Buchmesse darauf warteten, dass sie häppchenweise von wenigen Bussen abtransportiert wurden, war der letzte starke Eindruck der diesjährigen Buchmesse. Sie erschien mir in diesem Moment wie ein Symbol der universellen deutschen Bereitwilligkeit, einer Bereitwilligkeit, sich mit einer katastrophalen Busorganisation abzufinden, in einem niedergehenden Staatswesen widerspruchslos zu existieren, und am literarischen Mainstreamzirkus wie der Frankfurter Buchmesse gottergeben teilzunehmen. Mit diesem trüben Gedanken verließ ich die Buchmesse 2023. Das Land wankte, doch die Buchmesse, war sich treu geblieben.

  • Bilder des Musikfestivals in der Nacht vom 6. auf dem 7. Oktober, unmittelbar bevor die Hamas das Festival überfiel und 260 Teilnehmer niedermetzelte

Ein Gedanke zu „Frankfurter Buchmesse 2023: Der Elefant im Raum ist noch immer unsichtbar“

  1. Eine interessante Beschreibung der Stimmung auf der Buchmesse. Gut der angehängte Film über das Musikfestival und die Folgen des Überfalls. Die Worte „Vermisst“ riefen in mir Assoziationen zu Stalingrad wach.
    Gruß
    Rolf

Kommentar verfassen