DER ANTHROPOLOGE UND DIE VULVA-FORSCHERIN
Dieses Jahr hatte man sich als Fachbesucher der Frankfurter Buchmesse zum ersten Mal digital akkreditieren lassen müssen und zwar durch Nachweis relevanter Veröffentlichungen. Ich war beim ersten Mal abgelehnt worden, beim zweiten Versuch hatte es rätselhafterweise geklappt. Mit dem ausgedruckten Messeausweis genoss ich den Vorzug eines kostenfreien Parkplatzes und fuhr mit dem Shuttle-Bus wie jedes Jahr vom Rebstockgelände zu den Messehallen. Endlich hatte der Regen aufgehört. Zwischen dunklen, wild zerzausten Wolken kam die Sonne hervor und beleuchtete den Innenhof der Messe.
Zwischen dem Forum, in dem sich der Spanische Pavillon befand und der Halle 3 und 4, in denen die maßgeblichen Verlage ausstellten, erstreckte sich ein großer Platz mit zahlreichen Verpflegungs- und Kaffeeständen, deren Betreiber damit begannen, nach dem Regen die Planen von ihren Ständen herunterzuziehen. Vor zwei Tagen war die diesjährige Frankfurter Buchmesse in Anwesenheit des spanischen Königspaares und des Bundespräsidenten eröffnet worden. Etwa 4000 Aussteller aus 95 Nationen waren mit von der Partie, das waren mehr als im letzten Corona-Jahr, aber viel weniger, als in den Blütejahren der Buchmesse, als auch schon mal 7000 Aussteller nach Frankfurt gekommen waren. Natürlich hatte es auch wieder Ärger gegeben, weil sich unter diesen 4000 Ausstellern drei konservative Verlage befanden. Wieder hatte sich Jasmina Kuhnke alias Quattromilf, nach der seit 2021 kein Hahn mehr gekräht hatte, zu Wort gemeldet und verkündet, sie würde nicht an der Buchmesse teilnehmen. Hatte sie überhaupt irgendjemand eingeladen? Mirrianne Mahn, die im letzten Jahr die Verleihung des Friedenspreises an Tsitsi Dangarembga gestört hatte, hatte den Rücktritt des Buchmessedirektors Jürgen Boos gefordert, weil er „Nazis eine Bühne“ gebe. Eine ganze Empörungsindustrie war wieder dabei, in Rage zu geraten, wobei es bezeichnend war, dass sich die Empörungsbereitschaft und die literarische Bedeutung der Akteure reziprok zueinander verhielten.
Gleich der erste Blick beim Eintritt in die Halle 3.0 hatte etwas Exemplarisches. In vier Metern Höhe verwies eine beleuchtete, halbmeterhohe Leiste auf den Stand der „Bundesregierung.“ Nur wenige Meter davon entfernt befand sich eine fast ebenso große leuchtende Leiste über dem Stand der „ZEIT“ . Bundesregierung und ZEIT, Regierung und ihr maßgebliches publizistisches Verlautbarungsorgan einträchtig vereint als Gatekeeper über dem literarischen Mainstream der Buchmesse. Konnte es ein passenderes Bild für die kulturelle Lage des Landes geben? Ich kann gerade zur rechten Zeit zum Stand der Bundesregierung, um den Auftritt von Innenministerin Faeser mitzuerleben. Dass Politiker mittlerweile regelmäßig Buchmessen besuchen wie kommunistische Generalsekretäre die Landwirtschaftsschau gehörte inzwischen zum guten Ton demokratischer Regierungspraxis. Fans von Frau Faeser müssen den folgenden Absatz allerdings überspringen, denn ich bekenne: ich bin kein Freund dieser Ministerin. In ihrer bisherigen Amtsführung hat sie sich mühelos den Parteilichkeitspokal verdient, den bislang Heiko Maas innehatte. Frau Faeser publiziert als Angehörige der SPD-Linken in Antifa-Postillen und erklärt gleichzeitig den Rechtsextremismus zur größten Gefahr für Deutschland. Den Arbeitskreis „Islamischer Extremismus“ löst sie ohne Begründung einfach auf, als gäbe es das Problem nicht mehr, und ihre migrationspolitischen Pläne sind dazu angetan, eine neue Zuwanderungswelle in Gang zu setzen. Es war kennzeichnend für die lammfromme Stimmung auf dieser Buchmesse, dass die Ministerin trotz dieser Negativbilanz keine Kritik aus dem Publikum zu befürchten hatte. Andächtig lauschten die vornehmlich jungen Leute, als die Ministerin vor dem Rechtsextremismus warnte. Wie gefährlich dieser sei, ersehe man am Beispiel des Anschlages auf die ukrainische Flüchtlingsunterkunft in Mecklenburg-Vorpommern. Den Amoklauf eines somalischen Asylbewerbers, der vor zwei Tagen in Ludwigshafen zwei Deutsche erstochen hatte, erwähnte sie nicht. Weder ein Tweet, eine Bekundung der Trauer und schon gar kein Besuch in Ludwigshafen waren ihr die Toten wert gewesen. Auch aus dem Publikum kam keinerlei Nachfrage, geschweige denn Widerspruch, ganz im Gegenteil. Als Frau Faeser auf die Asylproblematik zu sprechen kam, fragte eine Schülerin mit stockender Stimme, wie ist denn sein könne, dass noch immer schutzsuchende Menschen an unseren Grenzen abgewiesen würden. Zustimmendes Nicken bei ihren Mitschülern. Eine neue Generation von Bahnhofsklatschern wuchs heran.Kurz darauf war die Veranstaltung zu Ende, und die Menge zerstreute sich. Einige Schüler blieben vor einer großen Scheibe stehen, die neben dem Stand der Bundesregierung aufgestellt worden war. Sie war wie ein senkrechtes Roulette mit den geografischen Umrissen und den Flaggen der 16 Bundesländer konstruiert und konnte gedreht werden. Stoppte der Zeiger an einem der Symbole, musste das entsprechende Bundesland genannt werden. Als Preis gab es einen kleinen Schlüsselanhänger. Man sieht: Die politische Partizipation der Jugend liegt unserer Regierung am Herzen.
Nur wenige Meter vom Stand der Bundesregierung entfernt, befand sich der erwähnte Pavillon der ZEIT. Dort wurde gerade der ukrainische Schriftsteller Yuri Andrujovich von dem Journalisten Adam Soboczynski über sein neues Buch „Radio Nacht“ interviewt. Yuri Andrujovich stammte aus dem westukrainischen Städtchen Ivano Frankisk und war nach der Wende des Jahres 1990 durch eine Reihe von vielbeachteten und in zahlreiche Sprachen übersetzte Romane bekannt geworden. Ich selbst hatte seinen Roman „Zwölf Ringe“ auszugsweise gelesen, in dem er einen österreichischen Fotografen auf Spurensuche durch das multikulturelle Galizien schickte. Yuri Andrujovich war ein kräftiger Frühsechziger mit stattlichem Schnauz und vollen Haaren, besaß kantige Gesichtszüge und trug einen kleinen Ring im Ohr. Seitdem er sich seinen grauen Bart abrasiert hatte, sah er mit seinen langen Koteletten aus wie ein ukrainischer Gardeoffizier, obwohl er in Wahrheit ein Intellektueller von hohen Graden war. Außer seiner Muttersprache beherrschte Andrujovich Englisch, Deutsch, Polnisch und Russisch und hatte Pasternak, Shakespeare und Rilke ins Ukrainische übersetzt.
Yuri Andrujovichs neuer Roman „Radio Nacht“ war zwischen Ende 2018 bis Anfang 2020 entstanden, also einige Zeit vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Ob er diesen Angriffskrieg vorausgeahnt habe, wollte Soboczynski vom Autor wissen. Soboczynski bildete in seiner nervösen Rundheit den optischen Kontrapunkt zum kantigen Andrujovich . „Dass sich die Konflikte zuspitzen würden, habe ich erwartet“, erwiderte Andrujovich, „aber nicht, dass sie sich so schnell zu einem solchen Krieg auswachsen würden“ Dieser Krieg hatte nach Meinung des Autors allerdings nicht erst im Februar 2022, sondern bereits im Februar 2014 begonnen, als auf dem Maidan von Kiew das Feuer auf die Demonstranten eröffnet worden war. Andrujovich war sich sicher, dass die schwarz gekleideten Spezialkräfte, die damals im Unterschied zur ukrainischen Polizei rücksichtslos von der Schusswaffe Gebrauch gemacht hatten, russische Spezialeinheiten gewesen waren, die den Sturz Präsident Janukowitschs verhindern sollten. Dass es dann zur Annexion der Krim und schließlich zum Krieg kam, war nur folgerichtig. „Alles kommt früher oder später“, meinte der Ukrainer, „aber manchmal auch zu spät.“ Das treffe besonders für Frau Merkel zu, denn von ihr hatten die Ukrainer zeitweise das Gefühl gehabt, sie stände Putin näher als den Ukrainern. Herr Soboczynski hatte diesen Ausführungen mit leicht säuerlicher Miene zugehört, als sei ihm die Kritik an Frau Merkel nicht recht. Deswegen kam er lieber auf den Roman zu sprechen, der in aller Kürze vorgestellt wurde. Im Mittelpunkt von „Radio Nacht“ steht der ukrainische Rabauke und Musikliebhaber Josef Rotsky (Joseph Roth, Josef Brodzky und Leo Trotzki lassen grüßen), der ein wildes und widerständiges Leben in einem nicht näher bezeichneten osteuropäischen Land lebt. Er unternimmt ein Attentat auf den „vorletzten Diktator“, weswegen ihn der Geheimdienst dieses Landes verfolgt. So flieht Rotsky zusammen mit seinem „besten Freund“, dem Raben Edgar (Achtung Edgar Allan Poe!) auf eine Insel im „Null-Meridian“, von der er als Radiomoderator allnächtlich seine melancholische Musik und seine Kommentare in den Äther schickt. Wie bei Buchmesseinterviews üblich, lobte Soboczynski das Buch über den grünen Klee, hatte aber auch einige Fragen zum formalen Aufbau. „Warum hat das Buch zwei Erzählebenen, eine, die die Handlung aus der Sichtweise von Joseph Rotsky, und eine, die das Geschehen aus der Perspektive eines Biografen erzählt?“ wollte Soboczynski wissen. „Weil so die Handlung für den Leser fasslicher wird“, erwiderte Andrujovich. „ Das Buch ist voller an Anspielungen auf andere Autoren“, setzte Soboczynski nach und nannte Bulgakow, Poe und Ionescu. „Warum diese Verweise?“ fragte er, „Was wollen Sie damit erreichen?“ „Nichts“, gab Andrujovich treuherzig zur Antwort. „Es sind einfach Verweise, die mir beim Schreiben eingefallen sind.“ „In ihrem Buch ist sehr viel von Musik die Rede,“ setze Soboczynski. nach. Aber wie schaffen Sie es, diese Musik, die ja einem anderen Rezeptionsorgan verpflichtet ist, in den Roman zu integrieren?“ „Gar nicht“, erwiderte Andrujovich, „ich verweise einfach auf die Fundstellen im Netz.“ Diese unprätentiösen Antworten kamen beim Publikum gut an, während der der Moderator etwas abfiel. Seine Fragen wurden immer ungenauer, und je ungenauer sie wurden, desto mehr ruderte Soboczynski wie zum Ausgleich mit seinen Armen, so dass man als Zuschauer ganz nervös wurde. Allerdings hat es ein Moderator bei einem Gespräch mit einem bedeutenden Autor nicht leicht. Er muss in zumutbaren Dosen Begeisterung, Fachkenntnis und Kritik gleichzeitig glaubhaft rüberbringen, was leicht schief gehen kann, vor allem wenn man weder Autor noch Buch wirklich mochte, was hier möglicherweise vorlag.
Nach dem Besuch des ZEIT Standes wanderte ich weiter durch die Halle 3.1., verweilte hier einige Minuten und las dort ein wenig. Niemand trug eine Maske, obwohl die Messeleitung dies empfohlen hatte. Am Stand von book on demands drängten sich die Interessenten, denn dort wurde erklärt, wie man in Nullkommanichts zum Verfasser eines Buches werden konnte. book on demand war das Flaggschiff der Selfpublishing-Branche. Die Bücher, die der Verlag veröffentlichte, waren solide und ansprechend aufgemacht, auch wenn das die Autoren mehr kostete als bei anderen Anbietern. Einer meiner Freunde, der Indonesienkenner Horst Geerken, hatte sich mit seinen Büchern bei book on demand eine stabile Lesergemeinde aufgebaut.
An einem Schulbuchstand sprach ein Verlagsangestellter mit einer Frau, die aus dem off zugeschaltet war, über schulische Mitbestimmung. Am besten sei ein Schülerparlament, von dem man auch die Erstklässler nicht ausschließen dürfte, meinte die Dame, von der ich noch nie etwas gehört hatte. Sollten im Rahmen der Inklusion auch geistig behinderte Schüler unterrichtet werden, müsste natürlich auch ihnen die Möglichkeit der Partizipation geboten werden. Besonders zielführend sei die Einrichtung eines Schulfaches „Glück“, was mir unmittelbar einleuchtete, weil hier die Schulbürokratie durch die Abschaffung des Sitzenbleibens, die Ächtung der Hausaufgaben und die Reduktion der Leistungsanforderungen bereits kräftig vorgearbeitet hatte. Einige Tage vor der Buchmesse waren die Ergebnisse eines landesweiten Grundschulleistungstests durch die Presse gegangen. Die Lese- und Rechenfähigkeiten deutscher Grundschulkinder waren noch schlechter geworden. Deutschland lag mittlerweile auf einem der unteren Ränge im OECD Vergleich. Keine Frage, dass die Schülermitverwaltung deswegen noch weiter ausgebaut werden musste, damit die Zustände wieder besser würden.
An der Peripherie der Halle 3.0 erreichte ich den sogenannten „Awareness Stand“, die neueste Innovation der Frankfurter Buchmesse. Ihre Mitarbeiter waren nicht für physische Attacken zuständig (dafür gab es Polizei und Sicherheitsdienst), sondern sie schritten ein, wenn sich Buchmessebesucher durch sogenannte „Mikroaggressionen“ der unterschiedlichsten Art in ihrem Wohlbefinden gestört fühlten. Dabei oblag die Definition dessen, was eine Mikroaggression war, den Betroffenen selbst. Komisch dachte ich, das ist ja wie beim Antisemiten. Der fühlt sich durch den Juden auch bedroht, ganz gleich, was der Jude macht. Auf der anderen Seite darf dieses Problem auch nicht unterschätzt werden, denn viele Linke tragen schwer daran, dass wieder drei konservative Verlage (Junge Freiheit, Gerhard Hess- und Karolinger-Verlag) trotz aller Stigmatisierungen an der Buchmesse teilnahmen. Als besonders perfide bewerteten es diese Kreise, wie geschickt diese „Neonazis“ ihre mörderischen Impulse zügelten und nach außen hin superkorrekt und hyperfreundlich auftraten. Kein Wunder, dass am Awarerness-Stand noch kein Andrang herrschte. Eine junge Frau mit gelber Awareness-Weste hatte gleichwohl ihre Umgebung fest im Blick. An ihrem Beispiel erkannte ich, welches Potenzial das Awareness-Geschäft besaß. Warum gab es noch keine Awareness-Patroillen in den Schulen oder im Eingangsbereich von Diskotheken, bei Rockertreffen oder nachts am Frankfurter Hauptbahnhof? Da wartete noch ein weites Feld auf seine zivilgesellschaftliche Beackerung.
Ich ging weiter und kam zum Buchstand „Deutscher Buchpreis“. Er bestand aus einer Bücherwand, einem Tisch mit vier Stühlen und den Büchern, die bei der Preisverleihung in die engere Auswahl gekommen waren. Man konnte diese Bücher zur Hand nehmen, in ihnen blättern und lesen, sie aber nicht klauen, weil sie mit einer Kordel gesichert waren. Da ich schon einmal da war, griff ich zu Kim d´Horizons „Blutbuch“, das vor wenigen Tagen mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden war. Der Deutsche Buchpreis wurde jedes Jahr im Vorfeld der Buchmesse aus einer Longlist von weit über hundert Büchern und einer Shortlist von sechs oder sieben Büchern ausgewählt. Als der Preis im Jahre 2005 erstmals vergeben worden war, hatte man einen literarischen Preis vom Rang des englischen „Man Booker“ Preises etablieren wollen. Dementsprechend waren in den ersten Jahren auch wirkliche Schwergewichte wie Uwe Tellkamp (2008), Eugen Ruge (2011) und Lutz Seiler(2014) ausgezeichnet worden. Im Zuge der Eingrünung des gesamtgesellschaftlichen Meinungsklimas in der späten Merkel-Ära hatte sich der Preis aber mehr und mehr zu einem Instrument der literarischen Volkserziehung verwandelt, mit dem vorwiegend zuwanderungsaffine und EU-freundliche Romane ausgezeichnet wurden. Ich will damit nicht sagen, dass diese Bücher schlecht gewesen waren, sie waren wahrscheinlich nicht besser oder schlechter als dutzende anderer Kandidaten, sie thematisierten nur in dankenswerter Eindimensionalität Wirklichkeitsfelder, von denen die Juroren der Auffassung waren, dass sie stärker und positiver beachtet werden sollten. Nun war in diesem Jahr in Gestalt von Kim d´Horizon zum ersten Male ein sogenannter „nicht-binärer“ Autor ausgezeichnet worden. „Nicht binär“ bedeutete, dass sich eine Person weder als Frau noch als Mann fühlt.
Sofort nach der Bekanntgabe dieser Auszeichnung hatte sich eine heftige Kontroverse über Preisträger und Buch mit einer bemerkenswert eindeutigen Frontstellung entzündet. Die offizielle Kritikerzunft, die noch vor kurzem Uwe Tellkamps monumentalen 900-Seiten Roman „Der Schlaf in den Uhren“ einhellig zerrissen hatte, pries Kim d´Horizons Werk über den grünen Klee als „erhellend“, als „Wagnis“, als „kühn“, „fortschrittlich“ und „zukunftsweisend“. Beispielgebend war auch hier der Literaturkritiker Dennis Scheck, der sich vor laufender Kamera kaum zu fassen wusste, über die Genialität des Werkes. Große Teile des Lesepublikums aber waren anderer Meinung. Bei Amazon bewerteten über 50 % der Buchkäufer das Buch mit nur einem einzigen Stern, also der niedrigsten Bewertung. Kontrovers rezipiert wurde auch die öffentliche Reaktion des Autors auf die Verleihung des Buchpreises. Anstelle einer Dankesrede hatte sich Kim d´Horizon vor aller Augen den Kopf kahl rasiert, wodurch er seine Solidarität mit den iranischen Frauen ausdrücken wollte – ungeachtet der Tatsache, dass den iranischen Frauen, die unter Lebensgefahr gegen das Mullahregime opponieren, Phänomene wie LGBTQ+ und nicht binäre Lebensweisen so fremd sein werden wie der Mann im Mond.
Nun hielt ich das „Blutbuch“ in der Hand und konnte versuchen, mir selbst ein Urteil zu bilden. Die ersten Seiten lasen sich flüssig und gut, ein wenig Lobo-Antunes-mäßig mit Sprüngen, Satzfetzen und Einschüben, Neologismen und drastischer Wortwahl, zunächst aber nichts, was einen erfahrenen Leser vom Hocker hauen würde. Das Buch war formal als ein Brief an die Großmutter des Autors verfasst und rekapitulierte den Werdegang des nicht-binären Kim d´Horizons inklusive zahlreicher Kränkungen, auch derber sexueller Exzesse. Fast eine Stunde saß ich am Tisch und las, teil angetan, teils befremdet und immer unsicherer, wie ich als notorischer Hetero diese autofiktional-autobiografische, teils poetische, teils obszöne, mehrsprachige Selbstentblößung bewerten sollte. Wäre ich ein Juror gewesen, hätte ich mich an dem Literurwissenschaftler Michael Maar orientiert, der ein Grundlagenwerk über den literarischen Geschmack geschrieben hatte. Er hatte den Autoren, die über Sex schrieben, einen doppelten Rat gegeben: erstes ein wenig Schamhaftigkeit, denn alles haarklein zu beschreiben, töte die Fantasie – und zweitens ein Quentchen Ironie, d. h die Bewahrung einer gewissen. Distanz zum Thema, damit sich Autor und Leser ihre Autonomie gegen Zumutungen des Textes bewahren können. Eine Prise Scham und eine Prise Ironie war also jedem Autor zu empfehlen, der sich dazu entschloss, über Sexualität vom Leder zu ziehen. An diesem Maßstab gemessen, empfand ich manche Stellen, die ich an dieser Stelle nicht zitieren möchte, als als in hohem Maße geschmacklos. Bei allem Verständnis für die Probleme, die ein nicht-binärer Mensch in unserer Gesellschaft zu bewältigen hat, frage ich mich, ob es wirklich sein muss, dass ein solcher Autor seine hochgetunte Sexualität dem Leser derart drastisch und ohne jede Vermittlung um die Ohren schlagen muss. Ich verurteile das nicht, es mag auch seinen Platz in der Literatur haben, aber als beispielgebend oder preiswürdig kann ich es nicht anerkennen.
Nach der Blutbuch-Lektüre brauchte ich erst einmal einen Kaffee und ging in den Hof zu einem Kaffeeausschank. Inzwischen war der Himmel ganz aufgerissen und die Sonne beschien Männer und Frauen, Woke und Normalos, Linke und Rechte, die sich allerdings so geschickt tarnten, das man sie auf Anhieb nicht erkennen konnte. Dabei passierte ich ein kleines Holzhäus´chen, in dem sich der „book-tok“ Stand befand. Dieses Häus´chen war mit vorwiegend jungen Mädchen überfüllt, die ihr eigenes Konterfei nach der Maßgabe unterschiedlicher Vorgaben auf einem großen Display virtuell gestalten konnten. Diese Selbstinszenierung vollzog sich bei book-tok in Beziehung zu einem Buch, meist dem Lieblingsbuch der jungen Mädchen. Es ging also bei book-tok durchaus auch um Bücher, aber nicht primär um deren Inhalt sondern deren Anmutungscharakter zur Selbstinszenierung. Wie ich im book-tok-Hexenhäus´chen erfuhr, gibt es inzwischen richtige book-tok-Prominente, die reihenweise Videos von sich und ihren Lieblingsbüchern erstellen, bei denen sie selbst in der Gestalt einer Romanfigur posiersn. Da sage noch einer, die Jugend hätte an der Literatur kein Interesse.
Auf dem Rückweg vom book-tok-Hexenhäus´chen machte ich beim Arte Pavillon Station. Er stand raumgreifend und unübersehbar wie eine große fliegende Untertasse mitten im Innenhof der Messe. Im Inneren dieser fliegenden Untertasse fanden im schnellen Wechsel Gespräche und Diskussionen zu aktuellen Zeitfragen vor einem Auditorium von etwa einhundert Messebesuchern statt. Die gerade angelaufene Diskussionsrunde bestand aus drei Teilnehmern, die sich über das Thema „Sex und Macht“ unterhielten. Der einzige männliche Teilnehmer an dieser Diskussion war der Anthropologe Carel von Schaik, der ein Buch mit dem Titel „Die Wahrheit über Eva. Die Erfindung der Ungleichheit zwischen Frauen und Männern“ geschrieben hatte, das sogar vom großen Jared Diamond gelobt worden war. Herr von Schaik saß breitbeinig und entspannt auf seinem Stuhl wie auf einem Thron und stellte eine mürrische Miene zur schau, als mache ihm die Wahrheit über Eva keine Freude. Seine Gesprächspartnerin war die Kulturwissenschaftlerin mit Mithu Sanyal, die sich durch ein grundlegendes Werk über die Vulva („Vulva: Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts“) in der Szene einen Namen gemacht hatte. Frau Sanyal hatte ein verschmitztes lokenumrahmtes Gesicht und glich in Auftreten und Kleidung einer heiteren Maharani. Moderiert wurde das Gespräch durch die Journalistin Marita Hübinger, einer bildschönen junge Frau, die ganz in schwarz und in flachen Schuhen auf dem Podium Platz genommen hatte. Marita Hübinger begrüßte die Gäste und begann mit folgender Frage: „Ehe wir beginnen, über Geschlecht und Identität zu reden, möchte ich Sie im Auditorium fragen: Wer ist der Meinung dass über Geschlechteridentität zu viel geredet wird?“ Ohne zu überlegen, meldete ich mich. Da ich in der ersten Reihe saß, drehte ich mich rum und blickte in hundert entsetzte Augenpaare. Donnerwetter, das hatte ich nicht erwartet. Bei der folgenden Frage: „Wer ist der Meinung, dass über Geschlecht und Identität zu wenig geredet wird?“ sah ich mich einem Wald von hochgestreckten Armen gegenüber. Sofort wurde ein Mikrofon herbeigeschafft und mir in die Hand gedrückt, damit ich erkläre, wie ich zu meiner Auffassung käme. „Ich besuche die Buchmesse seit vielen Jahren“, begann ich ein wenig weichgespült „und habe festgestellt dass in den letzten Jahren eine Schwerpunktverlagerung stattgefunden hat. Von Jahr zu Jahr rückt das Thema Geschlecht und Identität mehr in den Mittelpunkt und drängt andere wichtige Fragen wie Einkommens- und Vermögensungleichheit, Klassen- und Schichtunterschiede sowie allgemeine gesellschaftliche Entwicklungstrends in den Hintergrund.“ „Aber diese Gegensätze lassen sich doch alle auf das Problem der Ungleichheit von Mann und Frau zurückführen“, rief Carel von Schaik. „Das ist der Punkt, aus dem alle Probleme erwachsen.“ Das wollte mir keineswegs einleuchten, aber ehe ich etwas antworten konnte, wurde mir das Mikrofon wieder abgenommen, und Carel von Schaik setzte dazu an, die Grundthese seines Buches zu erläutern. Es sei die Tendenz des Menschen zur Kategorisierung, die zur unterschiedlichen Wahrnehmung der Geschlechter geführt habe, erklärte er. Dass der Mann einen Penis und die Frau eine Vagina habe, spiele dabei keine Rolle. Allerdings gab er auf Frau Hübingers Nachfrage zu, dass die gesellschaftliche Ungleichheit von Mann und Frau in der Jäger- und Sammlergesellschaft in der Steinzeit erwachsen sei, in der körperliche Kraft zu sozialer Dominanz geführt habe. Da wir nun aber nicht mehr in der Steinzeit lebten, seien diese überkommenden Rollenzuschreibungen natürlich hinfällig. „Aber ist das wirklich so?“ insistierte die schöne Moderatorin. „Ist es denn nicht vielmehr so, dass im Augenblick im Ukrainekrieg die Männer kämpfen und die Frauen und Kinder das Land verlassen?“ „Ja, aber nur weil die Männer das Land nicht verlassen dürfen und kämpfen müssen“, warf die Vulva- Forscherin ein. Danach drehte sich das Gespräch etwas unvermittelt um die Aussagefähigkeit des Mensch-Tier Vergleiches, von dem beide Diskutanten nicht viel hielten, wenngleich es Frau Sanyal bemerkenswert fand, dass bei den Bonobos gesellschaftliche Konflikte durch Massenbeischlaf behoben würden. Herr von Schaik griff das Thema Krieg wieder auf und behauptete, dass der Krieg mittlerweile so mechanisiert sei, dass auch Frauen per Knopfdruck eine Rakete starten könnten. Sofort stand die Frage im Raum, ob denn Frauen so etwas überhaupt tun, und ob nicht eine Welt in der die Frauen eine größere Rolle spielen würden, eine friedlichere Welt sei. Zu meiner Überraschung war Frau Sanyal in dieser Hinsicht skeptisch. „Frauen sind keineswegs die besseren Menschen“ rief sie, wobei ich ihr in Erinnerung an meine Scheidung nur zustimmen konnte. Und: “Männer sind auch Menschen“, was mir ebenfalls gut gefiel. Schnell zeigte sich, dass es keinerlei Dissens zwischen den Gesprächspartnern gab. Im Gegenteil: der Anthropologe und die Vulva-Forscherin trällerten wie bei einem a Capella Gesang die gleiche Melodie nur in unterschiedlichen Tonlagen vor sich hin. „Wir müssen wegkommen von der sogenannten Patrix, einem Bild der Welt, bei dem der Mann die Norm ist“, meinte Herr von Schaik in der ihm eigenen Breitbeinigkeit. Da konnte Frau Sanyal mit übergeschlagenen Beinen nur zustimmen und erzählte, dass ihr Sohn im Kindergarten dadurch aufgefallen sei, dass er nicht „raufen“ sondern „reden“ wollte, was den Kindergärtnerinnen, die der „Patrixs“ verpflichtet waren merkwürdig vorgekommen sei. Einigkeit herrschte auch im Hinblick auf das Feindbild. Wer aus biologischen Unterschieden auf unterschiedliches Verhalten schließe, sei ein ganz einfach ein „Rechter“, urteilte Frau Sanyal. „Das sind ängstliche Menschen, die Veränderungen fürchten“, bekräftigte Herr von Schaik. Ein Schüler meldete sich sagte, er kenne so viele nette Menschen, die trotz aller wissenschaftlichen Gegenbeweise fest daran glaubten dass Männer und Frauen völlig unterschiedlich sein. „Ja, was machen wir denn mit denen?“ fragte er. Darauf wusste Frau Sanyal auch keine bündige Antwort, verwies aber darauf, dass sich Dinge in die richtige Richtung entwickelten und dass man einfach abwarten müsse. „Ja, stimmt“ fügte Herr von Schaik hinzu. „Wir befinden uns bereits im Post-Patriarchat, und die Aussichten für eine völlige Gleichberechtigung der Geschlechter, so viele es auch sein mögen, sind gut.“ Mit diesem optimistischen Fazit endete die Diskussion, nicht ohne, dass mir der ein oder anderen Zuhörer einen kritischen Blick zuwarf, als ich das ARTE Raumschiff verließ.
Als ich vor vielen Jahren meine kaufmännische Lehre bei den Ford Werken in Köln absolvierte, hatte ich entdeckt, dass man von der Telefonstimme eines Angestellten auf keinen Fall auf seine Erscheinung schließen konnte. Oft hatte ich feststellen müssen, dass zu einer piepsigen Stimme ein wuchtiger Körper gehörte und umgekehrt. Ganz ähnlich verhält es sich bei Autoren und Journalisten. Sie sehen oft ganz anders aus, als man sie sich nach ihren Texten vorgestellt hätte. So verhielt es sich jedenfalls bei Lukas Bärfuß, einem schweizer Autor, von dem ich bereits das Buch „Koala“ gelesen hatte. Bärfuß sah kraftvoll und rüstig wie ein Cowboy aus, erschien bärtig und lockig in Jeans und Weste und schwang sich auf den Hocker wie auf sein Pferd. Seine Gesprächspartnerin war die FAZ Jounalistin Sandra Kegel, eine attraktive, alterslos wirkende Erscheinung, die sich genauso schwerelos wie Herr Bärfuß auf ihren Hocker schwang. Sie war hübsch auf eine mädchenhafte Art und verstand es, ihren schönen Kopf dem wilden Schädel des Bärfuß so nahe zu bringen, das das Bild eines intimen Zwiegespräches entstand und dabei noch so laut zu sprechen, dass alle sie verstanden. Frau Kegel begrüßte die Besucher und stellte Herrn Bärfuß als Büchnerpreisträger und einen der führenden Dramatiker auf den deutschsprachigen Bühnen vor. Herr Bärfuß hörte es mit unbewegter Miene und blickte über die Köpfe der Zuhörer hinweg in eine unbestimmte Ferne. „Nun haben sie ein neues Buch veröffentlicht“, fuhr Frau Kegel fort und blickte ihrem Gesprächspartner frontal in sein männliches Gesicht. „Es trägt den Titel Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben. Was hat es damit auf sich?“ Herr Bärfuß antwortete mit einer Stimme, die zu seinem Körper passte, einem dunklen, leicht schweizerisch eingefärbten Deutsch und beschrieb zunächst Vaters Kiste. Sie sei das einzige gewesen, was ihm sein Vater außer Schulden hinterlassen hatte. In dieser Kiste, die Jahrzehntelang unbeachtet auf dem Speicher gestanden hatte, befanden sich die kümmerlichen Überreste der gescheiterten Vaterexistenz, vorwiegend Schriftverkehr mit Behörden, Mahnungen und Klageschriften. Das erinnerte den jungen Bärfuß an seine eigene Jugend, die nicht weniger gefährdet gewesen sei wie die Existenz seines Vaters. Auch er habe auf der Straße gelebt, und es hätte nicht viel gefehlt, dass er kriminell geworden wäre. Frau Kegel riss moderat die Augen auf und neigte sich noch ein wenig mehr ihrem Gegenüber zu, als sei er ein geständiger Fürsorgezögling, der Trost benötige. „Aber offenbar ist es ihnen gelungen, einen anderen Weg zu gehen. Und zwar mit Hilfe der Literatur. Wollen Sie uns dazu etwas sagen?“ flötete sie. „Ja, das stimmt“, antwortete Herr Bärfuß. „Ich entdeckte in der Welt der Literatur einen anderen, besseren Weg für mich.“ Das interessierte mich, und ich fragte mich, welches Buch oder Begegnung sein Leben verändert hatte. Aber leider wurde dieser biografische Aspekt nicht vertieft. Stattdessen kam Frau Kegel auf das Buch zurück und bemerkte, dass es aus zwei sehr disparaten Teilen bestehe, aus der Geschichte von der Kiste einerseits und einer fast schon rechtswissenschaftlichen Abhandlung über das Erben andererseits. Das habe sie verwundert. Herr Bärfuß ging über diese Verwunderung und den Strukturbruch in seinem Buch souverän hinweg und begann gleich über das Erben als solches zu sprechen. Das Erbrecht sei ein sehr junges, kaum einhundert Jahre altes Rechtsgebiet, einfach, weil inzwischen ein Massenwohlstand entstanden sei, den es früher noch nicht gegeben habe. Dann brachte er etwas überraschend den „Müll“ ins Spiel, der das sei, was sich die Generationen vererbten und das in immer größerem Umfang. Je reicher jemand sei, desto mehr Müll produziere er, präzisierte Herr Bärfuß, was bedeute, dass er die gesellschaftlichen Ressourcen in besonderer Weise beansprucht habe, so dass sein Erbe eigentlich der Gemeinschaft zustände, die ja auch für seinen Müll aufkäme. Frau Kegel schaute Herrn Bärfuß an, als könne sie nicht glauben, was sie gerade gehört hatte. „Sie vertreten einen sehr radikalen Standpunkt“, begann sie zögerlich. „Was sagt denn ihre Tochter dazu? Was wollen sie denn ihr vererben?“ „Ihr vererbe ich das Wichtigste, was es gibt: Liebe und Zusammengehörigkeitsgefühl“, antwortete Lucas Bärfuß und schaute wieder über die Köpfe seiner überraschten Zuhörer hinweg. Damit war das Gespräch zu Ende. Frau Kegel und Herr Bärfuß schwangen sich von ihren Hockern und entschwanden.
Inzwischen war es am Stand etwas voller geworden, weil das Interview mit der Umweltaktivistin Luisa Neubauer anstand. Die attraktive Luisa war bereits eingetroffen und wartete auf den nächsten Moderator. Von ihr ging etwas Huldvolles aus, eine Aura der Reinheit und der Schönheit, die für viele ihrer Anhänger vielleicht der Hauptgrund dafür war, ihr zu folgen. Trotzdem verließ ich den Stand, denn ich hatte Luisa Neubauer bereits im letzten Jahr gehört und glaubte nicht, dass sie etwas Neues zu sagen hatte. Doch der Gedanke ließ mich nicht los. Wie hingen Schönheit und Wahrheit zusammen? Wie verschmolzen sie in unserer Wahrnehmung? Und galt das auch umgekehrt? Enthüllte sich die Unwahrheit in der Hässlichkeit? Ernst Jünger hatte Ähnliches bei einer Betrachtung über die Physiognomien der nationalsozialistischen Elite geäußert.Interessanterweise ging es am Stand der „Jungen Freiheit“ um ein ähnliches Thema. Warum war es AfD in Deutschland unmöglich, sich aus der Stigmatisierungsfalle, in die sie die etablierte politische Klasse einzementiert hatte, zu befreien, während es der VOX Partei in Spanien gelungen war? fragte der Interviewer. „Das hat nicht zuletzt auch optische Gründe“, meinte der Spanienkenner Jörg Sobolewski. „Die Parteiführer der VOX sehen einfach sehr gut aus, sie kommen im Fernsehen extrem telegen rüber, das nimmt die Leute für sie ein. Wer schöne Menschen übertrieben angiftet, setzt sich selbst ins Unrecht.“. War das richtig? War die Linke in Deutschland deswegen so erfolgreich, weil ihre Vertreter schöner waren? Das könnte ich mir angesichts von Martin Schulz, Claudia Roth oder Ricarda Lang nicht wirklich vorstellen. Und war die AfD so wenig erfolgreich, weil ihre Vertreter so hässlich waren? Hässlich fand ich sie nicht, aber sie sahen auch nicht besonders gut aus, jedenfalls bei weitem nicht so gut wie Frauke Petry. Darüber musste ich weiter nachdenken.
Wie es der Zufall wollte, verschlug es mich in Halle 1 in das gigantische Forum der ARD. Über die Ausmaße dieser kathedralenartigen Halle hatte ich mich schon im letzten Jahr gewundert. Hunderte Zuhörer saßen in dutzenden Reihen und auf Brüstungen vor einer Bühne, deren Akteure noch einmal links und rechts auf großen Bildschirmen abgefilmt wurden, so dass die Diskussionen bis in die letzten Winkel der Riesenhalle zu verfolgen waren. Auf der Bühne sprach der Journalist Peter Gerhardt mit Michel Friedman über dessen neues Buch „Fremd“. Soweit ich die darstellenden Passagen richtig verstanden habe, handelte es sich bei dem vorliegenden Buch um eine Art Lebensrücblick. Michel Friedman, der einen Großteil seiner Verwandtschaft durch nationalsozialistische Morde verloren hatte, war nach dem Zweiten Weltkrieg in zunächst sehr einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Das Gespräch zeigte einen ganz anderen Friedman, als man ihn sonst von seinen Fernsehauftritten her kannte: in leisen Tönen schilderte er seine Kindheit und zahlreiche Ausgrenzungserfahrungen. Manchmal schwieg er einige Sekunden und blickte ins Leere, als könne er gar nicht begreifen, wie er eine so schwere Kindheit gemeistert hatte. Obwohl er strenge Eltern gehabt hatte, bewahrte er ihnen ein rührenden Angedenken, was den Moderator zu der Anmerkung veranlasste, dass die Zartheit dieser Gefühle jeden erstaunen müsse, der die Friedmansche Härte aus seinen öffentlichen Auftritten kannte. Das wollte Michel Friedman so nicht stehen lassen. Er sei nicht hart, sondern präzise, widersprach er, er wolle einfach verstehen, was Sache sei und lasse sich nicht mit dummen Antworten abspeisen. Nicht jeder, der die extrem aggressive Gesprächsführung Friedmans kannte, würde ihm das abnehmen. Auch das hohe moralische Podest, von dem aus Friedman herabargumentierte, wunderte viele, die an seine Verwicklung in einen Rauschgiftskandal mit ukrainischen Zwangsprostituierten dachten. Ich hatte Michel Friedman immer kritisch gesehen, begann aber bei diesem Gespräch zu verstehen, dass er ein zutiefst verletzter Mensch war, der Teile seiner Verletzungen als rhetorische Aggressivität nach außen wendete. Nun war er älter geworden und es wäre ihm zu wünschen, dass er seinen Frieden mit sich selbst, aber auch mit denen machte, die anderer Auffassung waren als er selbst.
Inzwischen war die Dämmerung angebrochen, und ehe ich die Buchmesse verließ, wollte ich noch einen Kaffee trinken. Im Innenhof der Messe kam ich mit zwei Ausstellern ins Gespräch, einem Vater und seiner Tochter, die sich einen winzigen Stellaaltz in Halle 3.1. gemietet hatten und die nun Feierabend machten. Das erste, was mir an ihnen auffiel, war das innige Verhältnis der beiden. Wenn ich jemals eine Tochter gesehen hatte, der die Liebe zu ihrem Vater aus allen Poren quoll, dann hier. Dieser Vater war auch tatsächlich eine liebenswerte, wenngleich eine etwas eigene Person. Sein Name war Hans Laufenberg, er war vielleicht einige Jahre jünger als ich, kam aus Berlin und war ganz durchdrungen von dem Buch, das er gerade erst im Selbstverlag veröffentlicht hatte. In diesem Buch, so behauptete er, habe er die Einstein´sche Relativitätstheorie widerlegt. Es trug den Titel „Wissenschaft. Die neue Religion. Theorie sucht Praxis.“ „Die Einstein´sche Relativitätstheorie habe ich noch nie verstanden“, gab ich zurück, „dafür fehlen mir die mathematischen Kenntnisse.“ „Die brauchen sie auch nicht“, gab Herr Laufenberg zurück. „Mathematik ist völlig unnötig, im Gegenteil: sie ist sogar das Problem. Mit der Mathematik verhexen die Wissenschaftler die Menschen und gaukeln ihnen eine Relativität vor, die gar nicht besteht. Was für ein Quatsch, dass Raumfahrer, die mit Überlichtgeschwindigkeit durch das All reisen, jünger wieder zurückkehren, als sie gestartet sind. Das kann doch gar nicht stimmen.“ „Wahrscheinlich sehen sie nach den Strapazen ihrer Reise sogar viel älter aus“, pflichtete ich ihm bei. „Glauben Sie mir“, sagte Herr Laufenberg. „Ich bin Handwerker, ich weiß, wovon ich rede.“ Liebevoll ruhte der Blick der Tochter auf dem Vater, was sie wirklich dachte, behielt sie für sich. Ich hörte zu und wusste nicht, was ich denken sollte. Ein Mensch versucht die Welt zu begreifen, und entwickelt für Sachverhalte, die er nicht versteht eine alternative Erklärung. Das hatte seine eigene Würde, auch wenn die Komplexität seiner Erklärung zu wünschen übrig ließ. Herr Laufenberg nahm mir meine Zweifel nicht übel und schenkte mir sein kleines Werk zum Abschied. In ihm las ich auf der letzten Seite folgende Sentenz: “Dass wir alle bekloppt sind, scheint wohl außer Frage zu stehen. Deswegen muss die Frage lauten: sind wir ein angenehmer oder ein unangenehmer Bekloppter?“ Das war eine gute Frage, die sogar zu dieser Buchmesse passte.