Freitag, 16. Oktober 2015: Keine Grenzen, nirgends
Nirgendwo kann man so ungehindert am Puls des Zeitgeistes fühlen wie auf der Frankfurter Buchmesse. Fast eine Woche lang geben sich hier die großen Zeitungen, Verlage, Meinungsmacher und Journalisten ein Stelldichein, um das von ihnen geschaffene Bild der Welt noch einmal kräftig nachzumalen. Aber handelt es sich dabei auch um ein angemessenes Bild der Welt? Oder um ein Kunstprodukt, das sich selbst mit der Wirklichkeit verwechselt? Erlebt man auf der Buchmesse in unzähligen Varianten nur die ewige Wiederkehr des Gleichen, oder garantiert allein die Anwesenheit Hunderter unabhängiger Verlage Pluralität und Meinungsvielfalt? Ich wollte es wissen und fuhr hin.
Dass ich eine Veranstaltung von höchster Wichtigkeit besuchte, war schon an den Preisen in den Parkhäusern und den Garderoben erkennbar. Doch ich wollte nicht meckern, denn alleine der Anblick so vieler passionierter Leser stimmte mich froh. In der Halle 3.1, dem Zentrum des Geschehens, empfing mich ein Stimmengewirr wie auf einem orientalischen Bazar, was mit ein schönes Bild zu sein schien, denn wie auf einem orientalischen Bazar wollte ich versuchen, neuen, interessanten und faszinierenden Geschichten auf die Spur zu kommen. Einen besonderen Plan hatte ich nicht, ich ging einfach drauflos, stoppte, wo mir etwas interessant erschien und ging weiter, wenn es langweilig wurde.
Mein erster Anlaufpunkt war der monumentale Stand der ZEIT gleich am Eingang der Halle, eine Eckkonstruktion mit Bar, einem Stehpodium und moderner Kaffeehauseinrichtung. Zwei Damen saßen sich vor Publikum auf Hockern gegenüber, eine asketische, sehr entschieden akzentuierende Journalistin und die Autorin Jenny Erpenbeck, von der ich bereits „Alle Tage Abend“ gelesen hatte. Diesmal ging es um ihr neues Buch „Gehen, ging, gegangen“, in dem ein älterer Berliner Geisteswissenschaftler sich dazu entschließt, notleidenden afrikanischen Flüchtlingen in Berlin zu helfen. Es war das hyperaktuelle Buch zur gegenwärtigen Flüchtlingskrise, auch wenn es den Deutschen Buchpreis, für den Jennny Erpenbeck als Favoritin gehandelt worden war, nicht gewonnen hatte. Das konnte die Moderatorin überhaupt nicht verstehen, denn sie rühmte das emphatische Einfühlungsvermögen der Autorin, lobte die Recherche vor Ort und schimpfte auf die aktuellen Bestrebungen der Politik, die gegenwärtige Masseneinwnaderung mit Transitzonen unter Kontrolle zu bringen. Erpenbeck sagte dazu nichts und schien auf die nächste Frage zu ihrem Buch zu warten, die aber nicht kam, weil die Moderatorin sich in Rage geredet hatte und noch einen draufsetzte: „Was sind denn Transitzonen anderes als Lager?“ fragte sie, weniger zu Jenny Erpenbeck als zum Publikum gewendet. „Lager, Lager, schon wieder Lager“, rief sie aus. „Dieser Begriff sollte aus dem deutschen Vokabular gestrichen werden“. Ich hatte einige Rezensionen über Erpenbecks Buch gelesen, nicht nur die Jubelrezensionen des ZeitFazWeltSzSpiegel-Rezensionskartells, sondern auch die Netz-Rezensionen, die im Gesamttenor bei der Beurteilung eines Buches fast immer richtiger liegen als die beruflich verbandelten Literaturversteher. Dort war neben hohem Lob für Erpenbecks Sprache und Einfühlungsvermögen Unverständnis darüber geäußert worden, dass in ihrem Buch keinerlei Kehrseiten der Einwanderung thematisiert würden. „Wann schreibt endlich mal jemand einen Roman über einen Deutschen Rentner, der mit Flüchtlingen um knappen Wohnraum konkurrieren muss?“ hatte einer der Rezensenten gefragt. Ich überlegte, ob eine solche Frage in diesem Rahmen opportun wäre, doch das Gespräch war schon zu Ende, und Fragen des Publikums waren nicht vorgesehen.
Gleich um die Ecke stieß ich auf eine laufende Diskussionsveranstaltung des Deutschlandfunks. Der Jungautor Christoph Giesa wurde zu seinem Buch „Gefährliche Bürger. Die neue Rechte greift nach der Mitte“befragt. Das Strickmuster dieses Buches bestand darin, vom Mainstream abweichende Journalisten von Focus und Cicero über die Junge Freiheit, sodann Akteure von der CSU, der AfD bis zur NPD in einen Sack zu stecken und völlig recherchefrei darauf einzudreschen. „Gefährliche Bürger“ war also genau wie Erpenbecks Roman ein Buch der Stunde. Aber im Unterschied zu Erpenbecks Roman, der wenigstens den Medien gut wegkam, war Giesas Arbeit so dürftig und fehlerhaft ausgefallen, dass selbst der Beifall aus dem eigenen Lager ausgeblieben war. Patrick Bahners, aller konservativen Neigungen völlig unverdächtig, hatte sich in der FAZ über die Ahnungslosigkeit der beiden Jung-Autoren gewundert (Die Co-Autorin von „Gefährliche Bürger“ war Liane Bednarz), und sogar linke Extremismusforscher, die an sich mit dem Anliegen des Buches übereinstimmten, hatten auf zahlreiche sachliche Fehler hingewiesen. Auch Giesas Denunziation des islamkritischen Klonovkys inklusive der Aufforderung an den FOCUS, den missliebigen Kollegen rausszuschmeißen, war ein Schuss in den Ofen gewesen. Trotzdem saß Christoph Giesa mit schicker Jeans, hellem Hemd und braunen Schuhen adrett gestylt der Moderatorin gegenüber und erledigte seinen Verkündigungsjob wie ein Laienschauspieler in einer RTL Soap. Nein, anders als die rechten Stimmungsmacher behaupteten, sei die Meinungsfreiheit in Deutschland nicht gefährdet, erklärte er. Alle Stimmen würden gehört, aber manche Stimmen sollten kein Gehör, erhalten, denn sie würden ja eben von „gefährlichen Bürgern“ geäußert. Wie diese Schlussfolgerung mit der Eingangsthese von der Meinungsfreiheit zusammen passte, blieb den Zuhörern allerdings ein Rätsel. Aber das war auch egal, denn die Konsequenz, mit der hier ein junger Mann sein Geschäftsmodell vertrat, nötigte fast wieder Achtung ab: als Blockwart der political correctness auf dem kürzesten Weg vom linken Asta gleich zum Hanser Verlag und zur Buchmesse.
Ich schlenderte weiter, passierte den Stand der Frankfurter Allgemeinen und stieß am Stand des Schulbuchverlages Julius Beltz auf eine Diskussionsveranstaltung zum Thema „Inklusion in der Schule“. Der Sozialpädagoge und Inklusionsverfechter Hans Wocken diskutierte mit einer Moderatorin über die Möglichkeiten, Chancen und Grenzen der Inklusion geistig und körperlich behinderter Kinder in den normalen Schulbetrieb. Grenzen für die Inklusion schien es aber nach Wockens Meinung nicht zu geben, denn als ein Vater in besorgtem Ton fragte, ob denn die Integration geistig behinderter Kindern nicht eine Überforderung des Kindes, der Lehrer und der normalen Lerngruppe darstellte, antwortete der Sozialpädagoge wörtlich: “Nein, das ist keine Überforderung, wenn man es richtig macht. Bei der Inklusion gibt es keine Grenze nach unten.“ War es ein Zufall, dass mir bei dieser Formulierung das Wort von Bundeskanzlerin Angela Merkel einfiel, bei der Aufnahme von Asylsuchenden gäbe es keine Obergrenze? Keine Grenze, nirgends. Nach unten im schulischen Lernniveau: keine Grenze. Nach oben bei der Zuwanderung: keine Grenze. Der Zeitgeist hatte es offenbar nicht so mit Grenzen, gleich welcher Art.
Wie gesagt, es war viel los auf der Buchmesse, wenngleich es mir so vorkam, als sei von Seiten der Besucher Widerspruch nicht angesagt. Das war anders am Stand von Droemer-Knaur, an dem ich zunächst kaum etwas sehen und mich erst nach einiger Zeit durch das Gewühl durcharbeiten konnte. Hamid Abdel Samad, der zum Christentum konvertierte deutsch-ägyptische Islamkritiker, hatte gerade seine Lesung beendet und beantwortete Fragen aus dem Publikum. Hamid Abdel Samad hatte die Öffentlichkeit in letzter Zeit mit der Gleichsetzung des „Islamischen Staates“ mit den heiligen Kriegen des siebten und achten Jahrhunderts schockiert. So wie der IS heute mordend und vergewaltigend durch Syrien und den Irak zöge, seien auch die Wüstenkrieger der ersten moslemischen Kalifen über ihre hochzivilisierten Nachbarn Persien und Byzanz hergefallen. Und die Zusammenstellung blutrünstiger Koran-Suren und noch schockierender Mohammed-Hadhite, die Abdel Samad bot, waren tatsächlich haarsträubend. Der unscheinbare und freundlich dreinblickende Mann, der diese unbequemen Thesen vom „islamischen Faschismus“ mit beachtlichem Leserzuspruch verfocht, war auf der Buchmesse von einem halben Dutzend Sicherheitsbeamter umgeben, die die Zuschauermenge genau im Auge behielten, denn aus islamistischen Kreisen lagen ernsthafte Morddrohungen gegen den Autor vor. Aber nicht die islamistischen Todesdrohungen gegen den Autor waren das Thema der meisten Fragen, sondern besorgte Erkundigungen darüber, ob er, der Autor, denn nicht Angst habe, mit seinen Thesen Leuten Argumentationshilfen zu geben, die Gewalt gegen Flüchtlingsheime anwendeten? Nein, antwortete Abdel Samad, das habe er nicht, denn er könne nichts dafür, wenn einige seiner Leser „wahnsinnig“ seien. Er rufe gerade nicht zur Gewalt auf, sondern zum Widerstand gegen eine gewalttätige Religion. Wenn es jemand gäbe, der Gewalt fürchten müsse, dann er und das von der sogenannten „Religion des Friedens“. Abdel Samad aber muss übrigens nicht nur Gewalt von islamistischen Mördern fürchten sondern auch Kritik linker Multiplikatoren. Josef Augstein hatte noch unlängst in seinem Verlautbarungsorgan „Der Freitag“ versucht, Abdel Samads Thesen als unwissenschaftlich abzutun, weil er bei seiner Islamkritik nicht zwischen Salafisten, Muslimbrüdern und Wahhabiten unterscheide sondern alles in einem Topf werfe. Merkwürdig, diese Linke: vom Gegner verlangt sie feinste Differenzierungen, wenn eigene Positionen diskutiert werden – den Gegner selbst aber konnte man guten Gewissens und ohne jede Differenzierung in der fremdenfeindlichen Rechts-Tonne entsorgen.
Aber wir wollen gerecht sein. Auch innerhalb des herrschenden Literaturbetriebes existieren ausgewogene Stimmen der Toleranz und der Verständigung. Eine solche Erscheinung stellt der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani dar, der im Augenblick innerhalb der deutschen Literaturszene einen unglaublichen Lauf hat. Nicht nur, dass er zum Tag der deutschen Einheit eine Rede im Deutschen Bundestag halten durfte, nicht nur, dass er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten hat, er ist überall ein gern gesehener Gast, als Interviewer wie als Interviewter als Moderator oder als Leser seiner eigenen Werke. Ohne Navid Kermani zu nahe treten zu wollen, liegt das wahrscheinlich daran, dass Kermani viele Widersprüche der gegenwärtigen Literaturszene in seiner Person zur Deckung bringt. Er besitzt eine Migrantenherkunft, ist aber integriert, er ist Moslem, aber tolerant, er ist links, aber nicht so links, dass er nicht auch CDUkompatibel wäre. Gäbe es nur moslemische Kermanis, dann würde der Islam tatsächlich zu Deutschland gehören, und wir könnten gar nicht genug von Seinesgleichen bekommen. An diesem Tag moderierte Navid Kermani eine Diskussion mit iranischen Autoren, die mit beachtlichem technischem Aufwand dem Publikum vermittelt wurde. Gegen Abgabe eines Pfandes oder seines Ausweises erhielt jeder Interessierte einen Kopfhörer, mit dem er dem Gespräch per Simultandolmetscher folgen konnte. Soweit ich das Gespräch verstand, drehte es sich um die emanzipatorische Kraft des Internets. Einerseits, so die These, erlaube das Internet – und hier insbesondere das EBook – die Verbreitung freiheitlicher Gedanken an der Zensur vorbei, andererseits befördere es die Umsonst-Mentalität, die auf lange Sicht dem Schriftsteller die Existenzgrundlage raube. Kermani moderierte nicht unbedingt besonders professionell. Er stockte oft, unterbrach sich selbst und setzte neu an, aber immer in der Absicht, das, was der Gesprächspartner sagte, auch richtig zu verstehen.
Einen Profi reinsten Wassers lernte ich kennen, als ich zum Stand des Deutschlandfunks zurückkehrte, wo Dennis Scheck gerade seine Hörfunksendung „Life von der Buchmesse“ moderierte. Seine Gäste waren Christian Döring, der Herausgeber der von Hans Magnus Enzensberger begründeten Reihe „Die Andere Bibliothek“ und die Literaturwissenschaftler Heiner Boehnke und Hans Sarkowcz.Zunächst berauschten sich die Herren an der bibliophilen Qualität der „Anderen Bibliothek“, vor allen an den ersten 144 Bänden, die noch im Bleisatz gesetzt worden waren, was ein „Fühlen“ des Buches ermöglicht habe. Man erzählte sich gegenseitig von seinen „schönsten Büchern“, wobei „schön“ sich nicht auf den Inhalt sondern auf die Aufmachung vollzog. Der Hit in dieser imaginären Liste der schönsten Bücher war ein Buch mit einem fluoreszierenden Buchrücken, das den Leser, sollte er es auf dem Nachttisch liegen haben und nachts aufwachen, sofort verzaubere. Leider habe der Kostendruck die Herausgeber der Anderen Bibliothek ab dem 145. Band zum Off-Set-Druck gezwungen, worunter die literarische Qualität des Bücherinhalts aber nicht gelitten habe, denn, so Christian Döring: „Wir drucken nur Bücher, die wir auch selbst gerne lesen.“ Ein Riesengeschäft sei die Andere Bibliothek aber nicht, gab der Herausgeber zu, denn von den 9,5 Milliarden Euro, die der deutsche Buchmarkt pro Jahr umsetze, entfallen auf die Andere Bibliothek gerade mal 1,5 Millionen. Erst wenn man 2.300 Exemplare einer Ausgabe verkauft habe, komme man ins Geld, fügte er etwas resigniert hinzu. Wahrscheinlich noch erlesener als die Einzelexemplare der „Anderen Bibliothek“ war das monumentale Werk „Die Lebenserinnerungen des Malerbruders Emil Ludwig Grimm“, das unter der Ägide von Heiner Boehncke und Hans Sarkowcz herausgegeben wurde. Die Zuschauer erfuhren, dass es eben nicht nur zwei Gebrüder Grimm gegeben hatte, sondern deren drei, wobei der dritte –Emil Ludwig – der mit Abstand unbekannteste, jüngste, aber künstlerisch begabteste gewesen sei. Emil Ludwig Grimm (1790-1863) sei ganz zu Unrecht vergessen, denn nicht zuletzt seine genialen Zeichnungen waren es gewesen, die als Illustrationen die Märchen seiner beiden Brüder, die vorher wie Blei in den Buchläden gelegen hatten, zu Verkaufsschlagern werden ließen. Während des Gespräches blätterte Scheck in dem voluminösen Buch und zeigte dem Publikum ganzseitige Katzen- und Hundezeichnungen, die allgemein gefielen. Das Gespräch endete damit, dass Scheck seine drei Gesprächspartner nach ihren besonderen Buchempfehlungen „für unsere Hörer“ fragte. Christian Döring empfahl den Lesern sein eigenes Buch, war aber bescheiden genug, den Titel nicht zu nennen. Sodann wurde das Buch von Michael Ossorgin „Eine Straße in Moskau genannt“ (Andere Bibliothek, Bd. 368), schließlich lobte Hans Sarkowcz das neue Buch von Jochen Schmidt als extrem unterhaltsame Darstellung der DDR-Lebenswelt. Als ich nach dem Ende des Gespräches Herrn Sarkowcz nach dem Titel seiner Leseempfehlung fragte, konnte er den Titel nicht nennen, versicherte mir aber, dass es sich um ein ganz außerordentliches Buch handele. Aha, dachte ich, so lesen also unsere Literaturgiganten. (Nachtrag: Der Titel des fraglichen Buches von Jochen Schmidt lautet „Der Wächter von Pankow“).
Immerfort kreisend lief ich weiter durch die Gänge, sah Messegäste plaudern, futtern, trinken, lesen und zuhören wie in einem unendlichen Animationsuniversum. Manche Messestände waren überfüllt mit Besuchern, andere waren bis auf eine Angestellte, die die Stellung hielt, völlig verwaist. An einem Kochstand wurde ein indonesisches Nasi Goreng zubereitet, denn immerhin war Indonesien das Gastland der Buchmesse in diesem Jahr, wovon ich aber noch nicht wirklich etwas mitbekommen hatte.
Am Ende meiner ersten Runde durch die Halle 3.1. landete ich wieder am monumentalen Stand der ZEIT und wurde Zeuge des Auftritts der Schriftstellerin Monique Schwitters. Im Unterschied zu Frau Erpenbeck hielt sich der Andrang der Zuhörer diesmal in Grenzen, obwohl das neueste Buch von Frau Schwitters „Eins im anderen“ es ebenfalls auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hatte. Gewonnen hatte den Preis übrigens das Buch „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ von Frank Witzel. Frau Schwitters war eine sympathische, gut aussehende Frau in den Vierzigern. Ihre leicht rotblonden Haare fielen ihr glatt auf die Schulter, sie trug eine eng sitzende gepunktete Hose und einen dunklen Pulli. Der Moderator Alexander Camman sah dagegen aus wie ein strenger Oberstudienrat, er war mittelgroß und dunkelhaarig, trug einen Bart, einen eng sitzenden blauen Anzug mit offenem Hemd und einen mächtigen braunen Gürtel um die gut genährte Hüfte. Wie es der Zufall wollte, hatte ich das Buch „Eins im anderen“ kurz vor meinem Besuch auf der Buchmesse gelesen, nicht freiwillig sondern im Rahmen der Pflichtlektüre unseres Lesekreises. Maßgeblich für die Wahl dieses Buches durch unseren Lesekreis war die hymnische Besprechung eben jenes Alexander Cammans gewesen, der nun vor mir saß und der in der ZEIT behauptet hatte, dass Monique Schwitters Buch „neue Facetten der Liebe“ enthülle. Nichts davon hatte ich in dem Buch entdeckt, was aber auch an mir liegen konnte, weswegen ich entschlossen war, dem Gespräch zwischen Frau Schwitters und Herrn Camman aufmerksam zu folgen. Alexander Camman begann mit einer kurzen Vorstellung des Buchinhaltes. „Eins im anderen“ sei die Geschichte einer etwa vierzigjährigen Frau, der bei dem Versuch, ein neues Buch zu schreiben, ihre verflossenen Geliebten einfallen würden und die daraufhin beschließt, dem Schicksal dieser Geliebten nachzuspüren beziehungsweise der Erinnerung an diese Geliebten freien Raum zu geben. Aha, dachte ich. So entstehen also die Roman-Plots unserer Gegenwartsautoren. Interessant wäre, so Camman weitter dass diese Geliebten alle die Namen von Aposteln trügen, worauf man aber noch zu sprechen kommen werde. Diese Recherche in der Vergangenheit, so Camman weiter, würde durch eine zweite Handlungsebene, nämlich die Gegenwart der Protagonistin, ergänzt. Verbunden würden beide Ebenen durch das eine große Thema des Buches: die Liebe, was Herrn Camman zu der einleitenden und etwas abrupten Frage veranlasste, ob denn Liebe heute noch möglich sei. Als er in das etwas überraschte Gesicht von Frau Schwitters blickte, präzisierte er seine Frage dahingehend, ob man denn nicht heute Angst haben müsse, über die Liebe zu schreiben, was genau genommen eigentlich eine neue Frage war. Frau Schwitters beantwortete aber weder die erste noch die zweite Frage sondern begann über ihr letztes Buch „Goldfischgedächtnis“ zu reflektieren, in dem es um „Erinnern und Vergessen“ gegangen sei, und mit Erinnern und Vergessen habe auch ihr neues Buch zu tun. Es ginge um die Liebe, die sich im Medium von Erinnern und Vergessen verändere. „Veränderung ist gut“, rief Herr Camman, der nun wissen wollte, wie sich denn die Liebe im Zeitalter der Digitalisierung verändert habe. Darauf wollte Frau Schwitters keine bündige Antwort geben, sie interessiere vielmehr, wie sich das Schreiben über die Liebe verändere, oder besser gesagt, welche Veränderungen sich bei ihr ergäben, wenn sie schriebe. Ja, welche das denn wären, fragte Herr Camman.Wenn sie schriebe, antwortete Frau Schwitters mit dem Selbstbewusstsein einer erfolgreichen Autorin, dann schriebe sie niemals einfach drauf los, weil ihr Formbewusstsein viel zu ausgeprägt sei. Sie habe nämlich die Erfahrung gemacht, dass man zuerst eine formale Idee entwickeln müsse, ehe man die Geschichte erzähle, oder noch genauer: dass die Geschichte, die man möglicherweise in sich trage, sich erst dann entwickle, wenn sie sich der Form anpasse. Manchmal sei die Form auch eine Hürde für ihre Geschichte, aber meistens zu ihrem Besten. „Was uns zu der besonderen Form bringt, in der Sie ihre Liebesgeschichte erzählen“, hakte Herr Camman ein. „Sie geben ihren Geliebten die Namen von Aposteln. Wie kamen sie darauf?“ Diese Frage interessierte mich auch, denn ich hatte bei der Lektüre des Schwitters-Buches keinerlei Mehrwert feststellen können, der sich durch die Apostelanalogie ergeben hätte – außer dem Umstand, dass sich diese Analogie marketingtechnisch optimal einsetzen ließ. Die Idee mit den Aposteln, so Frau Schwitters sein ihr plötzlich gekommen, sozusagen blitzartig, „Ach super!“ hatte sie gedacht, „jetzt habe ich es!“ Erst am nächsten Morgen, als sie sich mit der Umsetzung dieser Idee beschäftigte, wurde sie sich der Schwierigkeiten bewusst, was sie aber gerne in Kauf nahm, weil – sie wiederhole sich gerne – die Form immer ein Korsett sei, die die Geschichte vor dem Zerfasern bewahre. Aha, sagte Herr Camman, als sei nun alles erklärt und als müsse man nicht genauer nachfragen, wie sich denn das Apostelmotiv in der Geschichte im Einzelnen entfalte. Mit wenigen Ausnahmen, etwa dem blassen Thomas, der irgendwo „zweifelt“ oder dem alten Thaddäus, der für den alten Zebedäus, stand, gab es kaum Entsprechungen zwischen den Apostelfiguren und den Namensträgern bei Schwitters. Doch für Herrn Camman war diese Frage abgearbeitet, denn er hatte schon ein neues Thema im Petto. Er begann die Spielarten der Liebe aufzuzählen, die in dem Buch von Frau Schwitters entfaltet würden: die göttliche Liebe, die niedrige Liebe, die platonische Liebe und fügte an, das sei ja alles gut und schön, ihn interessiere aber vor allem die „Gegenläufigkeit von Lieben und Leben“, was in dem Buch sehr schön deutlich würde, weil die Protagonistin in ihrem aktuellen Leben versuche, die Familie vor dem Ruin zu retten, sich zugleich aber in der Vergangenheit mit ihren Liebesaffären beschäftige. Frau Schwitters konnte mit dieser Frage wenig anfangen und äußerte vage, zwischen Lieben und Leben existierten immer Entsprechungen und Gegensätze, was immer das auch bedeuten mochte. Herr Camman schaute nun etwas unglücklich drein und versuchte es von einer anderen Seite. „Wie haben sich denn die Figuren im Laufe der Geschichte verändert?“ wollte er wissen. Frau Schwitters überlegte kurz und antwortete mit entwaffnender Ehrlichkeit: sie denke sich die Figuren aus, dann falle ihr dies und das ein, was die Figuren machen könnten und dann wähle sie das aus, was ihr für die Handlung des Buches als am zuträglichsten erscheine. Herr Camman nickte ohne eine Miene zu zerziehen und blätterte im Buch. Über eine Stelle wolle er gerne sprechen, fuhr er fort und las ein Zitat vor: “Die Liebe sucht man sich nicht aus“. Herr Camman klappte das Buch zu. Es folgte ein langer Blick auf die Autorin und dann die Frage: „Bedeutet das, das die Liebe zwangsläufig ist? Ist man ihr ausgeliefert?“ Frau Schwitters wies daraufhin, dass sie diesen Satz der Großmutter in den Mund gelegt habe, die ihren Mann ja trotz seiner Fehler konsequent geliebt habe. „Das war ein Kunstgriff mit Bedacht gewesen“, erklärte Frau Schwitters, denn die Liebe habe sich seit den Zeiten ihrer Großmutter grundlegend geändert. „Aha?“ halte Herr Camman ein und wurde ganz Ohr. Ja, es habe einen dramatischen Bruch in der Liebe gegeben, und der Bruch verlaufe etwa zwischen ihrer Generation und der Generation ihre Großmutter, fuhr Frau Schiwtters fort. Heute sei die Liebe eine zeitlich limitierte Angelegenheit, denn nach neusten Forschungen dauere sie im Durchschnitt zwischen 10-12 Jahre, was in etwa der Lebenszeit eines Hundes entspreche. Herr Camman schien zu überlegen, ob er nun auf den Hund eingehen sollte, ließ es aber und fragte nach den biografischen Bezügen des Romans. Die Autorin und die Protagonistin seien beide gleich alt, hätten zwei Kinder und einen Hund, hätten den gleichen Werdegang als Schauspielerin und Regisseurin durchlaufen, was ihn zu der Frage bringe: „Wie weit kann man gehen bei der Verwendung von biografischem Material?“ Da wollte sich Frau Schwitters nicht festlegen, gab aber zu, dass es bestimmte Diskretionsgrenzen geben müsse. So habe sie selbst keine zwölf Geliebten in der von ihr beschriebenen Form gehabt, das sei erfunden. Allerdings sei es reizvoll, Geschichten, die in der Realität begonnen hätten, in der Fiktion weiterzuerzählen. Das sei das Wunderbare am Schriftsteller, dass er auf diese Weise mit unterschiedlichen Identitäten spielen könne. Er sei zugleich „drinnen“ und „draußen“ schloss Frau Schwitters, ohne näher zu erklären, was sie damit meinte. „Hm“, machte Herr Camman und kam auf Philipp zu sprechen, der im Buch als ihr Mann fungiere, eine vielseitige, begabte Persönlichkeit, der an einer Stelle des Romans durch einen blitzschnellen Griff einen Kollegen vor dem Absturz aus den Höhen einer Bühneninstallation rette. Ja, das stimme, nickte Frau Schwitters und erzählte die Szene, in der Philipp den kippenden Kollegen rettend ergreift, noch einmal, als sei es eine Perle des Buches und der Schlüssel zum Verständnis der Liebe. Dass Philipp auf der anderen Seite ein Spielsüchtiger war, der das Familienvermögen verschleudert hatte, wurde nicht mehr thematisiert. Stattdessen kam Herr Camman etwas unvermittelt zum Schluss: „Welchen therapeutischen Gehalt hat dieses Buch?“ fragte er. „Keinen“, antwortete Frau Schwitters, was ich gut und ehrlich fand. „Waren Sie nach der Abfassung des Buches klüger?“ setzte Herr Camman nach. „Das weiß ich nicht“, entgegnete Frau Schwitters. „Glauben Sie denn, dass der Leser nach der Lektüre des Buches klüger ist?“ „Das hoffe ich“, schloss die Autorin.
Ich hätte nach dem Abschluss des Gespräches gerne noch einige Fragen gestellt. Etwa die, warum es keinen richtigen Judas in dem Buch gibt, wo doch der Verrat ein großes Thema der Liebe ist. Doch es gab keine Gelegenheit zu Fragen. Herr Camman bedankte sich bei Frau Schwitters für ihre Antworten und beim Publikum für das Zuhören, und beide entschwanden. Was hatte mir das Gespräch gebracht? Im Hinblick auf die Interpretation des Buches wenig, was aber auch an der ungeschickten Fragetechnik des Moderators gelegen haben konnte. Im Hinblick auf das Verständnis der Buchvermarktung aber war mir einiges klarer geworden, als es vorher gewesen war. „Eins im anderen“ war ein Allerweltswerk der deutschen Gegenwartsliteratur, nicht besser und nicht schlechter, als die Dutzendware, die auf den Spiegel-Bestsellerlisten stand. Die Sprache war bescheiden, der Erzählstil wenig inspiriert, das Apostelmotiv eine bloße Behauptung, die Liebesgeschichten selbst banal oder motivisch überreizt. Wie konnte es also auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises gelangen, wobei einschränkend angemerkt werden muss, dass das schon lange kein Qualitätsmerkmal mehr ist. Der Erfolg des Buches verdankte sich einigen frühen hymnischen Besprechungen, die durchweg von Männern verfasst worden waren und deren Tenor darauf hinauslief, dass es hier über die Liebe etwas Neues zu lernen gäbe, wobei das Apostelmotiv das Buch mit einer Aura von Erwartung und Geheimnis anreicherte. Aber das war nur ein Teil der Wahrheit. Je mehr ich diese Zusammenhänge durchdachte, desto mehr keimte in mir der Verdacht auf, dass nicht nur „Eins im anderen“ sondern die meisten Bücher, wenn sie nicht wirklich grottenschlecht waren, auf diese Weise „gemacht“ werden können – wenn nur der Verlag vorab bereit ist, ein bestimmtes Budget für die Werbung zur Verfügung zu stellen und die richtigen Rezensionen abzurufen. Grasnajowa, Hustved und Amis lassen grüßen. Das Publikum mit seinen grenzenlosen Zutrauen in die etablierte Rezensentenriege wird dann schon folgen, denn es war schon längst, was Politik, Gesellschaft oder die Deutung der eigenen Lebenswelt anbelangte, nach dem Gusto von „des Kaisers neue Kleider“ durchkonditioniert.
Relativ gut erreichbar, aber deutlich von den anderen Ständen abgetrennt, stieß ich auf den Stand der Jungen Freiheit. Die Junge Freiheit ist die einzige überregionale Zeitung, die noch wächst. iInzwischen liegt sie was die Internetpräsenz in Deutschland betrifft auf dem 14. Platz, weit von Taz oder der Frankfurter Rundschau. Inhaltlich vertritt sie christlich-konservative CDU-Positionen der Achtziger Jahre, bevor der Zeitgeist seinen Siegeszug nach links angegreten hatte. In sachlich tadellos recherchierten Artikeln kritisiert sie die Auswüchse des Gender-Wahns, der Klima-Hysterie und der Asylpolitik und wird folglich von der weitgehend homogenen veröffentlichten Meinung wie ein Schmuddelkind behandelt. Keiner ihrer Redakteure oder Leitartikler wurde jemals zum Presseclub eingeladen, und jahrelang hat der SPD Politiker Erdathy versucht, die JF aus der Bundespressekonferenz und dem Zeitungspool des Deutschen Bundestages auszuschließen. Inzwischen hat sich die Zeitung allerdings soweit etabliert, dass die Brandanschläge von Linksaktivisten gegen die Druckerei der Jungen Freiheit der Vergangenheit angehören und ihre Teilnahme an Buchmessen von der Linken nicht mehr skandalisiert werden kann. Am Stand der Jungen Freiheit wurden Freiexemplare der Zeitung angeboten, außerdem wurde für ein Buchprojekt geworben, das sich gleichsam im Rücken des etablierten Literaturbetriebes zum Erfolg entwickelt hatte: Karl Heinz Weißmanns „Deutsche Geschichte für junge Leser“. Das Bemerkenswerte dieses Buches ist seine jugendgerechte Illustration und die erkennbare Liebe zu seinem Gegenstand: der deutschen Nation und der deutschen Kultur. Ärgerlich für die etablierten Gesinnungswächter in den Medien ist dabei der Umstand, dass die deutsche Diktatur und der Holocaust nur eine, wenngleich extrem düstere Facette des Gesamtbildes darstellt. Im Mittelpunkt der deutschen Geschichte stehen dagegen die freiheitlichen Errungenschaften Deutschlands, namentlich die Revolutionen von 1989 und 1848 und das Grundgesetz, Goethe, Bach und Schiller, aber auch Friedrich der Große und das mittelalterliche deutsche Kaiserreich. Ohne dass dieses Buch in einem einzigen großen Presseorgan, weder im Fernsehen noch im Rundfunk besprochen worden wäre, hat es sich in den ersten acht Wochen nach seinem Erscheinen bereits 8.0000mal verkauft. Eine 2. Auflage mit 10.000 Stück befindet sich im Druck. Von einer Mitarbeiterin der JF erhielt ich ein buntes Plakat, auf dem einige Dutzend Szenen aus der deutschen Geschichte als Zeichnungen abgebildet waren. Offenbar waren von diesen Plakaten reichlich Exemplare vorhanden, so dass ich drei davon mitnahm, um sie unter die Kinder meiner Freunde zu verteilen. Allerdings bemerkte ich zu meinem Schrecken, dass das das größte Bild auf dieser Bildergalerie nicht den Holocaust sondern die Revolution von 1848 darstellte, so dass mich starke Zweifel beschlichen, ob ich bei meinen sozialliberalen Freunden mit dieser Gabe auf viel Gegenliebe stoßen würde.
In der größtmöglichen weltanschaulichen wie räumlichen Entfernung zur Jungen Freiheit befand sich der Stand der „Jungen Welt“, dem ehemaligen Zentralorgan der FDJ in der seligen DDR. Noch immer vertritt die Zeitung einen orthodox marxistischen Ansatz, was sie aber nicht daran hindert, ihr Mitarbeiter in scheinselbständigen Arbeitsverhältnissen zu beschäftigen. Ungeachtet dieser Widersprüche im Unterbau der Produktionsverhältnisse hatten sich vor dem Stand der Jungen Welt etwa zwei Dutzend junge bis mittelalte kräftige Gestalten, versammelt, die in ihren Kordhosen samt und sondern so aussahen, als kämen sie gerade von einer Antifa-Veranstaltung, auf der sie einen AfD-Sympathisanten verprügelt hatten. Das ist jetzt natürlich ungerecht, es konnte auch sein, dass sie gerade vom Umzug der Parteizentrale oder einer Schlepper-Aktion kamen, in deren Verlauf sie Migranten über die deutsche Grenze geführt hatten. Aber ganz egal, woher sie kamen, ganz egal, was sie machten – von ihnen ging eine derartige Tatbereitschaft und Aktivität aus, dass es fast schon wieder bewundernswert war. Sie und ihresgleichen bilden den harten Kern jener „zivilgesellschaftlichen Bündnisse“, die jede konservative Demonstration in Deutschland schon im Ansatz niederbrüllen können – und das auch noch unterstützt mit Regierungsgeldern aus dem „Kampf gegen Rechts-Fond“. Als ich die „Junge Welt“ durchblätterte, war ich überrascht über das Niveau und den Duktus der Artikel. Wenn ich ihnen auch inhaltlich nicht zustimmen konnte, waren sie flüssig geschrieben und ansprechend aufgemacht. Die Besucher des Standes der „Jungen Welt“ standen derweil im Halbkreis um einen Redner, der einen Vortrag über Kuba hielt. Viel habe ich davon nicht mitbekommen, nur der Schlussatz. „Gottseidank, dass Fidel durchgehalten hat!“ prägte sich mir ein. Ernst Bloch fiel mir ein, der große Philosoph, der in den fünfziger Jahren aus dem marxistischen Reich der „Jungen Welt“ in den freien Westen gegangen war, wo er über die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen so luzide geschrieben hatte, dass mir als Philosophiestudent ganz schwindelig geworden war. Handelte es sich bei der „Jungen Welt“ und bei der „Jungen Freiheit“ um Beispiele für diese Ungleichzeitigkeit und wenn ja, war es zurückgebliebene Ungleichzeitigkeiten oder vorauseilende Ungleichzeitigkeiten, die eher im Sinne von Avantgarde zu verstehen war? Und welche der beiden Zeitungen war zurückgeblieben und welche war Avantgarde?
Unvermutet stieß ich auf den Stand von 3SAT, dem stabil linksgrün eingefärbten und zwangsfinanzierten Pflichtsender, der es sich nicht nehmen ließ, auch auf der Buchmesse seine emanzipatorische Agenda abzuarbeiten. Soeben betrat Ernest A. Grandits, der Moderator von 3SAT Kulturzeit, die Bühne, um Iris Radisch und ihr Buch „Die letzten Dinge“ anzukündigen. Von allen linken Moderatoren ist mir Ernst A. Grandits der liebste, denn ganz unabhängig von dem, was er sagt, bringt er seine Mitteilungen immer mit einem so schelmischen Lächeln an den Mann, respektive die Frau, dass man gar nicht glauben mag, dass er das, was er soeben gesagt hat, auch wirklich glaubt. In dieser buddhagleichen Gelassenheit begrüßte er Frau Radisch, die in weiten Kleidern hereinrauschte und ihm gegenüber Platz nahm. „Die letzten Dinge“ sei eine Sammlung von etwa 50 Gesprächen mit Schriftstellerkollegen, die Frau Radisch im Laufe ihrer beruflichen Tätigkeit interviewt habe, begann Herr Grandits die Buchvorstellung. Eigentlich aber sei es kein Buch über die „letzten Dinge“, sondern über die „vorletzten Dinge“, denn über den Tod würde weniger gesprochen, als über die Lebenssummen der Schriftsteller, präzisierte er, um dabei fragend seine Augen aufzureißen, womit er Frau Radisch das Zeichen zum Einsatz gab. Frau Radisch stimmte zu und ergänzte, es handle sich um Erkundungen über den „Sinn des Lebens“, was ja wohl das „Vorletzte“ wie das „Letzte“ umgreife. Sodann kam sie auf eine Tolstoi Geschichte über „Aufschieben und Nichthandeln“ zu sprechen und bedauerte alle Menschen, die immer nur „aufschöben“, bis es zu spät sei. Der Moderator nickte wissend und lächelte milde, während Frau Radisch daranging, im Hinblick auf die letzten Dinge unterschiedliche Kategorien des Alters zu definieren. Da gäbe es die „Altersradikalität“ und die „Empörung“, aber auch die „Sehnsucht nach dem Tod“, führte sie aus, wobei sie sich hin und wieder dem Publikum zuwandte, als gäbe es dort Expempla dieser Typologie zu besichtigen. „Ja, gibt es denn nicht auch so etwas wie Altersmilde?“ fragte Herr Grandits unvermittelt. Ja, die gäbe es natürlich auch, stimmte Frau Radisch zu, es gäbe aber auch noch eine besondere Art, wie gerade die Frauen mit dem Alter umgehen. Ja, welche das denn sei, wollte Herr Grandits wissen. Er hatte sich inzwischen in seinem Sessel so bequem gemacht, dass man das Gefühl hatte, er würde gleich, selig lächelnd, entschlafen. Dieser weibliche Umgang mit dem Alter zeichne sich durch Gelassenheit und Gelöstheit aus, behauptete Frau Radisch – im Unterschied etwa zu den Männern, die einfach nicht loslassen könnten, was ihr besonders am Beispiel der Großschriftsteller Grass und Walser klar geworden sei. Allerdings hatte sie das Gespräch mit dem ungarischen Schriftsteller Péter Nádas beeindruckt, der ihr bei dem Interview von einer realen, dreieinhalb Minuten währenden Toterfahrung erzählt hatte. Nádas war nach eigenen Angaben während dieser Toterfahrung aus seinem Körper herausgetreten und hatte sich von oben gesehen, ehe das Leben in seinen Körper zurückkehrte und er wieder aufgewacht war. So stellte sich das wohl jeder vor, dachte ich, und dergleichen Szenen waren bereits dutzendfach in Spielfilmen genauso abgedreht worden. Eine Sekunde glaubte ich im Gesicht von Herrn Grandits auch ein leichtes Zucken zu erkennen, doch dann hatte er sich wieder unter Kontrolle und fragte nach weiteren Gesprächen. Frau Radisch kam auf Ruth Klüger zu sprechen, deren Spiritualität sie berührt habe, denn Frau Klüger hatte geäußert: „Ich glaube lieber an die Bäume als an den lieben Gott“, was immer das auch bedeuten mochte. Damit war das Gespräch zwischen Herrn Grandits und Frau Radisch auch schon zu Ende. Frau Radisch schickte einen freundlichen Streublick über die Köpfe des Publikums hinweg und entschwand.
Danach reichte es mir. Ich brauchte dringend einen Kaffee, und wie es der Zufall wollte, stieß ich auf das Azubi-Café, wo es Kaffee für 80 Cents und leckeren Kuchen für 1,30 Euro gab. Wenigstens ein Stand auf der Frankfurter Buchmesse, der in jeder Hinsicht überzeugte.
Sehr geehrter Herr Dr. Weinzierl,
wenn Ihnen der Duktus des Buchmessenbesuches 2015 auf meiner Seite gefallen hat, interessiert Sie vieleicht auch die Fortsetzung im Jahre 2016?
Mit freundlichen Grüßen
Adrian Ambrer
Eine köstliche Persiflage der offiziösen Literartur, subversiv, witzig, informativ – besser als alles, was ich in diesem jahr über die Frankfurter Buchmesse gelesen habe.