Frankfurter Buchmesse 21.10.2016

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„Die ewige Wiederkehr des Gleichen ist das größte Grauen“, hatte Friedrich Nietzsche geschrieben. Trotzdem wolle ich auch dieses Jahr wieder die Frankfurter Buchmesse besuchen. Denn wer wusste, ob sich nicht im Ozean der Literatur das eine oder andere Tröpfchen Nektar fand, an dem ich mich laben konnte? Wie aber sollte ich diesen Nektar bei über  siebentausend Austellern und unter Zigtausenden von Büchern finden? „Ich bin zu alt, ich kann nicht mehr alle Musik hören“, hatte Bruce Springsteen gestern abend bei einem Buchmessen-Interview gesagt. Das sollte mir als Richtschnur dienen. Auch ich war zu alt, um alle Bücher zu lesen, ganz abgesehen davon, dass ich gar nicht mehr alle Bücher lesen wollte. So entschloss ich mich, mich ganz dem Schicksal, sprich dem Zufall zu überlassen, wie ein Vagant durch die Welt der Bücher zu streifen, hier zuzuschauen oder zuzuhören, dort zu blättern, und zu lesen, um mir einen Eindruck zu verschaffen. Hier ist mein diesjähriger Bericht.

Ich parkte meinen Wagen im Rebstock-Parkhaus und fuhr mit dem kostenlosen Shuttle-Bus zum Messegelände. Der Busfahrer war ein junger Marokkaner, der mir erzählte, er käme aus Tetuan in Nordmarokko und würde während der Messe als Subunternehmer für die Messleitung arbeiten. Er sah blendend aus, sprach ein erstklassiges Deutsch und besaß tadellose Umgangsformen. Wenn sie doch alle so wären, dachte ich, dann könnten sie Meinetwegen zu Hundertausendfach kommen. Oder war das jetzt wieder zu politisch unkorrekt gedacht?

Politisch unkorrekt und bis in die Socken unliterarisch war auch mein zweiter Gedanke, als ich die Ausstellungshallen betrat. Auffällig viele attraktive junge Akademikerinnensind am längsten Singles, ehe sie heiraten (wenn überhaupt)Frauen liefen allein über das Messegelände. Gut geschnittene Gesichter, ansprechende Figuren, geschmeidige Bewegungen, wache  Augen, sehr oft kurzgeschnittenen peppige Frisuren. War da etwas dran, dass intelligente und schöne Frauen durch das Buch, sprich den Geist, erotisiert werden? Dass sie angezogen werden von der Massierung der Poesie auf der Frankfurter Buchmesse, auch oder weil ein Großteil dieses Geistes männlich war? Oder waren diese Frauen auf der Suche nach dem einzig verlässlichen Partner, der einen nie im Stich läßt – eben einem guten Buch. Und wussten sie, dass gute Bücher ebenso selten sind wie gute Männer?

Mit solchen zerfasernden Gedanken im Kopf betrat ich die erste Halle, das  monumentale Domizil der ARD. Es war ein regelrechter Palast, riesig, weiträumig, würdig einer öffentlich-rechtlichen Anstalt, die zusammen mit ihren Ablegern jedes Jahr über sieben Milliarden Euro von einem Publikum einnimmt, das diese Gebühr zwangsweise bezahlen muss, ganz gleich, ob ihr das Programm gefällt oder nicht.  Aber ist es nicht auch ein Vorteil, dass sich der Anbieter um den Geschmack und die Rückmeldung des Publikums nicht kümmern muss weil ihm das die Möglichkeit eröffnet, dem zwangsversorgten Publikum gesellschaftlich relevante Nischenprodukte vorzustellen, die sonst keine Sau interessieren würde? Diesen Eindruck konnte man haben, wenn man sich die Bücher ansah, die in der ARD Halle auf einem kleinen Podium vorgestellt wurden. Als ich eintraf, war gerade das Buch „Schilder-Guerilla“ von Gerhard Seyfried an der Reihe. Hierbei handele es sich um ein Werk, so der gut gegelte Moderator, „für Leute, die um die Ecke denken, so schön und so gut gemacht,  wie ich es selten erlebt habe“. Der Meister, ein in Ehren ergrauter Altlinker aus Berlin-Kreuzberg, nahm die Eloge gelassen hin, während sich der Moderator weiter in Rage redete. Es dauerte etwas, bis ich dahinterkam, worum es bei diesem Buch ging. Seyfrieds Werk „Schilder-Guerilla“ dokumentierte in  Text und Bild, wie der Autor durch 004deutsche Städte lief und öffentliche Schilder bemalte. Herr Seyfried sei also ein „Schilderveränderer“, stellte der Moderator fest, das sei  köstlich und intelligent zugleich. Ob man denn nicht mal ein Beispiel für die befreiende Kraft dieser Verfremdung geben könne? fragte er. Herr Seyfried überlegte einen Moment, dann erzählte er, dass er ein Schild „Indisches Restaurant“ durch Hinzufügung eines „k“ in „Kindisches Restaurant“ verwandelt habe. Der Moderator schwieg und wartete. Kam da noch was? Nein es kam nichts mehr. Auch das Publikum war verblüfft über diesen Flachsinn. Herr Seyfried aber nahm es gelassen. „Hauptsache, ich lach´ darüber“, meinte er und klappte sein Buch wieder zu.

Ich lief weiter und kam in die Halle 3, eines der Zentren der Buchmesse, in der Schwergewichte des deutschen Verlagswesens ihre Ausstellungsflächen besaßen. Zuerst stieß ich auf den Hanser-Verlag, an dem gerade eine Art „Speed Dating“ zwischen Lesern und Autoren stattfand. Literarisch aktive Damen und Herren, von denen ich noch niemals etwas gelesen oder gehört hatte, saßen an den Tische und gaben Auskunft über ihre Bücher. Der Star des Verlages, Navid Kermani, war leider nicht anwesend, dafür war sein neues Buch „Sozusagen Paris“ allgegenwärtig. Der Plot dieses Romans  interessierte mich: ein Mann trifft nach dreißig Jahren eine Jugendliebe wieder und redet mit ihr eine Nacht lang über die Liebe, vergebene Chancen und die Gestalt, die ihr Leben inzwischen Kermani_angenommen hat.  Bemerkenswert an diesem Buch war, dass Kermani in seinem Buch den Leser an der literarischen Verarbeitung seiner Begegnung teilhaben ließ und Marcel Proust so ausgiebig zitierte, als handele es sich um einen Kommentator aus dem Off. Die einflussreiche ZEIT-Literarturchefin Irisch Radisch hatte Kermani in einem Interview kurz vor der Buchmesse diese „Künstlichkeit“ ebenso vorgeworfen wie die „Klischeehaftigkeit“ der Figuren. Sie hatte sich daran gestört, dass die ehemalige Geliebte „Jutta“ hieß und dass sie Texte über die Liebe von sich gebe, „vor denen man sich immer schon gefürchtet habe“. Kermani hatte dagegen die Normalität und Banalität der Liebe ins Feld geführt und trocken angemerkt, dass es eine „Kleinmädchenvorstellung“ sei, dass Liebende sich immer nur hochtrabend und zitierfähig äußerten.  Mich hatte bei diesem Gespräch Navid Kermani mehr überzeugt als Frau Radisch, und auch sein Roman, den ich am Hanser Stand in die Hand nahm, um ein wenig in ihm zu blättern, las sich nicht schlecht. Dieses Buch schrieb ich mir auf meinen Bücherzettel.

Vor dem Stand der Süddeutschen Zeitung hatte sich ein regelrechter Menschenpulk gebildet, die dem Gespräch von Professor Hans Werner Sinn mit Ulrich Schäfer, dem Leiter der Wirtschaftsredaktion der Süddeutschen Zeitung, folgten. Es ging in Hans Werner Sinns neuem Buch „Der schwarze Juni“ um zwei epochale Entscheidungen des Juni 2016: erstens dem Austritt Großbritanniens aus der EU und zweitens um das fatale Urteil Bundesverfassungsgericht über das Staatsanleihenkaufprogramm der EZB. Epochal waren diese Entscheidungen nach Sinn gleich aus mehreren Gründen. Zunächst, weil mit Großbritannien ein Land aus der Europäischen Gemeinschaft ausscheide, dass als sogenanntes „Freihandelsland“ zusammen mit Deutschland, den Niederlanden und Finnland über eine Sperrminorität gegenüber den staatsdirigistischen Schuldenländern

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des Südens (Frankreich, Italien, Griechenland und andere) verfügten, die nun wegfalle. Nun seien Mehrheitsentscheidungen des Ministerrates gegen die solide wirtschaftenden Staaten des Nordens möglich, was den Trend zur Transferunion weiter beschleunigen werde.   Aber das sei noch nicht alles, fügte Professor Sinn mit seiner sonoren Stimme hinzu. Noch verhängnisvoller war die Entscheidung des BVG, die praktisch den Maastrichter Vertag beerdigt habe. Diese Entscheidung, nach der das hemmungslose Gelddrucken durch die Europäische Zentralbank zugunsten der hochverschuldeten Länder entgegen dem ausdrücklichen Wortlaut des Maastrichter Vertrages  juristisch in Ordnung sei, führe zu einer massiven Ressourcenverschiebung zugunsten der verschuldeten Südländer. Sie bilde einen weiteren massiven Anreiz zu noch weitergehenden Staatsverschuldung. Der gleich nach der Griechenlandrettung von Frau Merkel auf den Weg gebrachte „gehärtete“ Stabilitätspakt sei das Papier nicht wert, auf dem er gedruckt sei, denn kein Mensch halte sich an diesen Pakt, außer eben den Deutschen, die aber ihre ersparten Ressourcen dann wieder zugunsten der Schuldenländer ins Ausland transferieren müssen. Es war faszinierend, mit welch klaren und prägnanten Worten Professor Sinn diese Sachzusammenhänge erklärte. Er sprach ohne sichtbare Emotionen wie ein Arzt, der eine schwere Krankheit des Patienten diagnostizierte, gleichwohl aber eine seriöse Gefasstheit bewahrte. Das konnte man vom Moderator Ulrich Schäfer nur begrenzt behaupten. Er zappelte aus seinem Stuhl herum und war ersichtlich mit den Darstellungen Sinns nicht einverstanden, konnte aber mangels Sachkompetenz nicht recht  dagegenhalten. Einmal vergaloppierte er sich sogar, als klar wurde, dass er nicht zwischen der Binnenwanderung von Arbeitskräften in der EU und der Migrationswelle aus Asien und Afrika unterschied. Professor Sinn nahm es gelassen, er war es wahrscheinlich gewohnt, dass die Redakteure, die ihn interviewten,  von Wirtschaft nicht allzuviel verstanden. Am Ende bekannte er sich immerhin zur Europäischen Union, empfahl aber dringend, ihre Institutionen zu reformieren. Die Union müsse flexibler gestaltet werden, das hieß, Nationen müssten leichter ein- und austreten können, wozu er anmerkte, wie gut es Griechenland heute gehen würde, hätte man 2010 Griechenland nicht „gerettet“ sondern austreten lassen und ihm damit erlaubt, seine Währungsparitäten seiner Wettbewerbsfähigkeit anzupassen. Sodann benötige man eine „Konkursordnung“ für Staaten, so dass nicht mehr die Steuerzahler sondern die Investoren für eventuelle Pleiten von überschuldeten Ländern haften müssen. Die politischen Entscheidungen müssten sich stärker an der tatsächlichen Bedeutung und Größe der Akteure orientieren. Und last noch least müsse die „soziale Inklusion“ aufgegeben werden, d. h. ein  arbeitsloser Pole in Deutschland solle nur das polnische und nicht das deutsche Arbeitslosengeld erhalten, was automatisch dazu führen würde, das langzeitarbeitslose EU-Binnenmigranten in ihr Heimatland zurückkehren müssten und nicht die deutschen Sozialkassen belasten würden. Gegen diese Vorschläge, die jedermann einleuchteten, war nichts sagen. Ulrich Schäfer zog einen Flunsch, und das Publikum klatschte.

Auf welch ungleich bescheidenerem Niveau man das Europa-Thema auch behandeln konnte, war einige Gänge weiter am Stand der WELT zu erkennen. DSCN8358Dort stellte Thomas Schmid, der Feuilletonchef der Süddeutschen Zeitung sein Buch „Europa ist tot. Es lebe Europa“ vor. Hier war überhaupt nicht von Zahlen und Fakten, sondern allein von „politischen Visionen“ die Rede.  Thomas Schmid und der Moderator Eckhart Fuhr waren sich einig, dass der Austritt der Briten auch ein „Glück“ sei, weil sich nun endlich in der Außen-, der Sicherheits- und der Verteidigungspolitik Chancen zu vertiefter Integration und gesamteuropäisch möglicherweise eine höhere Flexibilität ergeben würden. Doch es war eine ganz andere Flexibilität als sie Professor Sinn noch eine Viertelstunde früher drei Buchmessenecken weiter vorgetragen hatte.  Thomas Schmid verstand darunter, dass jeder Staat eben das mache, was er wolle und könne – wenn die Ungarn und Polen keine Flüchtlinge aufnehmen sollten, dann müsse man das anerkennen, die Deutschen  könnten ja in „Vorleistung“ treten und den Großteil der Flüchtlinge aufnehmen. Mit einem  herzhaften  „Wir schaffen das“ beschloss Herr Schmid unter dem wohlwollenden Nicken des Moderators seine Darlegungen. So unterschiedlich kann es  zugehen, wenn ein Ökonom und ein  Germanist über Europa reden.

In der Halle 3.1 im Gang E stieß ich auf den Stand der Frankfurter Verlagsanstalt. Hier strahlte alles, denn Bodo Kirchhoff, einer der Autoren des Verlages, hatte mit seiner Novelle „Widerfahrnis“ den Deutschen Buchpreis gewonnen. Unmittelbar nach der Preisverleihung hatte ein derartiger Hype  um Kirchhofdas Buch eingesetzt, dass es fast vergriffen war, weswegen die Angestellten des Verlages mit Argusaugen darüber wachten, dass niemand die Lese- und Ausstellungsexemplare klaute. Mich hatte die Verleihung des Deutschen Buchpreises an Bodo Kirchhoff übrigens nicht überrascht. Zu passgenau war die melancholische Geschichte einer Altersliebe mit einem belletristischen Flüchtlingsdressing dekoriert worden, als dass man darüber hätte hinweggehen können. Dabei war der Plot der Geschichte noch unterirdischer als die Handlung von „Gehen ging, gegangen“, Jenny Erpenbecks Flüchtlingsroman des Jahre 2015, der damals bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises noch leer ausgegangen war.  Wieder ging es um ältere Menschen, diesmal nicht um einen alten Oberstudienrat wie bei Erpenbeck, sondern  um eine ältere Dame und einen älteren Herrn, die sich auf einer Italien-Reise verlieben und sich mit der Kraft dieser gerade erst geborenen Liebe um Flüchtlinge kümmern. Das war ehrenwert und rührend, fast wie ein Kindermärchen, doch der Autor hatte in einem SPIEGEL Interview klargemacht, dass er seine Geschichte genau so verstanden wissen wollte.  Wenn wir uns nur alle im Medium der Liebe bewegen, können wir alles bewältigen, die individuelle Liebe ebenso wie die Flüchtlingskrise, sprach der frisch gebackene Buchpreisträger, und Hut ab vor Frau Merkel, die mit einer bewusst privat motivierten Entscheidung die große Politik auf den richtigen Weg der Liebe gezwungen hatte.  Das alles kam mir extrem privatistisch und fremd vor, aber ich wollte gerecht sein, Bodo Kirchhoff hatte wunderbare Bücher geschrieben, darunter „Infanta“, einen meiner Lieblingsromane, und vielleicht war seine Novelle als solche überhaupt nicht so  holzschnittartig, wie sie in der öffentlichen Rezeption herüberkam.  Und tatsächlich, als ich das Buch in die Hand nahm und ein wenig darin las, wurde ich sofort von der Kirchhof´schen Sprache gefangengenommen. Also Kommando zurück, dachte ich und notierte den Titel dieses Buches auf meinem Bücherzettel. Das Buch von Hans Werner Sinn „Der schwarze Juni“ setzte ich gleich noch dazu.

Um Flüchtlinge ging es auch am Stand von LITCAM. Bei LITCAM handelt es sich um eine Einrichtung der Frankfurter Buchmesse, deren Ziele es ist, grundlegende zivilisatorische  Fertigkeiten wie Lesen, Schreiben, Rechnen und Medienumgang bei den Angehörigen benachteiligter Gruppen zu verbessern. Fünf Damen und Herren, ein optischer und beruflicher Querschnitt der deutschen Betreuungsindustrie,  saßen vor einem spärlich besetzten Auditorium und debattierten über die „Chancen des Smartphone-Gebrauchs bei der Integration jugendlicher Flüchtlinge“.   Eine Dame beklagte, dass die Wahrnehmung der teuren Smartphones, mit denen die Migranten nach Deutschland kämen, dazu geführt hätten, dass ein völlig falsches Bild der Flüchtlinge in der Öffentlichkeit entstanden sei. Dem stimmte ein männlicher Diskussionsteilnehmer zu ihrer Linken zu und ergänzte, dass die  Smartphones in Wahrheit „unverzichtbare Überlebenshilfe“ für die Flüchtlinge in einer völlig fremden Umgebung darstellten. Außerdem, so warf eine weitere Dame ein, handele es sich bei den Smartphone-Besitzern um eine „technikkompetente Gruppe, die in der Lage sei Begleitangebote zu akzeptieren“, was der Integration nur förderlich sein könne. Auf keinen Fall dürfe man den Flüchtlingen die Smartphones wegnehmen, so ein vierter Teilnehmer,  denn es handele es sich um „positiv besetzte Gegenstände“, die die Flüchtlinge über Tausende von Kilometern „begleitet“ hätten, so das sie sogar eine wichtige Rolle bei einer eventuellen  „Traumatherapie“ spielen könnten. Nur ein einziger Mitarbeiter von LITCAM goss ein wenig Wasser in den Wein der Integrationseuphorie, als er über die Ergebnisse einer empirischen Studie zum Smartphone-Gebrauch von Migranten berichtete. Von Integration durch Smartphone-Gebrauch  könne nur sehr eingeschränkt die Rede sein, weil die meisten Apps auf den Geräten in arabischer Sprache abgefasst seien. Außerdem könne man nicht verheimlichen, dass auf den Smartphones auch Inhalte angeschaut würden, die alles andere als zivilgesellschaftliche Tugenden repräsentierten, was immer das im einzelnen auch bedeuten mochte. Inzwischen hatte die Zahl der Zuhörer die Zahl der Diskutanten unterschritten, was ich gut verstehen konnte, so dass auch ich mich davonmachte.

Am Stand der FAZ stieß ich auf eine Veranstaltung mit dem Kabarettisten Wigald Boning, der ein Buch darüber geschrieben hatte, wie er zwischen August 2015 bis März 2016 insgesamt 204 Nächte ununterbrochen in einem Zelt DSCN8363geschlafen hatte. Der Titel seines Buches lautete: „Im Zelt. Von einem, der auszog, draußen zu bleiben.“ Der FAZ-Moderator fand das ganze „Projekt“ unglaublich witzig, strahlte unablässig, während sich Herr Boning im Stil eines Sonderlings präsentierte, ohne wirklich ein solcher zu sein. Er trug ein gelbes Regencape, bewegte seinen  Kopf ruckhaft wie ein Huhn und blickte starr geradeaus als hätte er einen an der Kappe, was aber schon das witzigste war, was er zu bieten hatte, denn wirkliche Lacher hatte er nicht im Angebot. Ja, wie sei er denn überhaupt auf die Idee gekommen, so lange in einem Zelt zu schlafen, wollte der Moderator wissen. Es war einfach zu heiß gewesen, antwortete Herr Boning treuherzig. Da habe er sich an die Isar gelegt und wunderbar geschlafen. Später, als der Herbst kam, habe ihn das Geräusch des prasselnden Regens auf dem Zeltdach ungemein befriedigt.  Zur eigenen Sicherheit habe er sich Reizgas besorgt, das ihm aber geklaut worden sei, was aber nichts machte, weil er praktisch kaum brenzlige Situationen erlebt habe. Da könne man mal sehen, wie sicher unser Land sei, vor allem, wenn man sich blickgeschützt zur Ruhe begebe. Nur einmal habe es gestürmt und gedonnert und da hätte er vom Blitz getroffen werden können, aber auch diese Gefahr habe er erst im Nachherein realisiert. Nun grinste der Moderator nur noch verhalten, denn die humoristische Ausbeute war wahrlich mager. Was waren denn die schönsten Augenblicke in ihrer Zelt-Zeit? wollte er wissen. Die Zeltplätze in den Alpen, der Blick morgens aus dem Zelt, wenn der Tag begann,  antwortete Boning. Wer hätte das gedacht?

Weil es mir zu langweilig wurde, stand ich auf und ging weiter, trank einen Cafe´ am vorzüglichen Azubi-Café und setzte mich anschließend in die Zuschauerreihe bei 3SAT, unserem linksliberalen Kultursender, der auch für  Konservative mitunter manch Interessantes in petto hat. Heute war die Autorin Thereza Mora zu Gast, von der ich bereits zwei Bücher gelesen hatte. Ihr Stil und ihre Gestalten waren nicht jedermanns Sache, aber immer originell und sprachlich exzellent auf den Weg gebracht. Diesmal ging  es um ihr neues Buch „Die Liebe unter Aliens“, eine Sammlung von Kurzgeschichten über Figuren aus den letzten 30 Jahren ihres Lebens, denen die Autorin, wie sie sagte, je eine DSCN8365-001Geschichte „schuldete“, die sie nun eben geschrieben habe.  Thereza Mora war eine der bestaussehendsten und eloquentesten Autorinnen, die ich je auf einer Buchmesse gesehen habe. Sie erzählte in einem fort, quoll geradezu über vor Mitteilungsdrang so dass der Moderator, der tief eingesunken in seinem Sessel saß, den Gast nur zu bestaunen und kaum zu befragen brauchte.  Leider war es sehr unruhig am Stand, Kamerateams drehten, Zuschauer kamen und gingen, so dass nur wenig zu verstehen war, was auch für die Passage galt, die Thereza Mora aus ihrem Buch vorlas. Erinnerlich ist mir nur noch, dass es sich um zwei Personen handelte, die sich in einem Raum befanden und sich gegenseitig anödeten. „Fick mich, oder bring mir was zu essen“, sagte die eine immer wieder, und was die andere daraufhin sagte, habe ich nicht verstanden. Dann kam die Wendung „Du ist ein Alien“, was wohl auf die Fremdheit hinweisen sollte, die sich zwischen allen  Liebenden irgendwann einmal auftut. War das die Subtilität, die die Rezensenten  unisono an diesem Buch lobten, die analytische Prägnanz, mit der die Autorin in die Seeleneingeweide ihrer Figuren hineinkroch? Das musste ich in Ruhe noch mal nachlesen, und so notierte ich mir den Titel des Buches auf meiner Bücherliste, setzte aber ein Fragezeichen hinzu.

In Halle 4.1. besuchte ich fast am Ende meines Rundganges wie schon im lezten Jahr den Stand der „Jungen Freiheit“, Im Unterscheid zu BILD, Spiegel, Süddeutscher Zeitung, FAZ und Welt, die schwere Auflageneinbrüche zu verzeichnen hatten, weil sie mit nur ganz leichten Variationen regierungskonform berichteten,  hatte die verkaufte Auflage der JF im letzten Jahr um sagenhafte 18 % zugenommen – und dass trotz zahlloser Kampagnen der etablierten gesellschaftlichen Kräfte, die es bislang verhindert hatten, dass namhafte Anzeigenkunden in der Jungen Freiheit inserierten. Der geistige und faktische Vater dieser erstaunlichen Erfolgsgeschichte, der Chefredakteur Dieter Stein, hatte vor dreißig Jahren im Alter von 18 Jahren die Junge Freiheit als hektografierte Zeitung gegründet und ihre Blätter im Keller des elterlichen JFHauses selbst noch zusammengeheftet. Nun war er ein  jugendlich wirkender Endvierziger,  der bescheiden und unprätenziös die Gäste und Interessenten am Stand seiner Zeitung begrüßte. Es spricht für die extreme Schräglage der politischen Kultur in unserem Land, dass eine Gesgtalgt wie Jakob Augstein, der die Massenübergriffe in der  Kölner Silvesternaccht als „Gegrabsche“ verharmlost hatte, permanent in Fernseh-Talkshows eingeladen wird, Dieter Stein als ubiquäre Erscheinung des deutschen Journalismus aber nicht.

Inzwischen taten mir die Füße weh, und ich machte mich auf den Rückweg. Kurz vor der Bushaltestelle kehrte ich noch einmal in den Glaspalst von ARD und ZDF ein, um der aktuellen Buchvorstellung zu lauschen. Auf dem Podium saß Arnold Stadler, ein literarisches Schwergewicht, der neben  zahleichen literarischen Auszeichnungen im Jahre 1999 den Büchner-Preis gewonnen hatte, was in etwa einem literarischen Oscar für deutschsprachige Dichtung entspricht. Der Moderator Carsten Otto stellte Herrn Stadler „als ernsten Humoristen der Liebe“ vor, was der Meister mit säuerlicher Miene quittierte. Das vorgestellte Buch trug den Titel „Rauschzeit“ und handelte von der leicht angegilbten Liebe zwischen „Alain“ und „Mausi“ und ihren Reflektionen beim Tod der gemeinsamen Freundin „Elfi“. Was der Autor vorlas, war im Sinnzusammenhang DSCN8369nicht unbedingt verständlich, aber einzelne Sätze sind mir doch in Erinnerung geblieben, wie etwa „Der Himmel war die Almende für meine Augen“ oder „Die Milchstraße kreuzte sich mit der Dorfstraße“. Noch besser fand ich „Mein Leben war zu einer Kartoffelsuppe geworden“, was mich allerdings daran erinnerte, dass mir der Magen knurrte. Der jugendliche Moderator, dem man offenbar eingeschärft hatte, den Literaturpreisträger mit möglichst geistreichen Fragen zu fordern, kam auf die vegetarischen Ideen zu sprechen, die sich in dem Roman befänden und fragte, ob man den Vegetarismus in ein dialektisches Verhältnis zur Fleischlichkeit setzen müssen, das in dem Buch ja auch obwalte. Daraufhin Stadler mit unbewegter Miene wörtlich: „Diese Frage gehört zu den Fragen, die gestellt sein wollen, worauf ich aber keine Antwort habe.“  „Das akzeptiere ich“, antwortete der Moderator sofort, woraus ersichtlich wurde, dass ihm die Antwort ohnehin schnurzpiepegal war.  Als Arnold Stadler auch die nächste Frage gnadenlos abbürste, war unverkennbar, wie sehr dem Autor das Gespräch auf die Nerven ging. Offenbar war es ihm zuwider, seine Sprache und seinen Roman in die mickrigen Antworthülsen zu pressen, die ihm der Moderator vorgab.  Die Geste schließlich, mit der der Autor nach der nächsten Frage langsam seine Brille abnahm und den Moderator ansah, als hätte dieser nicht Tassen im Schrank, war für mich der szenische Höhepunkt meines diesjährigen Buchmessenbesuches.

Am Ende trieb mich der Hunger vom Gelände. In der ewigen Schichtung der Werte hatte der Philosoph Nicolai Hartmann die niederen Instinkte wie Hunger und Durst dem Geist an Wertigkeit untergeordnet. An Wucht und Dringlichkeit aber, so der im Jahre 1950 verstorbene Großdenker, den heute niemand mehr kennt, seien sie als ontisch primäre Schichten den höheren Werten weit überlegen. Das war unbestreitbar, und so machte ich mich auf zum Abendessen.

    Witzahi Buch auf der Buchmesse                                   Ich war übrigens auch auf der Messe vertreten

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