Gerade einmal 29 Jahre alt war Jonathan Franzen, als er im Jahre 1988 seinen 670 Seiten starken Erstling vorlegte, den Roman „Die 27. Stadt“. Das nächste Werk „Schweres Beben“, das im Jahre 1992 erschien. brachte es auf 685 Seiten Der Roman „Die Korrekturen“, der Jonathan Franzen 2001 in die erste Riege der zeitgenössischen Erzähler katapultierte, erhöhte mit 769 Seiten noch einmal die Schlagzahl. Aber damit nicht genug. Knapp zehn Jahre später veröffentlichte Franzen seinen vierten Roman “Freiheit“ mit 732 Seiten, um sich in seinem 2015 veröffentlichten Roman „Unschuld“ mit 832 Seiten noch einmal selbst zu übertreffen. Auf diese Volumina angesprochen, antwortete der Autor, er habe es aufgegeben, zu versuchen, „normale“ Romane zu schrieben. Es ginge einfach nicht, weil er seine Geschichten aus mehreren Perspektiven erzählten müsse und deswegen die Länge der Unvollständigkeit vorzöge. .
Franzenns Lesern ist es recht, denn die umfangreichen Romane, die der Autor mit kaum fassbarer Schaffenskraft Jahrzehnt für Jahrzehnt auf den Markt wirft, sind alles andere als Massenware. Jeder von ihnen, selbst der Erstling aus dem Jahre 1988, steigt in den Ring, als wolle er die Welt auf seinen Schultern tragen. Franzens Charaktere sind blutvoll und lebensecht, seine Sprachkraft deckt seelische Nuancen auf, von denen viele Leser gar nicht ahnten, dass sie existieren. Wie die anderen Giganten des amerikanischen Romans, Philip Roth, Cormack McCarthy oder John Updike, verfasst er seine Romane in einem realistischen, manche sagen auch, in einem „konservativen“ Erzählstil und verzichtet auf Formalismen, die ohnehin oft nur ein Surrogat für Unvermögen sind.
Was aber ist das Lebensthema dieses erstaunlich produktiven Autors? Wer Franzens Bücher von der „27. Stadt“ bis „Unschuld“ liest, wird vielen Themen begegnen, aber im Kern geht es um die Krise der amerikanische Familie. Franzen beschreibt in immer neuen Anläufen und Geschichten, wie sie in der Konfrontation mit Individualisierung, Emanzipation Kriminalität, Libertinage, Korruption, Sexualisierung und den Tücken des Internets zerbricht und ihre Mitglieder in schmerzhafter Vereinzelung zurücklässt. Franzens Bücher intonieren den Schwanengesang einer sozialen Konfiguration, die noch Franzens Mutter Irene als junges Mädchen in einem Referat wie folgt beschrieben hatte: „Ich glaube fest an das Familienleben. Ich finde, dass das Heim die Grundlage wahren Glücks in Amerika ist – viel mehr, als Kirche oder Schule es jemals sein können.“
Nun hat Jonathan Franzen noch einmal nachgelegt und zwar mit einem Projekt, das Seinesgleichen sucht: einer Roman-Trilogie mit dem etwas sperrigen Titel „Ein Schlüssel zu allen Mythologien“, in der nicht weniger als das ganze letzte halbe Jahrhundert abgehandelt werden soll. Von den frühen 1970er Jahren, in denen die kulturrevolutionären Veränderungen der 68er Rebellion langsam in das Alltagsleben der Amerikaner einsickerten, bis zur Gegenwart sollen drei große Romane in der üblichen Franzen´schen Größenordnung von 600 bis 800 Seiten anhand der Geschichte einer konkreten Familie die Heraufkunft der postmodernen Lebenswelt beschreiben. Der erste Band dieser Trilogie trägt den Titel „Crossroads“. Er spielt im Wesentlichen am 23. Dezember des Jahres 1971 und bildet die Ouvertüre eines großepischen Projektes, die den Autor möglicherweise für den Rest seines Lebens beschäftigen wird.
Im Mittelpunkt steht die Familie Hildebrandt, die in New Prospect, einem fiktiven Vorort von Chicago lebt. Das Familienoberhaupt, der deutschstämmige Russ Hildebrandt, ist ein knorriger Mann mittleren Alters, der sich als zweiter Pfarrer der „New Reformed Church“ viel darauf zugutehält, jahrelang in der Bürgerrechtsbewegung aktiv gewesen zu sein. Seine Frau Marion, das warmherzige Zentrum der Familie ist kreuzunglücklich, weil sich ihr Ehemann wegen ihrer Figurprobleme von ihr abwendet. Der älteste Sohn Clem ist ein atheistischer, aber moralisch hochsensibler Rigorist, der mit dem College beginnt, während seine beliebte und bildschöne Schwester Becky als Oberschülerin ihre erste Liebe mit dem Musiker Tanner erlebt. Ein intellektuelles Wunderkind mit semikriminellen Neigungen und neurotischer Schlagseite ist der fünfzehnjährige Sohn Perry, der bereits angefangen hat, mit leichten und mittelschweren Drogen zu dealen, während Judson das Nesthäkchen der Hildebrandts das einzige Familienmitglied ist, das keinen Kummer bereitet. Man darf gespannt sein, ob das auch in den folgebänden Bänden so bleiben wird. Diese sechs Mitglieder der Familie Hildebrandt sind umgeben von einem ganzen Kosmos detailliert beschriebener Figuren wie der Witwe Frances Cottrell, in die sich Russ Hildebrandt verliebt, und Rick Ambrose, den charismatischen Leiter der kirchlichen Jugendgruppe „Crossroads“, der zu Hildebandts Ärger viel mehr Anklang bei den Jugendlichen findet als er selbst.
Jedem, der die Zeit, die Franzen beschreibt, selbst als Jugendlicher erlebt hat, werden die Abläufe seltsam vertraut vorkommen: die plötzliche Eröffnung eines bis dahin unbekannten Raumes der Freiheit, die sich zuerst im straflosen Kiffen äußerte, die erstaunliche Leichtigkeit, mit der sich die alten Autoritäten ins Bockshorn jagen und „entlarven“ ließen und das problemlose Abwerfen alter Gewissheiten, was in jugendlicher Ahnungslosigkeit als Emanzipation missverstanden wurde. Bemerkenswert ist, wie dieser Wandel in „Crossroads“ aus der Perspektive eines Angehörigen der älteren Generation beschrieben wird. Russ Hildebrandt, die zentrale Figur des Romans, ein durchaus gutwilliger Mensch mit kleinen Schwächen, spürt den Wandel und versucht sich anzupassen. „Er riskierte es, frei von der Leber weg über seine Gefühle zu reden, er öffnete sich neuen Musikstilen. Er fand heraus, dass es eine starke Wirkung auf die jungen Leute ausübte, wenn er die Augen schloss und eine geballte Faust zeigte, so oft er über Doktor King oder Stokeley Carmichal sprach, dem er einmal die Hand geschüttelt hatte. Auch wenn es aus deinem Mund nicht ganz überzeugend klang, gewöhnte er sich an, Schimpfwörter wie Scheißdreck zu verwenden. Er ließ sich die Haare bis über den Kragen wachsen und trug einen Bart, letzteres allerdings nur, bis Marion ihm sagte, er sehe aus wie Johannes der Täufer.“
Doch seine Mimikry nutzt ihm nichts. Plötzlich ist die bequeme Aura von Respekt und Distanz, die bisher der älteren Generation entgegengebracht wurde, dahin, und wer sich innerhalb einer Gemeinschaft zu Wort meldet, muss dies „authentisch“ und „rückhaltlos“ tun. Franzen demonstriert, wie die neue Norm der Rückhaltlosigkeit zwischen Fremden eine künstliche Nähe schafft, die nur zu Missverständnissen und Verletzungen führen kann. Da es den Protagonisten mangels Erfahrung mit den neuen Kommunikationsstrukturen an jeder Art von psychologischen „Stoßdämpfern“ mangelt, misslingen die Handlungsentwürfe vor den Augen gnadenloser sozialer Juroren. Fassungslos erlebt Russ Hildebrandt, wie die Jugendlichen in der Selbstgewissheit ihres neuen Jargons über ihn Gericht halten und ihn auf beschämende Weise demütigen. Was Franzen in mehreren groß angelegten Szenen am Beispiel des Vorstadtpfarrers beschreibt, ist nicht mehr und nicht weniger als die exemplarische Entthronung des Vaters als Respektsperson, ein Vorgang, der nur auf den ersten Blick als Gewinn für die Jüngeren verbucht werden kann, weil es diesen nun an Vorbildern und Orientierungshilfen mangelt. Besonders deutlich wird dies am Beispiel des ältesten Sohnes Clem, der nach der Demütigung seines Vaters in eine Persönlichkeitskrise gerät. Franzen zeigt am Beispiel von Marion Hildebrandt, der Gattin des Vorstadtpastors, wie die Position des amerikanischen Familienoberhauptes auch von seiner Gattin her unter Druck gerät. wird. In einem scherzhaften Selbstfindungsprozess zieht Marion Hildebrandt eine Grenze zwischen sich und ihrem Ehemann, und wundert sich. dass diese Grenzziehung ihre Ehe auf eine neue, wenngleich prekäre Grundlage stellt. Am Ende deutet sich ein „happy end“ an, von dem der Leser ahnt, dass es trügerisch ist. Denn die Prozesse der sozialen Dekomposition schreiten voran, und was das halbwegs tragfähiges Gleichgewicht wird nicht von Dauer sein.
Wie in seinen früheren Romanen beweist Franzen auch in „Crossroads“ seine Fähigkeit, sozialen Beziehungen und seelischen zuständen bis in ihre kleinsten Verästelungen nachzuspüren. Inhaltlich besteht sein größter Wert darin, dass „Crossroads“ den Leser unserer Tage zurückführt in eine Zeit, in der die kulturelle Transformation begann, deren Folgeerscheinungen ihm heute um die Ohren fliegen. „Die Eule der Minerva beginnt am Abend ihren Flug“, hat Hegel gesagt, womit er ausdrücken wollte, dass eine Epoche sich erst dann über ihre Verwandlung klar wird, wenn die Veränderungen bereits eingetreten sind. Insofern gleicht der monumentale Blick zurück, zu dem der Autor mit seiner Trilogie ansetzt, eine groß angelegte Rekonstruktion des eigenen Gewordenseins. Man darf gespannt sein, wie es weitergeht.