Auch wenn die Metapher ein wenig schräg daherkommen mag – für mich gleicht das vorliegende Buch einem Fonduegericht mit fünf oder sechs Soßen. Im übertragenen Sinne: Immer wenn man das Fleisch in eine Soße tunkt, ist man begeistert und wäre bereit, das ganze Essen nur noch diese Soße zu sich zu nehmen. Dann probiert man die nächste Soße. Wow! Die ist auch klasse. Mit der dritten und vierten verhält es sich ganz ähnlich. Welche eine verschwenderische Üppigkeit in der literarischen Entfaltung. Pip Taylor, ihre Mutter Anabel, Andreas Wolf, Tom Aberant, Leila und Annagret – lauter psychologische Universen, die einen ganzen Roman tragen könnten, die aber eingefügt werden in einen epischen Wurf von erstaunlicher Breite. Franzen beginnt seine Geschichte mit Pip Taylor, dann tritt Andreas Wolf in den Mittelpunkt, schließlich Sheila, und man denkt: Junge, Junge, jetzt wird es aber kompliziert. Dann kommt aber noch die komplette Biografie und Liebesgeschichte von Tom Aberant und Anabel hinzu – alles superfrisch und interessant erzählt, ohne dass man die Gesamtheit der Handlungsbühne aus den Augen verlieren würde.
Diese Romanhandlung an dieser Stelle nachzuzeichnen, verbietet sich allerdings gleich aus mehreren Gründen. Erstens sollte man das in einer Rezension nicht unbedingt machen (deswegen bin ich schon oft gerügt worden), andererseits wirken Romanzusammenfassungen immer etwas kolportagehaft, womit man dem Werk Unrecht tut. Trotzdem sollen die Schauplätze und der Plot wenigstens angedeutet werden. Der Roman spielt in der zusammenbrechenden DDR, in verschiedenen Orten der USA und in Bolivien, und er dreht sich im Kern um dreierlei: um das Whistleblowertum und die mit ihm verbundene Heuchelei, um bestimmte neurotische Tendenzen des Feminismus und natürlich um die Beziehung von Männern und Frauen, die einfach nicht mehr zusammen passen, sobald sie geheiratet haben. Das hört sich nicht sonderlich aufregend an, doch wie Franzen seine Geschichte erzählt, ist einfach umwerfend – und zwar aus drei Gründen (1) Wieder erweist sich Franzen als Meister der Sprache (siehe unten), dann wie schon in seinen vorangegangenen Werken (2) als großer Psychologe, der die Innenwelt seiner Protagonisten bis in die feinsten Verästelungen ausleuchtet und (3) als gewiefter Geschichtenkonstrukteur, der über die ganze epische Breite des
Romans die Fäden souverän zu verknüpfen weiß. Ohne dass man als Leser unbedingt aufschlüsseln könnte, warum, sind die Figuren des Romans dem Leser schon nach kurzer Lektüre erstaunlich vertraut – und das bis in die Nebenfiguren hinein. Nichts ist schludrig dahingeworfen, jeder Charakter ist prägnant bis in die kleinesten Einzelheiten konzipiert. Meine Lieblingsfigur ist der Journalist Tom Aberant, der erst gegen Mitte des Romans als eine der Hauptfiguren sichtbar wird. Ebenso packend die Gestalt Anabels: Eine derartig detailliertes Psychogramm einer neurotischen modernen Frau (die Feminismus und Kunst nur als Folie zum Ausleben ihres Neurotizismus benutzt) habe ich noch nie gelesen. Allein dieser Buchteil lohnt den Kauf des ganzen Romans.
Der Bezug zum Titel „Unschuld“ (im Englischen eigentlichen Purity – „Reinheit“ hat sich mir allerdings nur auf der Ebene der Mutmaßungen erschlossen, weswegen ich sie nur in aller Vorsicht äußere. Im letzten abstrakten Sinne erscheint mir „Reinheit“ bzw. „Unschuld“ wie eine verhexte regulative Idee, die nie verwirklicht werden kann, deren Verfolgung aber das Gegenteil dessen hervorbringt, was sie eigentlich ausdrückt – etwa in dem Sinne, dass das Streben nach der Beibehaltung der unschuldigen, reinen Liebe des Frühstadiums die Protagonisten überfordert und die alltägliche Liebe verkrüppelt oder – noch deutlicher – der Umstand, dass gerade diejenigen, die im Dienste scheinbar hehrer ideale am meisten enthüllen, die gleichen sind, die in Bezug auf sich am meisten zu verbergen haben (Julian Assange lässt grüßen).
Eine weitere Stärke des Buches besteht in der verschwenderischen Vielfalt seiner Metaphern und Sprachbilder, die mitunter dem Leser ganze Bezirke der Wirklichkeit auf eine neue Weise enthüllen. Dafür einige Beispiele, auch wenn sie sich aus dem Zusammenhang gerissen, ein wenig plakativ anhören mögen: Eine Ehe, so heißt es an einer Stelle ist ein Vertrag, der an einem Allhzeithoch geschlossen wurde, nachdem es nur noch abwärts gehen kann. Technische Analyse als Ehetherapie. Nicht schlecht. Oder: Die Begegnung der Seelen kann auf Dauer nur über die Körper gelingen. Wie wahr, wie wahr. Über diesen Satz könnte ich stundelang meditieren. Auch gut: Freundschaften werden durch „Geheimnisse“ geschaffen und am Leben gehalten. Wem keine Geheimnisse mehr mitgeteilt werden, der ist out. Auch sprichwortverdächtige Sentenzen an der Grenze von Weisheit und Kalauer sind zu lesen, etwa: „Sie dachte, sie brauche einen Mann in Wahrheit brauchte sie einen Muffin“, oder: Manchmal offenbart sich Schönheit nur durch Vertrautheit.“ Ein klein wenig politisch Inkorrektes gibt es auch: „Das einzig
Grüne, was ihn interessierte waren Gewürzgurken“. Das wird Volker Beck anders sehen. Und „Whistleblower werfen scheiße gegen die Wand und warten, was bleibt.“ Die Internationale des Denunziantentums lässt grüßen. Bitter aber treffend auch die Anmerkungen zum „Selbstgefälligkeitsniveau bei Journalisten“ am Beispiel der New York Times. Pornographie, so am Beispiel des zwanghaft onanierenden Andreas Wolf, erzeugt einen „Kurzschluss“ im Gehirn, genauer gesagt: eine blitzartig einsetzende Regression, die den Rest der Person völlig ausschaltet, weswegen ihre massenhafte Verfügbarkeit zum Nulltarif so gefährlich ist. Insofern ist Pornografie genau das Gegenteil von Literatur, die – wenn sie gelingt – die ganze Person ergreift. Jetzt muss ich aber langsam aufhören, sonst verrate ich noch zu viel.