Nach einem weitverbreiteten Verständnis entstanden die heutigen europäischen Völker in der Epoche des frühen Mittelalters. Damals, im Schnittpunkt von Rom, Christentum und Germanentum, hoben Proto-Briten, Proto-Deutsche, Proto-Franzosen oder Proto-Italiener zum ersten Mal zaghaft ihre Barbarenschädel aus dem Hexenkessel der Völkerwanderung. Bis auf den heutigen Tag projizieren sie ihr nationales Selbstverständnis bis in die Spätphasen des römischen Reiches zurück. Das ist natürlich nicht nur extrem vereinfacht, sondern auch falsch.
Patrick J. Geary, einer der Nestoren der sogenannten „Genetic History“, will in dem vorliegenden Buch beschreiben, wie sich die Ethnogenese der frühmittelalterlichen Völker zwischen Diokletian und Karl dem Großen wirklich vollzog. Seiner Ansicht nach handelte es sich um ein Geschehen, das man sich wie einen ethnogenetischen Schleudergang vorstellen muss, bei dem Goten, Franken, Vandalen, Sueben, Alemannen und viele andere „Völker“ aus der Vermischung unzähliger heterogener Clans, Horden und Gruppierungen entstanden, denen erst im Nachherein eine „Identität“ (oft von außen) übergestülpt wurde. So waren zum Beispiel die Alemannen alles andere als eine Ethnie, sondern ein Sammelsurium von Gefolgschaftsverbänden und Räuberbanden aus den unterschiedlichsten Stämmen. Kroaten und Serben entwickelten sich aus versprengten slawischen Vasallen des zusammenbrechenden Awarenreiches, während die ethnografische Grundlage des Frankenreiches auf der Vermischung von germanischen Franken und romanisierten Kelten beruhte. Für die germanischen Stämme am Rhein hat das dies kürzlich auch der Kölner Althistoriker Thomas Fischer in seinem Buch „Gladius. Roms Legionen in Germanien“ sehr anschaulich nachgewiesen.
Maßgeblich für die Ethnogenese ist also kein „rassisch“ fundiertes „Volkstum“, sondern eine Kombination aus Sprache, Kultur, Mythen und einer kaum überschaubaren Gemengelange verschiedener demografischer Zuflüsse von allen Seiten. Die wichtigsten Verbindungs- und Scheidelinien dieser Ethnogenesen waren religiöse Einflüsse (Arianismus versus Katholizismus), territoriale Prägungen (Provinzgrenzen) und Rechtsverhältnisse, ganz zu schweigen von geschichtlichen Zufällen oder den Vorlieben von Herrscherhäusern ihre Genealogien bis in die tiefste Vergangenheit zurück zu projizieren.
Wie gesagt, das ist im Detail interessant zu lesen, aber eigentlich nicht neu. Neu und bemerkenswert dagegen ist der pädagogische Impetus des vorliegenden Buches. Denn der Autor ist überzeugt davon, dass die Geschichte des frühen Mittelalters missbraucht wird. Rechtsradikale und populistische Wirrköpfe benutzen sie, um ihre Fremdenfeindlichkeit durch Verweis auf vermeintlich „statische“ und biologisch fundierte Nationalitäten zu rechtfertigen. Gegen diese Tendenzen will der Autor zu Felde ziehen, was im Prinzip löblich ist, wenn er dabei nicht einen regelrechten Pappkameraden aufbauen würde, gerade so, als sein alle vielgeschmähten „Populisten“, wer immer das auch sein mag, überzeugt, dass Arminus ein Deutscher oder Vercingetorix ein Franzose war.
Dieser pädagogische Impetus beruht auf einer grundlegenden Sichtweise des Autors, die in ihrer Verabsolutierung nicht überzeugen kann. Denn der Autor scheint die Ethnogenese als einen immerwährenden extrem fluiden Prozess zu betrachten, für den es keine Grenzen zu geben kann und soll. Das ist aber in dieser Verabsolutierung nicht richtig. Es mag Verschmelzungsprozesse geben wie etwa den der Romanen und Westgoten in Spanien oder der Sachsen und Kelten in Britannien, aber viel beharrlicher wirken die Abstoßungskräfte ethnischer Gruppen selbst über Jahrhunderte hinweg. Die Nationalitätenkriege im ehemaligen Jugoslawien lassen ebenso grüßen wie die Massaker in Tschetschenien. Im Grunde sind nicht Milosevoic oder Madame Le Pen das Problem, sondern die Menschen, die ihnen zu Millionen folgen. Aber warum tun sie das? Warum wollen die meisten Völker partout nicht im imperialen Einheitstopf respektive in die „One World“ Gesellschaft aufgehen? Woher bezieht der Widerstand gegen den permanenten Schleudergang der Ethnogenese seine Kraft? Antwort: Aus den Imperativen der Selbstbehauptung!
Denn die Ethnogenese durch Zuflüsse von außen ist kein Kindergeburtstag. Im überwiegenden Teil der nachweisbaren historischen Fälle beinhaltete sie Entrechtung, Raub Vergewaltigung und Mord. Gerade die Forschungen der „Genetic History“ haben Befunde zutage gefördert, nach denen zum Beispiel die indogermanische „Besiedlung“ Europas vor etwa vier- bis fünftausend Jahren ein ungeheures Blutbad war. Diese Schattenseite der Ethnogenese durch Migration herunterzuspielen, ist kein besonderes Merkmal des vorliegenden Buches, sondern gehört zum gängigen neoliberalen Narrativ, nach dem Migration ausschließlich positiv gesehen werden soll, In diesem Denkrahmen existiert kein Recht der Selbstbehauptung der autochthonen Bevölkerung, einfach, weil es nach Meinung des Autors überhaupt keine wirklichen Autochthonen gibt, sogar wenn sie schon seit tausend Jahren vor Ort leben. Thilo Sarrazin hat erst kürzlich in seinem Buch „Der Staat an seinen Grenzen“ die gegenteilige Auffassung überzeugend dargelegt.
Wenn sich also im gegenwärtigen Europa Gruppen bilden, die die eigene Kultur gegen Überfremdung verteidigen wollen, antworten sie auf ein konkretes Szenario der Bedrohung. Die Wahrnehmung dieser Bedrohung mag übertrieben sein, ihr aber einfach die Legitimität abzusprechen, weil die Ethnogenese immer fluide gewesen sei, wird der Not der Betroffenen nicht gerecht. Dass der Autor für diesen Aspekt keine Antenne besitzt, bedeutet eine enorme Verengung des Problemhorizonts. Das vorliegende Buch kann also als ein solides Geschichtsbuch über Spätantike und Frühmittelalter gelesen werden. Das politisch hyperkorrekte Dressing, mit dem der Autor seine Fakten garniert, kann man als Kotau vor dem Zeitgeist getrost überlesen.