Seit dem Vortrag des Briten William Jones im Jahre 1786 über die strukturelle Ähnlichkeit des indischen Sanskrit , der iranischen Dialekte und der europäischen Sprachen ist das so genannte „Indoeuropäertum“ in der Welt. Unter Indoeuropäern (im deutschen Sprachraum auch gerne als „Indogermanen“ bezeichnet) versteht man die mit Abstand größte Sprachfamilie der Welt, deren Angehörige vor etwa 7000 Jahren im Norden des Schwarzen und Kaspischen Meeres lebten und in mehreren Schüben nach Europa, in die Iran und nach Indien einwanderten.
Im Unterschied zu früheren Darstellungen, die diesen Prozess als militärische Eroberung verstehen wollten, glaubt Harald Haarmann mit der Mehrheit seiner Forscherkollegen daran, dass es sich dabei um einen längerfristigen, oft recht unspektakulären Prozess gehandelt hat. Die Befunde seines Buches beruhen auf einer Zusammenschau dreier Wissenschaften: der vergleichenden Linguistik, der Archäologie und der Paläogenetik, die es neuerdings erlaubt, die genetische Verwandtschaft weit entfernt voneinander gefundener menschlicher Überreste festzustellen.
In ihrer Urheimat, in den Steppen Südrusslands, domestizierten die frühen Indogermanen das Pferd (später entwickelten sie den Streitwagen) und lebten als Viehnomaden in einer patriarchalischen und streng hierarchisch gegliederten Gesellschaftsordnung. In der so genannten „atlantischen Epoche“ der europäischen Klimageschichte (6900-4100 vdZ.)erlaubte eine hinreichende Feuchtigkeit die Ausdehnung der Weiden, ehe Dürreperioden ab 4000 vdZ. sie dazu zwangen, ihre Weideflächen auszuweiten, was sie in Konflikt mit benachbarten Ackerbaukulturen brachte
Vor diesem Hintergrund beginnt etwa um 4000 vdZ. die Expansion der Indoeuropäer über weite Teile Europas und Südasiens. Wieder betont der Autor, dass dieser Prozess der Indoeuropäisierung nicht als Ablösung «primitiver» Kulturen misszuverstehen sei, kann aber nicht so recht erklären, warum die Träger dieser kulturell und zahlenmäßig überlegenen Ackerbaukulturen nach und nach die Sprache der Zuwanderer annahmen. Aber es passierte, und so entstanden im Laufe der folgenden Jahrtausende die iranischen, indischen, anatolischen, italischen, germanischen, keltischen, slawischen und baltischen Sprachen, parallel dazu Griechisch, Thrakisch, Illyrisch, Venetisch, Phrygisch, Armenisch, Tocharisch, Albanisch. Die Abspaltungsprozesse dieser Sprachenvielfalt vom Urindoeuropäischen setzen in jedem Fall vor 1000 vdZ ein, in den meisten Fällen vor 2000 v. Chr.
Wie weit und alles andere als planvoll die indoeuropäischen Gruppen dabei durch die Weiten Eurasiens gewandert waren, zeigen die berühmten Mumien von Ürümchi aus der Zeit von etwa 1000 vdZ .Zur Überraschung der chinesischen Archäologen zeigten die rekonstruierten Physiognomien der Mumien europide Züge, und auch die DANN-Analyse ergab eindeutige Übereinstimmungen mit indoeuropäischen Populationen in Osteuropa.
Lange bevor sich die Indoeuropäer an die Seidenstraße verirrten, wanderten die indoeuropäischen Hethiter nach Kleinasien ein, wo sie im 2. Jahrtausend vdZ. ihr Großreich gründeten. Es brach zusammen unter der Anbrandung der sogenannten „Seevölker“, die um 1200 v. Chr. das östliche Mittelmeer heimsuchten. Auch bei Ihnen soll es sich um indoeuropäischer Horden gehandelt haben, die vor Klimaverschlechteurngen (passt immer!) in den östlichen Mittelmeerraum flüchteten. Man sieht: bei den Indoeuropäern war immer was los, und wenn keine Streitwagen vorhanden waren, stiegen sie eben auf Schiffe um. Möglich, dass damals die Philister nach Israel kamen, wo sie auf die Israeliten trafen, die nach ihrer 40-jährigen Wanderschaft sich anschickten, das Land zwischen Jordan und Mittelmeer zu besetzen. Der Kampf der Philister und der Israeliten eröffnete ein Drama, dass sich bekanntermaßen ein bisschen die Gegenwart fortsetzt.
In Indien drangen die Indoarier, eine Untergruppe der Indoeuropäer, etwa um 1700 vdZ. in den Norden des indischen Subkontinentes ein. Die indische Mythologie glorifiziert diese Invasion als arischen Eroberungszug von Streitwagenlenkern, die über das Geschmeiß der Ureinwohner triumphiertem. So war es aber ganz bestimmt nicht gewesen, meint Haarmann und verweist auf die kulturellen Errungenschaften der Induskultur von Harappa und Mohedscho Daro. Auch die griechische Mythologie bewahrt die Erinnerung an die Einwanderung kriegerischer Stämme, die realgeschichtlich auf die mykenische Zeit und die dorische Wanderung zurückführen. Der Trojanische Krieg lässt grüßen. Wie wenig übrigens eine Sprachverwandtschaft über den Frieden zwischen den Völkern aussagt, lässt sich gut beim Vergleich von Iranern und Indern sehen. Obwohl sprachlich eng verwandt, bestehen kulturell zwischen Islam und Hinduismus unüberbrückbare Gegensätze.
Am Ende verschwinden die Indoeuropäer in den neu entstehenden Sprachgemeinschaften, die erst sehr viel später zur Ethnogenese der Völker beitragen wird. Damit endet das Buch, das nicht einfach zu lesen, aber hilfreich für jeden ist, der sich dafür interessiert, wie aus dem indoeuropäischen Eintopf die Sprachenvielfalt der europäischen, iranischen und indischen Völker entstand.