Im Wechsel von vita activa und vita contemplativa steckt das Glück des Lebens, mutmaßten die Altvorderen. Wie aber verhalten sich beide zueinander und vor allem: was sind ihre Bestandteile? Die klassische Antwort auf diese Frage gibt die politische Anthropologie der deutschjüdischen Philosophin Hannah Arendt in ihrem Buch „Vita activa oder vom tätigen Leben“.
Zunächst eine Überraschung, denn die Autorin ordnet im Unterschied zur landläufigen Meinung die vita contemplativa der vita activa eindeutig unter. Ihre These: Die vita activa ist die Seinsweise, in der sich der Mensch in der Welt behauptet und bewährt, nur auf ihre Grundlage kann es überhaupt eine vita contemplativa geben.
Wie verhält es sich aber nun mit der Vita activa im Einzelnen? „Mit dem Wort Vita Activa sollen im Folgenden drei Grundtätigkeiten zusammengefasst werden: Arbeiten; Herstellen und Handeln“, erklärt die Autorin, wobei sie der Arbeit eindeutig den untersten Rang zuordnet. „Arbeiten“ bedeutet die immer erneute Sicherstellung der lebenserhaltenden Prozesse, sie ist ein weltloser Zustand der „Mühe“, die den Arbeitenden, den „animal laborans“ zu den immer gleichen, „kreisenden“ Verrichtungen zwingt. „Herstellen“, die nächsthöhere Tätigkeit, ist das Werk des „homo faber, der sein Tun im „Modus der Absonderung“ vollbringt. Herstellen als Prozess hat einen Anfang und ein Ende, der dann erreicht ist, wenn das fertige Produkt vorliegt. Herstellen folgt dem Zweck-Mittel-Denken und erschafft eine Dingwelt, in der sich der Mensch häuslich einrichten kann.
Wie aber steht es mit dem Handeln? „Das Handeln“, schreibt Arendt „ist die einzige Tätigkeit der vita activa, die sich ohne Vermittlung von Materie, Material und Dingen direkt zwischen Menschen abspielt.“. Sie ist die höchste Seinsform der Vita activa, weil sie sich in der Pluralität bzw. in der Öffentlichkeit abspielt, in der sich die Menschen im Medium der Freiheit und unter dem Risiko des Scheiterns als die erweisen, die sie sind.
Hannah Arendt wird in dem vorliegenden Buch und übrigens auch in ihren anderen Schriften nicht müde, dieses Handeln als die höchste Seinsform des Menschen zu feiern. Der erste „Erscheinungsraum“ dieses Handelns war die klassische Polis in der Antike, in deren Öffentlichkeit Perikles und Ephialtes, Alkibiades und Sokrates vor aller Augen jeder für sich als „zoon politikon“ agierten. Politik ist also nichts anderes als der Erscheinungsraum des Handelns unter den Bedingungen der Freiheit
Unnötig anzumerken, dass es eine so definierte politische Sphäre der Öffentlichkeit, in der freie Individuen unter dem Risiko des Scheitern die Chance der Freiheit ergreifen und „handeln“ in der Moderne nicht mehr gibt. In der Epoche der Massendemokratien sind es nur die kurzen Startphasen der Revolutionen, in denen handelnde Menschen auftauchen und dem Rad der Geschichte eine neue Richtung geben. Das Faszinierende und zugleich Befremdliche an diesem Ansatz ist allerdings, dass es die Autorin nicht sonderlich zu interessieren scheint, in welche Richtung sich dieses Rad dann dreht, wenn nur hinreichend Gelegenheit besteht, für Menschen im Medium der Pluralität frei und öffentlich an diesem Rad zu drehen.
Und wehe dem „bios theoretikos“, der mit dem Anspruch absoluten Wahrheit die politische Sphäre nach den Regeln der Zweck-Mittel-Logik gleichsam optimal „herstellen“ will. Er wird die Erfahrung machen müssen, dass er aus der Sphäre der vita contemplativea in die Welt des Handelns hinausfällt, in der es keine absolute Wahrheit sondern nur das Wagnis des eigenen Handelns und immer auch die Möglichkeit des Scheiterns gibt.
Ich habe Hannah Arendts epochales Werk schon als Student und später immer aufs Neue mit zunehmendem Interesse gelesen und kann die Lektüre dieses in ganz besonderem Maße zeitgemäß-unzeitgemäßen Werkes nur jedermann empfehlen. Es besticht nicht nur durch eine schier unüberschaubare Vielzahl von Einzelstudien sondern es ermöglicht mit seinen kategorialen Grundbestimmungen des menschlichen Tätigseins ein ganz neues Verständnis der menschlichen Welt.