Bildung bedeutet nicht, möglichst viele Fakten im Kopf zu haben, die man ausspucken kann wie ein Telefonbuchidiot, sondern Bildung bezeichnet die Fähigkeit, Details und Struktuenr in den richtigen Kontext zu stellen. Das besondere an dem vorliegenden Buch besteht darin, dass es genau das leistet – und das auf einem Feld, das man sich kaum ausgedehnter vorstellen kann: dem Feld der Weltgeschichte. Es präsentiert dem Leser die Weltgeschichte als eine rasante Achterbahnfahrt vom ostafrikanischen homo sapiens bis zum Silicon Valley.
Das Buch ist in vier Kapitel aufgeteilt: in die sogenannte „kognitive Revolution“, die „landwirtschaftliche Revolution“ , ein Kapitel über „Die Vereinigung der Menschheit“ und als letztes „Die wissenschaftliche Revolution“. Besonders neu hört sich das nicht an, aber die Art und Weise, wie der Autor die Leser durch die Jahrtausende führt, hat etwas Faszinierendes. Die Menge der dabei zutage geförderten Details, Anekdoten und Zusammenhänge sind so zahlreich, dass sie im folgenden auch nicht in Ansätzen aufgezeigt werden können. Einige Beispiele müssen genügen.
Der erste Buchteil über die „kognitive Revolution“ beginnt mit der Darstellung der Menschwerdung. Der homo sapiens ist das „gehirnspezialiserte Tier“ und aufrecht gehende Wesen, aus dessen Vorderbeinen sich Arme und Hände entwickeln, mit denen er immer spezialisiertere Artefakte herstellen kann. Wegen seines großen Kopfes kommt er als faktische Frühgeburt auf die Welt und ist auf Sozialität und Gruppenzusammenhalt angewiesen. Die Erfindung des Feuers und damit des Kochens steigert die Essbarkeit der Umwelt und verkürzt die Verdauungszeit. Die Länge des Darms geht zurück, was Energie frei macht für das weitere Wachstum des Gehirns.
Noch bedeutender als das Feuer war die „Erfindung“ der Sprache vor etwa 70.000 Jahren. Wie sie sich genau vollzogen hat, ist noch immer ein Rätsel, Hariri tendiert zu einer Positivmutation als Erklärung. Auf jeden Fall gelangen dem homo sapiens bald nach der Etablierung der Sprache eine Reihe von technischen Innovationen Erfindungen, was unmöglich ein Zufall sein kann. Er verließ Afrika und begann, die Welt in Besitz zu nehmen. Die Erfindung der Sprache diente übrigens nicht nur der viel besseren Beschreibung der Realität, sondern der Entstehung einer zweiten Welt der Imagination oder genauer: der Mythen. Mythen, so Hariri, sind gemeinsame Erzählungen, die die Kraft besitzen, Gesellschaften über die magische Grenze von 150 Personen, mit denen man persönliche Beziehungen unterhalten kann, hinauszugehen und größere Kollektive zu bilden. Die Erfindung einer Sprache der Fiktion ist gleichbedeutend mit der Erfindung der Kultur. Damit löst sich der Fortschritt von den Genen löst und ein schier unbegrenzter Horizont der Möglichkeiten eröffnet sich.
Die landwirtschaftliche Revolution des Neolithikums vor gut 10.000 Jahren bezeichnet der Autor als einen „großen Betrug“, denn sie brachte dem Menschen viel mehr Arbeit und weniger vielfältige Nahrung. Nicht der Mensch hat den Weizen domestiziert, so Hariri, sondern der Weizen den Menschen. Vorher bewegte sich der homo sapiens freier, war flexibler und nicht so oft krank, denn die Krankheiten kamen erst mit der Domestikation der Tiere. Allerdings ermöglicht die Sicherung der Nahrungsgrundlage, die Einführung von Arbeitsteilung und Schrift die Entstehung von Städten, Verkehrswegen, Vorratshaltung und Staaten, später die Metallgewinnung und die Entstehung der Architektur.
Mit dem Beginn der großen europäische Entdeckungen beginnt sich das Bühnenbild des homo sapiens ins Globale auszuweiten, und das gleich in dreifacher Weise. „Die erste universelle Ordnung war wirtschaftlicher Natur: Es war die Ordnung des Geldes. Die zweite Ordnung war politischer Natur: die Ordnung der Imperien. Und die dritte Ordnung war religiöser Natur: die Ordnung von Weltreligionen wie dem Buddhismus, dem Christentum und dem Islam.“
Im Hinblick auf die Religionen unterscheidet Hariri den „toleranten“ Polytheismus mit seiner impliziten Dualismusethik vom eher „intoleranten“ Monotheismus, der wie ein Gemischtwarenladen der religiösen Ausdrucksformen daherkommt. „Vielleicht lassen sich die monotheistischen Religionen noch am ehesten als kunterbunte Mischung aus monotheistischen, dualistischen, polytheistischen und animistischen Zutaten verstehen, die in einem monotheistischen Topf verrührt werden. Der Durchschnittschrist von heute glaubt an einen monotheistischen Gott, einen dualistischen Teufel, polytheistische Heilige und animistische Geister.“
Neu ist in der Moderne die Entstehung sogenannter „Naturgesetzreligionen“ ohne Gott, die wie etwa der Marxismus, die von gültigen Fahrplänen der Weltgeschichte ausgehen. Eine klassische Naturgesetzreligion ist der Liberalismus, der an die allgemeine Wohlfahrt aller durch konsequente Verfolgung des Eigennutzes glaubt. Er postuliert, dass alle Menschen das Recht haben sollten, ihre Regierung selbst zu wählen, statt sklavisch einem König zu gehorchen, dass alle Menschen das Recht haben sollten, ihren Beruf frei zu wählen, statt in eine bestimmte Kaste geboren zu werden, dass alle Menschen das Recht haben sollten, ihre Partner frei zu wählen, statt jemanden zu heiraten, den ihre Eltern für sie ausgesucht haben und dass alle Menschen das Recht haben sollten, ihre Religion frei zu wählen. Naturgesetzreligionen implizieren eine Berechenbarkeit der Geschichte, was der Autorallerdings für Blödsinn hält, denn in Wahrheit ist die Geschichte voller unvorhersehbarer Verläufe. „Als Kaiser Konstantin im Jahr 306 den Thron bestieg, war das Christentum nicht mehr als eine esoterische Sekte aus dem Nahen Osten. Die Vorstellung, dass sie kurz davor stand, das Römische Reich zu erobern, war genauso lachhaft wie der Gedanke, Hare Krishna könnte in fünfzig Jahren die Staatsreligion Europas werden. Im Oktober 1913 waren die russischen Bolschewiken eine unbedeutende Gruppe von Radikalen, von der niemand ernsthaft erwartete, dass sie in Russland die Macht ergreifen würde. Geschichte ist also wie das Wetter ein chaotisches System „erster Ordnung“, d.h. sie lässt sich nicht vorhersagen. Chaotische Systeme zweiter Ordnung sind Systeme, die durch ihre Vorhersagen beeinflusst werden, wie etwa die Wirtschaftsordnung des 19. Jhdts.. die durch die Katastrophenvoraussagen der Sozialisten verändert wurde.
Innerhalb des Geschichtsablaufes kommt den Kulturen, also den großen Erzählungen die ausschlaggebende Bedeutung zu. Eine Kultur ist erfolgreich, wenn es ihr gelingt, ihre „Meme“ oder, postmodern gesprochen, ihre „Narrative“ zu verbreiten. Ob diese Memme oder Narrative wahrhaftig sind, spielt keine Rolle. Im Gegenteil, sie können sogar schädlich sein. „Immer mehr Wissenschaftler betrachten Kulturen als eine Art Geisteskrankheit oder mentalen Parasiten und die Menschen als deren hilflose Wirte. Physische Parasiten leben im Körper ihrer Wirte. Sie vermehren sich, springen von einem Wirt zum nächsten über, ernähren sich vom menschlichen Körper, schwächen ihn und bringen ihn manchmal sogar um. Wenn der Wirt lange genug lebt, um die Parasiten weiterzugeben, ist ihnen der Zustand ihres Wirts gleichgültig“
Das neue Zeitalter des Wissens, das mit dem 16. Jahrhundert anbricht, unterscheidet sich nach Hariri von der vorhergehenden Epoche dadurch, dass man davon ausgeht, dass der Horizont des Nichtwissens prinzipiell unendlich ist. Vorher gab es praktisch kein Nichtwissen. Alles Wichtige stand in der Heiligen Schrift, und wenn es dort nicht stand, war es nicht wichtig.
Revolutionär wird diese Haltung durch die Verbindung dieser Art von „neugieriger Wissenschaft“ mit einer anwendungsbezogenen Technologie. „Diese Beziehung zwischen Wissenschaft und Technologie ist jedoch eine sehr neue Erscheinung. Vor 1500 waren Wissenschaft und Technologie zwei klar getrennte Gebiete. Als Bacon zu Beginn des 17. Jahrhunderts vorschlug, die beiden zu vereinen, war dies ein revolutionärer Gedanke Es beginnt eine gezielte Forschung, die vor allen Dingen auf dem Gebiet der Militärtechnologie Fortschritte erzielt (die Europa die Weltherrschaft bringen sollten). Sie wird begleitet von der Neigung der Europäer, die Welt nicht nur zu erobern, sondern auch zu erkunden. „Als die Engländer Indien eroberten, hatten sie all diese Wissenschaftler im Gepäck. Am 10. April 1802 begann The Great Survey of India, die Große Trigonometrische Vermessung des Subkontinents, die sechzig Jahre dauern sollte. Unterstützt durch Zehntausende indische Arbeiter, Gelehrte und Führer kartographierten die Briten ganz Indien, markierten Grenzen, maßen Entfernungen und berechneten erstmals die exakte Höhe des Mount Everest und anderer Gipfel des Himalaja.“ Dieses Zusammenspiel von Wissenschaft/Technolige und Imperium entwickelt eine gewaltige explorative Kraft in der Erforschung fremder Kulturen, So enträtselte Rawlinson die Keilschrift und Jones verfasst seine bahnbrechende Arbeit über das Sanskrit. Alle britischen Beamten in Indien mussten drei Jahre lang in Kalkutta die Schulbank drücken und einen Kurs in indischer Kultur absolvieren. Auf der anderen Seite führen diese Haltung zu einem Gefühl der rassischen Überlegenheit und der Idee des „White Mans Burden“
Eine weitere Ursache der gewaltigen Beschleunigung ist der Durchbruch des Kapitalismus. Auch hier macht der Autor bestimmte Mentalitäten aus, die wichtig sein soll, nämlich das „Vertrauen“, das die Investitionsneigung erhöht. Der Kapitalist ist kein Konsumer, sondern ein vertrauensvoller Investierer. Dieses Vertrauen in die Zukunft führt zur Entstehung eines Kreditwesens, das über den Aufstieg und Untergang der Imperien entscheidet. Der Aufstieg der Holländer zur Kolonialmacht wäre ohne den Kredit europäischer Bankhäuser nicht möglich gewesen. Im Weltgegensatz zwischen Frankreich und England siegte England, weil es den besseren Zugang zu den Finanzmärkten hatte. Wie Spanien war Frankreich ein unzuverlässiger Schuldner, dem niemand mehr Geld leihen wollte. Schließlich wird es üblich, dass die Politik im Dienste des Kapitals intervenierte ( etwa im Opiumkrieg oder beim Eingreifen Großbritannien in Griechenland, um die Revolutionsanleihen zu retten). Das zeigte, so der Autor, wie moralisch neutral der marktbezogene Kapitalismus ist. Er hat kein Problem damit, Anteile an Sklavenhandelsschiffen zu kaufen, an der bengalischen Hungerkatastrophe zu verdienen oder sich an der verbrecherischen belgischen Kolonialpolitik im Kongo zu beteiligen.
Der epochalste Veränderung war die Erfindung der Dampfmaschine, „Im Grunde genommen ist die Industrielle Revolution nichts anderes als eine Revolution der Energieumwandlung. Dank dieser Revolution stehen uns heute nahezu grenzenlose Mengen von Energie zur Verfügung.“ Damit war es möglich, Kraft zu erzeugen, Eisenbahn und Motoren zu bauen, später kam die Elektrizität hinzu.
Hariri ist der Meinung ,dass sich der Mensch durch die industrielle Revolution von der Natur emanzipiert hat, aber nur, um sich dem Zeittakt der industriellen Produktion (Uhr, öffentliche Verkehrsmittel, Wochenrhythmus) zu unterwerfen. Die revolutionärste Veränderung der Lebenswelt stellt die die Zerschlagung der Familie dar. Damit meint Autor, dass der Staat viele Fürsorgeaktivitäten, die früher der Familie oblagen, übernimmt und damit die Notwendigkeit der Familie als Wirtschaftseinheit hinfällig wird. Eine Koinzidenz entsteht: mit dem zunehmenden Individualismus wächst der Staatsinterventionismus. Die verbleibende Kernfamilie erfüllt weniger Funktionen der Existenzsicherung als der emotionalen Versorgung (emotionaler Hochdruckzone).
Dafür werden, so der Autor, „Ersatzgemeinschaften“ erfunden. Darunter versteht der Autor z. B. die Nation, was den Leser verwundert. Sie werden ergänzt durch übernationale Konsumentengemeinschaften (etwa die Fans von Lady Gaga oder Bayern München)
Warum gibt es angesichts des rasenden Wandels der jüngsten Vergangenheit nicht mehr Ruptionen, Brüche und Gewalt? fragte Autor und wundert sich, „dass die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg die friedlichste Epoche in der Geschichte der Menschheit waren. Das ist umso überraschender, als diese Zeit größere wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Umwälzungen erlebte als jede andere vor ihr. Die Erdplatten der Geschichte bewegten sich in irrwitzigem Tempo, doch die Vulkane blieben weitgehend still.“ Zum Beleg bietet der Autor einen Überblick über die Anteile von Gewalt und Tod beim Sterben der Menschen im Jahre 2000 (Die Gesamtzahl der Toten in diesem Jahr 2000 betrug 56 Millionen Menschen). „310.000 Menschen kamen in Folge von Kriegseinwirkungen ums Leben, und weitere 520.000 durch Gewaltverbrechen. Jedes dieser Opfer steht für den Verlust einer ganzen Welt, eine zerstörte Familie und großes Leid für Freunde und Verwandte. Doch diese 830.000 Opfer machen lediglich 1,5 Prozent aller Todesfälle des Jahres 2000 aus. Im gleichen Zeitraum kamen 1.260.000 Menschen bei Verkehrsunfällen ums Leben (2,25 Prozent), 810.000 Menschen starben an Selbstmord.(1,4 %) die Zahlen zeigen, dass mehr Menschen durch Kriminalität umkommen als durch Kriege. 1 % der Menschen kommen durch Gewaltverbrechen zu Tode, das finde ich nicht wenig, und diese Zahl scheint langsam zu steigen.
Was in Frieden der Welt betrifft, ist der Autor rätselhaft. optimistisch. „In der Vergangenheit standen viele Eliten der Welt – die Großkhane der Mongolen genau wie die Häuptlinge der Wikinger und die Priester der Azteken – dem Krieg sehr positiv gegenüber. Andere betrachteten ihn als ein notwendiges Übel, mit dem sie sich Vorteile verschaffen konnten. Heute werden wir erstmals in der Geschichte der Menschheit von einer friedliebenden Elite regiert“ Strack-Zimmermann lässt grüßen.
Am Ende, gleichsam als Fazit seiner Weltgeschichte, fragte Autor, ob der Mensch heute glücklicher sei als früher. Seine These: der Zuwachs an Komfort, wird durch den Abbau familiärer und emotionaler Bezüge mehr als ausgeglichen. Außerdem gibt es eine Hypertrophie der Erwartungen und Ansprüche, die die Menschen unglücklich macht. (z. B. die Araber im arabischen Frühling, die sich mit dem Westen verglichen und nicht mit den früheren Zeiten)
Schließlich kommt Hariri auf die biochemischen Grundlagen des Glücks zu sprechen: „Unser biochemisches System lässt nicht zu, dass es über ein bestimmtes Niveau nach oben oder unten ausschlägt, und führt uns langfristig wieder zum Ausgangspunkt zurück. Einige Wissenschaftler vergleichen unsere Biochemie mit einer Klimaanlage, die unsere Temperatur konstant hält, egal ob draußen eine Hitzewelle oder ein Schneesturm tobt. Äußere Ereignisse können sich kurzfristig auf die Temperatur auswirken, doch die Klimaanlage stellt die Ausgangstemperatur rasch wieder her.“ Allerdings ist dieses Gleichgewicht von Mensch der Mensch unterschiedlich, es gibt Menschen mit einer heiteren Biochemie, die glücklicher leben, egal was passiert, und Menschen mit einer trüben Biochemie, die immer traurig sind, auch wenn es Ihnen objektiv gut geht.
Das Buch endet mit der Frage nach Weiterentwicklung des Homo sapiens aus eigener Kraft. „Das Genom eines Sapiens ist kaum komplexer als das von Mäusen. (Das Genom einer Maus besteht aus 2,4 Milliarden Basenpaaren und das eines Sapiens aus 2,9 Milliarden)“ schreibt Hariri. „Das Sapiens-Genom ist also gerade einmal 17 Prozent länger, und vielleicht kann man bald mit Hilfe der Gentechnik und anderer Formen der Biotechnologie weitreichende Veränderungen an unserem Körperbau und unserem Immunsystem vornehmen und unsere Lebenserwartung steigern“.
Der Autor schildert die Fortschritte der Cyborgtechnik und der künstlichen Intelligenz. Künstliche Intelligenz sind Maschinen, die zum Selberlernen und zur Selbstoptimierung in der Lage sind – und wer will ausschließen, dass diese Systeme nicht eines Tages ein Bewusstsein gelangen. „Warum sollte das Bewusstsein für alle Zeiten auf organische Wesen beschränkt bleiben? Haben Wesen auf Kohlenstoffbasis etwas Magisches an sich, das Wesen auf Siliziumbasis für immer verschlossen bleiben muss?“
Der Autor beendet seine Weltgeschichte mit einem Ausblick auf den verschwindenden Homo sapiens und einen möglichen Aufstieg einer künstlichen Intelligenz. „In ein oder zwei Jahrhunderten wird die Erde von Wesen beherrscht werden, die noch weniger Ähnlichkeit mit uns haben als wir mit den Neandertalern oder Schimpansen. Doch noch haben wir Zeit, die Frage zu beantworten »Was wollen wir wollen?“