„Komödie ist Tragödie“ plus Zeit“, heißt es bei Woody Allen, aber wer hätte gedacht, dass die Menschheitstragödie der europäischen Judenvernichtung jemals zum Stoff einer Satire oder Komödie werden könnte? Seit dem internationalen Erfolg des Films „Das Leben ist schön“ hat sich die Beschäftigung mit diesem Trauma des 20. Jhdts. nun auch auf das Stilmittel von Komödie und Satire ausgeweitet. Literarisch gab es diesen Ansatz aber schon lange – erstmalig und bis heute unübertroffen vorgelegt von Edgar Hilsenrath in seinem Roman „Der Nazi und der Friseur“. Es ist eine wahrhaft unglaubliche Geschichte, die Hilsenrath dem schockierten Leser präsentiert, und das unglaublichste ist – die Geschichte ist bei allem Grauen nicht frei von Humor und Witz Wie ist so etwas möglich?
Wir schrieben das Jahr 1907. Max Schulz wird als unehelicher Sohn der Magd Minna Schulz, geboren, die zur gleichen Zeit ein Verhältnis mit fünf unterschiedlichen Bediensteten und Halbproleten unterhält so dass nicht klar wird, wer als der eigentliche Vater anzusehen ist. Der kleine Max, der von seinem widerwärtigen Stiefvater, dem Friseur Anton Slavitzki, regelmäßig vergewaltigt wird, freundet sich mit dem Nachbarsjungen Itzig Finkelstein an, dem Sohn des Friseurs Chaim Finkelstein. Der heranwachsende Max geht sogar bei dem Juden Chaim Finkelstein in die Lehre, was seinem erfolglosen Stiefvater Slavitzki übel aufstößt. Erst als der Nationalsozialismus seinen Siegeszug durch Deutschland beginnt, als Hitler wie ein Erlöser zu den Massen spricht, kommen die Verhältnisse ins Rutschen. Slavitzki und Max Schulz treten in die Partei ein und malträtieren alle Juden ihrer Umgebung – Slavitzki aus Neigung, der heranwachsende Max, weil alles es tun. Die freundlichen Finkelsteins werden nach dem Ausbruch des 2. Weltkrieges wie Millionen andere deportiert und treffen auf ihrer Todesreise durch den Osten Europas schließlich auf Max Schulz, der es inzwischen zum Unteroffizier eines Massenerschießungskommandos gebracht hat und der Finkelsteins ohne großes Zögern erschießt wie alles anderen auch.
Als die Ostfront schließlich zusammenbricht und die Angehörigen der Todeschwadrone in panischer Angst nach Westen flüchten, gelingt es Max Schulz sich in einer Bauernkate bei einer uralten Polin zu verstecken, ehe er diese Polin umbringt und sich bis Kriegsende nach Berlin durchschlägt.
Wie aber sollte der Massenmörder Schulz nun den Nachforschungen der Sieger entkommen? Nichts leichter als das. Max Schulz, der ohnehin von seinem Aussehen her an einem „Stürmer-Juden“ erinnert, gibt sich als der überlebende Itzig Finkelstein aus, lässt sich beschneiden und mit einer Auschwitz Tätowierung versehen. Solcherart von allen Nachforschungen der Siegermächte gefeit, steigt er als unter seinem neuen Namen und mit einem Sack Goldzähne ermordeter Juden als Grundkapital erfolgreich in das Schwarzmarktgeschäft ein, erlebt dabei aber zu seiner Überraschung die ganze Wucht des noch immer virulenten Antisemitismus am eigenen Leib, als sogar seine Geliebte, die „nordische Gräfin“, ihn als „Schwarzmarkt Juden“ verachtet.
Darüber grollt der ehemalige Massenmörder Max Schulz und der wiedererstandene Itzig Finkelstein derart, dass er auf eine Idee kommt, die der bizarren Handlung die Krone aufsetzt: er wandert mit Hilfe jüdischer Organisationen nach Palästina aus. Nach einer abenteuerlichen Fahrt auf der „Exitus“(!) landet der Finkelstein alias Max Schulz zuerst im Kibbuz und dann im Friseurgeschäft, wo ihm der Einstieg in eine reputierliche und hoch geachtete Existenz problemlos gelingt, ehe er als verheirateter Mann in den Sechziger Jahren an den Folgen einer Herzattacke stirbt.
Soweit der Abriss der Handlung, die aber die Stimmung des Buches nur sehr begrenzt wiedergeben kann. Seinen außergewöhnlichen Rang erhält das Werk erst durch das frappierende Nebeneinader von Grauen und Humor, die das Buch von der ersten bis zur letzen Seite durchzieht. Überall wird das stets latente Entsetzen durch den Einbau urkomischer Szenen, Gestalten und Einfälle kontrastiert. Frau Holle mit dem Holzbein, die versehentliche Fahrt des Soldaten Finkelstein zum Suezkanal, der tote Engländer, der in der Nacht an einen Haushaken abgehängt und erst am Morgen auf den höchsten Fahnenmast der Stadt zur Schau gestellt wird, die durchnummerierten Sessel im jüdischen Friseursalon von Beth David und das Haarwuchsmittel „Samson V2“ – schier unausschöpflich erscheint das Arsenal der Einfälle, mit denen der Autor den Leser unterhält, und der kann einfach nicht anders, als auch in diesem Buch mitunter herzlich zu lachen. Aber das Grauen und das Lachen sind nur Mittel um den Leser zur grundlegenden Einsicht des Werkes zu führen: der Einsicht, dass der Charakter der meisten Menschen eine einzige Leerstelle ist, dass sich die meisten einfach nur anpassen so dass sie ihr Leben ebenso gut zum SS-Mörder wie zum jüdischen Friseur beschließen können. Das ist schlimm und wahr, öffnet es doch den totalitären Systemen jeder Provinienz Tür und Tor und leider überhaupt nicht zum Lachen.