Der Experte ist der Mann der Stunde. Ob bei der Feinstaubbelastung, bei Rinderwahn oder Atomausstieg, überall verkünden Experten ihre Absicherung einer vermeintlich rationalen Politik. Grund genug für Caspar Hirschi, Professor für Geschichte an der Universität von St. Gallen, nach den geschichtlichen Ursprüngen und Rollenkonflikten des Expertentums zu fragen
Den Ursprung des Expertentums identifiziert Hirschi im Frankreich Ludwigs XIV, das die Rolle des Experten als Gerichtssachverständigem einführte und als seine Kernmomenten „Sachverstand du Unabhängigkeit“ definierte. Ihnen folgen die hoch angesehenen Koryphäen der großen Wissenschaftsakademien von Paris, London und Berlin, die im Auftrag des Königs strittige Sachfragen klärten – und schließlich hochspezialisierte Wissenschaftler, die als Mitglieder von Expertengremien Entscheidungen der Politiker legitimieren und abfedern sollten. In sechs wissenschaftsgeschichtlichen Fallstudien beschreibt der Autor die Probleme und Friktionen, die sich aus diesen Funktionszuordnungen ergeben und entwickelt dabei Bausteine zu einer Theorie des aktuellen Expertentums.
Die erste Fallstudie „Aufstieg und Fall eines drogenpolitischen Technokraten“ beschäftigt sich mit dem Psychopharmakologen David Nut, der im Zusammenhang mit einer Neudefinition der britischen Drogenpolitik seine Beraterrolle überdehnte und zum Aktivisten wurde. In „Der animalische Magnetismus vor dem Expertentribunal“ beschreibt das spannungsreiche Verhältnis außerwissenschaftlicher Autodidakten zur etablierten Wissenschaftsgemeinde. Wie sehr das Expertentum bereits in der Frühphase seiner Entwicklung die Tragfähigkeit seiner eigenen Urteile überdehnte, zeigt das Kapitel „Mord oder Selbstmord. Experten in der Affäre Calas“ am Beispiel eines Justizmordes im 18. Jahrhundert. Schon in die Untiefen der Detailanalyse führt das Kapitel über den Dreyfußskandal, dessen Verlauf entscheidend durch graphologische Expertisen beeinflusst wurde. Die mit Abstand interessanteste Fallstudie beschäftigt sich mit dem „Expertenbeben von L´Aquilea“. Im Vorfeld des Erdbebens von L´Aquilea, das im Jahre 2007 über 300 Menschenleben kostete, hatte sich ein Expertengremium vor den Karren einer verantwortungslosen Beschwichtigungspolitik spannen lassen. Hirschi bezeichnet diese Schwundform der Expertise als „klientelistische Expertenkultur“ und erkennt in ihr das Kennzeichen des modernen Expertentums überhaupt. Ihre Voraussetzung ist die fast vollständige Indienstnahme der Wissenschaft durch die Politik, und ihre Nutznießer sind politische Akteure jeglicher Couleur. Hirschi zeigt, dass selbst Lichtgestalten wie Obama nicht davor zurückschreckten, etwa im Zusammenhang mit dem iranischen Atom-Deal mit „handverlesenen Experten“ einer „uninformierten“ Journalistenöffentlichkeit ihre Sicht der Dinge als „Sachzwang“ zu verkaufen.
Aber der Autor geht noch einen Schritt weiter und enthüllt die Tiefenstruktur der der klientelistischen Expertenkultur in den sogenannten „Peer Reviews“. Ganz im Unterschied zur naiven Meinung des Publikums, das in den Peer Reviews Instrumente unabhängiger Qualitätssicherung erblickt, analysiert Hirschi dieses anonymisierte Verfahren als wirkungsvollstes Mittel einer herrschenden Expertokratie zur Sicherung von mainstreamkompatiblen Positionen.
Überblickt man die Thesen des Buches als Ganzes ist der Befund eindeutig: die klientelistische Expertenkultur, deren Mitlieder sehr genau darauf achten, den „Patron“ nicht zu verärgern und die sich selbst aus Karrieregründen gegen Irritationen und konkurrierende Experten abschließen, wirkt nicht immer, aber oft als Element der Transparenzreduktion und Entdemokratisierung innerhalb einer ein nur scheinbar rationalen Wissensgesellschaft.
Alles in alles hat Caspar Hirschi, ein ungemein anregendes und erhellendes Werk vorgelegt, dessen gelegentliche Schienbeintritte gegen einen ominösen „Populismus“ fast wie Pflichtübungen anmuten. Aber wahr ist auch, dass es eine Kritik mit der Handbremse ist. Jeder, der das vorliegende Buch unvoreingenommen liest, fragt sich, warum nicht die weltweit einflussreichste klientelistische Expertenkultur unserer Tage im Umfeld des Weltklimarates thematisiert wird. Es ist kaum anzunehmen, dass ein Experten-Experte wie Hirschi über die begrenzte Aussagekraft der Weltklima-Comuptermodelle, über „Klima-Gate“ und andere Relotius-Expertisen nicht informiert ist. Aber man darf auch nicht zu viel verlangen. Dass sich der junge Autor an diesem heißesten Experten-Eisen unser Tage nicht die Finger verbrennt, zeigt nur, wie gut die Tabus einer kleintelistischen Expertenkultur selbst bei ihren Kritikern noch funktionieren.