In der Geschichtswissenschaft hat man sich mitunter gefragt, warum sich der eurasische Großkontinent so viel schneller und höher entwickelte als der amerikanische Kontinent. Daran, dass Amerika erst vor gut 40.000 Jahren von Ostasien aus besiedelt wurde, kann es nicht liegen, denn zu dieser Zeit stand auch der eurasische homo sapiens gerade erst in den Startlöchern. Der Anthropologe Jared Diamond hat eine überraschende Antwort gegeben: es liegt an der Geografie! Die beiden großen Eckkulturen Eurasiens, China und der Mittelmeerraum (mit dem Iran in der Mitte), liegen auf einer Ost-West Achse, d. h. auf vergleichbaren Breitengraden und in ähnlichen Klimazonen, was den kulturellen und zivilisatorischen Austausch zwischen ihnen erleichterte. Diesen Austausch gab es in Amerika nicht. Die Anasazi in Colorado, die Mayas in Yukatan und die peruanischen Inkas wussten nichts voneinander, weil sich diese Kulturen auf einer weitgespannten Nord-Südachse befanden, was ihre Kontaktaufnahme mit den Mitteln der damaligen Zeit verunmöglichte. So blieben die altamerikanischen Kulturen in ihren eng begrenzten Umwelten wie in ökologischen Käfigen gefangen.
Ganz anders in Eurasien. Hier entwickelte sich seit der Zeitenwende ein Straßensystem, dass über neuntausend Kilometer die Zentren des chinesischen Kaiserreiches mit den Metropolen des Mittelmeerraums verband. Über diese Straßen zogen jahrtausendelang Händler und Mönche, Krieger und Missionare durch Wüsten und Flüsse, über Berge und Grenzen hinweg und konstituierten den ersten interkontinentalen Großraum der Erde. Die Rede ist von der Seidenstraße, der Achse der Welt und der Urmutter aller Globalisierung.
Thomas O. Höllmann, Präsident der bayrischen Akademie der Wissenschaften und international renommierter Sinologe, hat es unternommen, die Kultur und die Geschichte der Seidenstraße mit besonderer Fokussierung auf China auf der Grundlage des aktuellen Forschungsstandes vorzustellen. Diese Fokussierung auf China ist mehr als gerechtfertigt, denn es war China, dass ab dem 2. Jhdt. vor der Zeitenwende daranging, sein westliches Vorfeld zu erforschen. General Zhan Qian, der „Vater der Seidenstraße“, drang bereits 138 und 115 v. Chr. im Auftrag des Han-Kaisers bis ins Ferghanatal im heutigen Usbekistan vor, wo er zu seiner Überraschung auf hochentwickelte Völker traf, mit denen sich Handel treiben ließ. Seitdem entwickelte sich ein umfassender Austausch von Innovationen, Produkten und Weltanschauungen, mal unter der politischen Kontrolle Chinas, mal unter der Ägide von Mongolen, Uiguren oder Iranern. Seide, Gewürze, Parfüm, Porzellan, Glas und Tee, später vermehrt auch Keramik, wurden aus China nach Westen geliefert. Aus dem Westen kamen Elfenbein, Gold, Silber und Wein. Als noch bedeutsamer erwies sich der kulturelle Austausch, der sich vornehmlich in West-Ost-Richtung vollzog. Der Aufstieg des Buddhismus zur großen Weltreligion Asiens wäre ohne die Seidenstraße nicht denkbar gewesen. Aber auch Manichäer und Zoroastrier aus dem Iran und nestorianische Christen aus Syrien kamen über die Oasen der Seidenstraße und zogen weiter nach China. Sogar der Papst sandte Missionare über die Seidenstraße, um die Herrscher Ostasiens für das Christentum zu interessieren. In der Gegenrichtung fanden zivilisatorische Neuerungen wie Papier, Buchdruck, Pulver und Kompass ihren Weg in den Westen.
Die Hauptroute begann in der chinesischen Kaiserstadt Xian, durchquerte den Gansu-Korridor, um dann die große Taklamakanwüste entweder auf einer Nord- oder Südroute zu umgehen. Im uigurischen Kaschgar, in Khotan, Samarkand und Buchara, gleichsam auf halber Strecke, endete der chinesische Teil der Seidenstraße, und der mohammedanische Kulturkreis begann. Über den Iran, Mesopotamien und Syrien wurden schließlich die Küsten des Mittelmeers erreicht.
Einmal etabliert, wuchs dieser Handelspfad weiter an, entwickelte Seitenpfade nach Indien und Südrussland und erreichte seinen Höhepunkt unter der Tang-Dynastie (617-904) und in der Mongolenzeit im 13. und 14 Jhdt., um dann mit der Islamisierung der Seidenstraße und der Verlagerung der Welthandelsströme auf die Weltmeere ab dem 15. Jhdt. an Bedeutung zu verlieren.
Der Vielzahl der Details und Aspekte, die Höllmann auf seinem Parforceritt durch die Geschichte zur Sprache bringt, versucht der Autor durch einen zweifachen Zugriff zu meistern. Einerseits verfährt er chronologisch, stellt aber in jeder Epoche eine bestimmte Art des Austausches in den Mittelpunkt, etwa den Austausch der Religionen im ersten Jahrtausend, den Warenverkehr zur Jahrtausendwende oder den Austausch technologischer Innovationen zwischen dem 15. und 18. Jhdt. Das Buch schließt mit einem Ausblick auf den Entwicklungsstand der sogenannten „neuen Seidenstraße“, die in der Perspektive des Autors nicht mehr und nicht weniger darstellt als Chinas Griff nach der Weltmacht.
Ebenso anspruchsvoll wie das Thema ist auch die Aufmachung des vorliegenden Buches. Erschienen in der renommierten „Historischen Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung“ enthält es Dutzende Karten und Zeichnungen und achtzig aufwendig gestaltete Farbtafeln. Die Diktion des Autors ist zurückhaltend und unparteiisch, nur der imperiale Habitus, mit dem das moderne China ganz Asien mit seiner „neuen Seidenstraße“ überzieht, findet seine Missbilligung. Alles in allem handelt es sich um ein edel aufgemachtes, umfassendes Kompendium der Seidenstraße mit leicht lexikalischem Einschlag, wie die zahlreichen Tabellen beweisen. Hier und da hätte ein wenig mehr von der erzählerischen Anschaulichkeit des im 5. Buchteil sehr kritisch abgebürsteten Sven Hedin diesem Grundlagenwerk allerdings gut getan.