HOMO VAGANS – Lesung von Ludwig Witzani im Buchhaus Böttger in Bonn

 SKRIPT (Juni 2018) 

 Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Literatur- und  Reisefreunde, vielen Danka auch an Sie, Herr Böttger für die freundliche Begrüßung, herzlich willkommen, liebe Gäste. Ich würde gerne heute mit Ihnen über das Reisen sprechen und nehme die Gelegenheit wahr, Sie vorher ein wenig über die Reiseliteratur zu informieren.

Diese Einleitung in die Geschichte der Reiseliteratur, die in der Ankündigung versprochen wurde, stellt mich allerdings vor ein methodisches Problem. Ein auch nur geraffter, noch so holzschnittartiger  Überblick über die Entwicklung der Reiseliteratur von der Odyssee bis zum Baedeker ist bei  der Begrenztheit der Zeit kaum unmöglich. Gestatten Sie mir deswegen einen problemorientierten Zugang über den Begriff der Reiseliteratur, über ihre Entstehung  am Beginn der Neuzeit und einige  Anmerkungen zum Begriff des Reisens im Allgemeinen.

Geschrieben wurde über Reisen, seitdem der Mensch schreiben kann. Schon im   Gilgamesch-Epos ist von Reisen die Rede, in der Odyssee sowieso, im Alten Testament wird unentwegt gereist und denken Sie nur an die Reisen des Apostels Paulus im Neuen Testament .  Handelt es sich also bei den altbabylonischen Schriften,  bei der Bibel oder bei Homer bereits um Reiseliteratur? Ja und nein, würde Radio Eriwan antworten. Ja, weil es auch um Reisen geht, aber eigentlich nein, weil das Reisen nur Nebensache ist. Wir haben hier wie im größten Teil des antiken Schrifttums bei Hekataios, Ptolemäus oder Plinius dem Älteres allenfalls implizite Reiseliteratur vor uns, in denen das Reisen nicht im Vordergrund steht.  Explizite, also wirkliche Reiseliteratur ist etwas anderes. Aber was?

Unter Reiseliteratur versteht man zufolge der wissenschaftlichen Konvention den  Sammelbegriff für die sprachliche Darstellung einer authentischen Reise.  Über die  Art der poetischen Gestaltung und über das Verhältnis von Faktizität und Fiktionalisierung ist damit noch nichts gesagt. Folgen wir der literaturwissenschaftlichen Konvention weiter, unterscheidet man eine Reihe von Untergattungen, die sich nach und nach entwickelt haben: nämlich Reiseführer, dann später Reiseberichte bzw. Reisemonografien, noch später Reisetagebücher und schließlich mehr belletristisch ausgerichtete Reiseerzählungen bzw. Reiseromane. Jede dieser vier Untergattungen besitzt eine lange Geschichte, ihre Grenzen zu andern literarischen Gattungen sind manchmal fließend.

Einen der ersten Reiseführer der Weltgeschichte habe ich zum Beispiel hier als Nachdruck vor mir – und zwar Philon von Byzanz „Reiseführer zu den sieben Weltwundern“, dessen Pointe allerdings darin besteht, dass der Autor seinen Lesern durch die Lektüre seines Textes die anstrengende Reise zu eben diesen Weltwundern ersparen will. Schon sehr modern daher kommt sein Kollege, der Grieche Pausanias, der im ersten Jahrhundert der Zeitrechnung einen Reiseführer durch Griechenland speziell für reiche Römer verfasste. Damit waren die Reiseführer als literarische Gattung in der Welt, und auch wenn die Antike unterging, die Reiseführer blieben bestehen – und zwar epochentypisch in einem jeweils anderen Gewand: als Pilgerführer nach Rom, Jerusalem und Santiago de Compostela.

Santiago de Compostela

Soweit so unverständlich. Denn wie müssen wir uns diese  „Reiseführer“ vorstellen. Wie sahen sie konkret aus? Hatten die reichen Römer, die mit Pausanias Reiseführer durch Griechenland reisten, ein Buch in der Hand, mit dem blätternd und lesend vor den Tempeln standen? Natürlich nicht.  Was es an Reiseliteratur gab, waren beschriebene Papyrusrollen, die in Bibliotheken gelagert wurden –  und die im Ernstfall leider auch sehr gut brannten. Denken sie nur an Cäsars Besuch bei Kleopatra im Jahre 48 v. Chr. Erst in Spätantike und Mittelalter entstanden die sperrigen Vorformen unserer heutigen Bücher, das heißt, beschriebene Pergamentseiten, die in zwischen Holzdeckel geheftet oder geleimt wurden. Wer also vor Beginn der Neuzeit reiste, hatte keinen Reiseführer bei sich, sondern konnte sich allenfalls durch Hörensagen – und wenn es hoch kam durch Inaugenscheinnahme eines Textes an einem festen Ort – informieren- wenn er denn lesen konnte. Der berühmteste Pilgerführer des Mittelalters, der Liber Santi Jacobi, der Reiseführer nach Santiago de Compostela war ein Manuskript von umgerechnet etwa 40 Schreibmaschinenseiten, das gut bewacht und gehütet in Dutzenden handgeschriebener Exemplare in Klöstern und Bischofssitzen aufbewahrt wurde. Seine Informationen wurden überwiegend durch Hörensagen verbreitet. Da kann man nur sagen, die stille Post lässt grüßen, denn jeder der Abertausenden von Pilgern hörte und verstand möglicherweise etwas anderes. Mit einem Wort: von einer Reiseliteratur in unserem Sinne, die auch gelesen und genutzt wurde, kann man vor dem 15. Jhdt.  nur in einem sehr eingeschränkten Sinne sprechen.

Das gilt übrigens auch für die Reiseberichte des Mittelalters, auf die ich nur kurz eingehen kann.  Auch sie besaßen kaum öffentliche Resonanz. Der bedeutendste und umfangreichste Reisebericht des gesamten  Mittelalters die „Rihla“ des Marokkaners Ibn Battuta, der im 14. Jhdt. fast die gesamte bekannte Welt von Westafrika bis nach China bereiste und beschrieb, entstand um 1350 in der marokkanischen Hauptstadt Fes und verblieb ebendort ein halbes Jahrtausend weitgehend unbeachtet, bis der Bericht im 19. Jhdt. entdeckt und veröffentlicht wurde. Das gleiche gilt für die  atemberaubenden Reisen chinesischer Mönche über die Seidenstraße nach Indien. Diese Berichte wurden erst im 19. Jhdt. entdeckt und ausgewertet. Die einzige Ausnahme innerhalb der Gelehrten des späten Mittelalters bildet „Il Millione“, der wahrscheinlich hochfiktive Bericht des venezianischen Weltreisenden Marco Polo, der selbst im Rahmen der handschriftlichen Multiplikation eine erstaunliche Verbreitung erfuhr. Um 1400  existierten bereits 40 lateinische,  20 französische, 10 italienische und vier deutsche – unterschiedliche – Textfassungen.   Das aber war eine Ausnahme. Insgesamt gilt, dass es eine popularisierte und massenhaft genutzte Reiseliteratur in unserem Sinne vor dem 15. und 16. Jhdt. nicht gab.

Alles wurde dann anders durch eine epochale Erfindung, die die Welt buchstäblich veränderte: die Erfindung und Verbreitung der Buchdruckerkunst durch Johannes Gutenberg im 15. Jhdt. Wirklich revolutionär wurde die Erfindung der Buchdruckerkunst durch einige fast  parallele Entwicklungen, die ich nur in aller Kürze andeuten kann.

Erstens: Weil eine einzige Buchdruckmaschine in einer Woche mehr Bücher erstellen kann als hundert Kopisten in ihrem ganzen Leben, werden nun  Bücher einigermaßen erschwinglich.

Zweitens kam zu einer ersten Alphabetisierung  der wohlhabenderen städtischen Bevölkerung im Zusammenhang mit der Reformation. Da bald landessprachlich Ausgaben der Bibel erschienen, wollten die Menschen selber nachlesen, was es mit dem Jenseits auf sich hatte, und da sie schon mal lesen konnte, interessierten sie sich auch für das Diesseits.

Und dieses Diesseits wurde drittens ab 1490 interessanter, als man es sich jemals hätte träumen lassen: die Umrundung Afrikas, der Seeweg nach Indien, die Entdeckung Amerikas, die Weltumseglung, die Indianerreiche in Mexiko und Peru, um nur einige zu nennen. Sie eröffneten Ausblicke auf vollkommen fremde und exotische Welten.

Pigafetta-Statue auf Cebu/Philippinen

Mit einem Wort: Die Erfindung der Buchdruckerkunst, die Ausweitung der Lesefähigkeit und die weltweiten Entdeckungsreisen bewirkten in ihrer Gesamtheit ein kulturelles Erwachen, das alle Gewissheiten erschütterte. Es ist die große Zeit der „Reiseberichte“  oder „Reisemonografien“, die vom lesefähigen Publikum geradezu verschlungen werden. – etwa PigafettasPrimo Viaggio altorno al globo“, der Bericht der ersten Weltumseglung durch einen Expeditionsteilnehmer, oder der  Bericht  des deutschen Landsknechtes Hans Taden ein richtiger Blockbuster des 16. Jahrhunderts mit dem publikumswirksamen Titel „Wahrhaftige Historia von den wilden, nacketen Menschenfresserleut in der Neuwen Welt America“:   Bald wurde die Masse der gedruckten Reisemonografien so unüberschaubar, dass um 1550 die ersten Kompilationen, d. h. Zusammenfassungen von Reiseberichten,  erschienen, unter ihnen die berühmteste „Navigazzione e viaggi“ von Giovanni Battista Ramusio.

Schließlich entstand im letzten Viertel des 16. Jhdts auch ein neuer Typus von Reiseführern, die sogenannten Apodemiken, die die „Kunst des Reisens“ beschreiben.  Diese Apodemiken, die nicht von Welt- oder Pilgerreisen  erzählen, sondern von normalen Reisen innerhalb Europas, prägen jetzt die Vorstellungen darüber, was „Reisen“ eigentlich sein soll: eine bildsame Erweiterung des Horizontes durch Kenntnisnahme von anderen Ländern und Sitten   Am Anfang sind sie  noch von Humanisten für Humanisten in  Latein verfasst, später kommen bei den landessprachlichen Ausgaben als Kunden auch gebildete Bürgerliche und die Hauslehrer des Adels hinzu.

Interessant ist nun, dass mit der Entstehung und der Verbreitung der gedruckten Reiseliteratur im späten 15. und im 16. Jhdt. sofort auch die Kritik am Reisen einsetzt. „Gott hat England alles gegeben, was ein Engländer braucht“, verkündete im Jahre 1621 der Bischof von Exter. „Wer also England ohne guten Grund verlässt, versündigt sich.“ Reisen um des Reisens willen – das machten doch nur Vaganten und Herumtreiber. Kirchlicherseits war die „curiositas“, die Neugierde seit Thomas von Aquin als Laster definiert, gottgefällig war dagegen die „stabilitas loci“, der Aufenthalt an einem Ort.

Aber es war zu spät.  In dem Maße, in dem sich Europa die Welt erschloss und über die Reiseliteratur seine Bewohner daran teilhatten,  in dem Maße auch, in dem die  Bedeutung der Religion zurückging, veränderte das Reisen seinen Stellenwert innerhalb der menschlichen Existenz. Eine fundamentale Metamorphose vom  „Reisen als Last“ zum „Reisen als Lust“ kam in Gang, die ihren  Durchbruch allerdings erst in der modernen Gesellschaft erfahren sollte. Dazu passt, dass im 18. und 19.  Jhdt. weitere Untergattungen der Reiseliteratur entstehen: nämlich Reisetagebücher und Reiseromane, beides literarische Format, die der Subjektivität größeren Raum zuerkennen.

Reisen als Lust am Fitzroy in Patagonien

Wollte man die Endstation dieser reiseliterarischen Entwicklung von einer sehr allgemeinen Warte aus bis hin zur Gegenwart zusammenfassen, könnte man sagen, dass Reisen und Welterfahrung zunehmend als Dimensionen der Freiheit beschrieben werden. Unnötig zu erwähnen, dass diese neue Dimension der Freiheit durch Reisen bis auf den heutigen  Tag – wie alle Freiheit  die  gegensätzlichsten Formen hervorbringt:  negative wie pure Sensationsgier oder Ballermann-Exzesse im Rahmen des modernen Massentourismus – aber auch positive, neuartige wie die Möglichkeit zur Selbsttranszendierung und Subjektivierung der Welterfahrung nicht nur durch das Lesen von Reiseliteratur sondern durch faktisches Selberreisen.

Petrarca

Diesen neuartigen Aspekt der Selbsttranszendierung durch Reisen würde ich Ihnen  gerne  anhand einer konkreten Reise etwas ausführlicher darstellen. Erweisen Sie mir also die Ehre und folgen  Sie mir einige Minuten auf ein reisephilosophisches Hochreck und halten Sie mit die Daumen, dass ich nicht abstürze. Der Reisende, um den es hier geht, war Francesco Petrarca, die Reise fand statt am 26. April 1336 und unterrichtet sind wir darüber durch einen  Brief, den Petrarca etwas später an einen befreundeten Professor in Paris schrieb. Das Ziel der Reise war die Besteigung des Mount Ventoux, eines knapp 2000 Meter hohen Berges in der Provence. Heute keine große Sache, ich nehme an, so etwas haben die meisten von ihnen auch schon geleistet. Damals war das aber als Vorhaben durchaus ungewöhnlich, denn das Naturinteresse war in der Vorneuzeit im Unterschied zu späteren Jahrhunderten nicht besonders ausgeprägt. Lange überlegte Petrarca, wen er mit auf Tour nehmen sollte, und jeder der wie ich mit vielen unterschiedlichen Reisepartnern unterwegs war – einige sind heute Abend hier – , wird noch heute schmunzeln über die Betrachtungen, die Petrarca dazu anstellte. Zitat „Der eine war mit zu saumselig, der andere zu unermüdlich, der zu langsam, jener zu rasch, der zu schwerblütig, jener zu fröhlich, der endlich stumpfen Sinnes, jener gescheiter als mir lieb war.“  Aber um dieses Detail geht es mir nicht. Viel wichtiger ist, was geschah, als Petrarca den Gipfel erreichte. Folgt man seinem Briefbericht, dann erlebte er im Moment des Ankommens eine Erschütterung durch die Schönheit der Aussicht und  die Weite des unter ihm liegenden Landes. Er ist verwirrt und sprachlos, denn er erlebt sich nicht mehr nur als Sehender sondern er spürt sehr deutlich, dass das Gesehene Rückwirkungen auf ihn selbst entwickelt. Möglich, dass es das realgeschichtlich immer schon gegeben hat, aber seinen ersten literarischen Niederschlag findet diese neue Sensibilität, diese Subjektivierung der Reiseerfahrung zum ersten Mal bei Petrarca auf dem Mount Ventoux.

Augustinus – Darstellung in einem Kirchenfenster Rouen

Das Ergebnis dieser Reflexion wird allerdings den heutigen Leser überraschen. Petrarca, im Versuch, seine Eindrücke und Empfindungen zu ordnen, greift zu den „Bekenntnissen“ des Augustinus, einem Buch, das er mit auf den Berg genommen hat, schlägt auf und landet – man mag es glauben oder nicht – im 35. Kapitel des 10. Buches und liest von „zwei Begierden“, der „Begierde des Fleisches“ und der „Begierde der Augen“, die beide gleichermaßen gefährlich sind, weil sie den Menschen von der Sorge um sein Seelenheil ablenken. Das Zitat bei Augustinus lautet: „Und es gehen die Menschen zu bestaunen die Gipfel der Berge und die ungeheuren Fluten des Meeres und die weit dahinfließenden Ströme und den Saum des Ozeans und die Kreisbahn der Gestirne, und sie  haben nicht acht ihrer selbst.“ Deprimiert und nachdenklich verlässt Petrarca den Berg.

Halten wir fest. Petrarcas reflexive Reise auf den Gipfel des Mount Ventoux ist nicht nur ein literarischer Meilenstein in der Naturwahrnehmung, sie führt zu einem Erschrecken über die Schönheit der Natur, weil gerade sie es ist, die in ihrer Verlockung  den gläubigen von seinem Seelenheil ablenkt. Die Begierde der Augen wird als Gefahr für das ewige Leben erkannt

Es gehört zu den Paradoxien der Geistesgeschichte, dass sich diese Entgegensetzung  im weiteren Verlauf auf eine überraschende Weise auflöst.  Denn das Erschrecken über die Schönheiten der Natur ist für einen gläubigen Christen nur solange verständlich, als die Natur als das ganze andere, als das Stoffliche, als das Nicht-Göttliche angesehen wird. Sobald die Natur selbst im weiteren Verlauf der Kulturgeschichte im pantheistischen Denken als eine Erscheinungsform des Göttlichen uminterpretiert wird, bleibt wohl das Erschrecken über ihre Großartigkeit, aber die Seele hat keinen Grund mehr, sich zu fürchten, sondern strebt nach Vereinigung. Kein Geringerer als Kant hat das im 10. Buch seiner „Kritik der Urteilskraft“ als die Begegnung mit dem Erhabenen beschrieben, wobei er die Zusammengehörigkeit von Furcht und Erhebung hinweist. “Die Verwunderung, die an Schrecken grenzt, das Grausen und der heilige Schauer, welcher den Zuschauer beim Anblick himmelansteigender Gebirgsmassen, tiefer Schlünde und darin tobender Gewässer, tiefbeschatteter und zum Nachdenken anregender Einöden ergreift, ist (…)  der Versuch, uns mit Hilfe der Einbildungskraft mit der Natur in uns selbst zu verbinden.“ Mit einem Wort: in der Begegnung mit dem Erhabenen wird der Mensch gleichsam erhoben, indem das Göttliche, das er in der Natur erkennt, in ihm selbst nachklingt. Es ist natürlich auch kein Zufall, dass Kant als Beispiel für das erhabene drei Natureindrücke erwähnt – nebenbei bemerkt ist es allerdings auch wieder erstaunlich, weil er ja sein Leben lang nicht aus Königsberg herausgekommen ist.

Halten wir einen Moment inne und versuchen, das Problem noch etwas schärfer zu erfassen. Mit Petrarca beginnt die reflexive Reise als Frage danach, was das Erlebnis der Reise für den Reisenden ganz konkret bedeutet. Petrarcas Antwort ist noch durch und durch christlich geprägt, in ihr schwingt die Furcht um das Seelenheil mit. Im weiteren Verlauf verliert die Entgegensetzung von Naturschönheit und Seelenheil ihren Schrecken, weil die Natur mehr und mehr als Erscheinungsform des Göttlichen aufgefasst wird. Aber auch diese Antwort ist zeitbezogen und in unserer heidnischen Gegenwart nur noch begrenzt gültig. Denn da, wo früher die „Seele“ war, sprechen wir heute von „Befindlichkeit“ oder „Subjektivität“, einsam, freischwebend  und auf sich zurückgeworfen. Doch – und darin liegt meiner Ansicht nach der quasireligiöse Gehalt der selbstreflexiven Reise –  in der Konfrontation mit den Unerhörtheiten aus Natur und Kultur erlebt diese Subjektivität die Ahnung, die Anmutung übergreifender  Zusammenhänge. Dass diese hochgestimmten Empfindungen bei einer Kaffeefahrt nicht unbedingt hervortreten, brauche ich nicht eigens zu erwähnen, (womit ich nichts Kaffeefahrten gesagt haben möchte) außer das solche alltägliche Formen des Reisens ja nicht  die Möglichkeiten widerlegen, die das selbstreflexive Reisen bereithält.

Reflexives Reisen in den Reisfeldern von Banaue/Philippinen

Was zu der Frage führt, was mit dem Reisenden in solchen Augenblicken des „Ankommens“, der „Begegnung“ eigentlich geschieht. Ich könnte Ihnen nun eine Reihe von Zitaten auftischen, bleibe aber bei meinen eigenen Erfahrungen. Im Moment des Ankommens, im Angesicht des Unerhörten oder des Erhabenen, wie Kant sagt, entstehen Empfindungen, die  wahrscheinlich den Erlebnissen von Pilgern  am Ziel ihrer Reise gleichen. Man kann es als eine Erhebung beschreiben, die die Persönlichkeit erschüttert und möglicherweise verändert, als eine ek-stasis im buchstäblichen Sinne, das heißt, als ein Heraustreten aus sich selbst. Manchmal habe ich diese  Momente des Ankommens auch als  eine  Art Figur-Grund-Umkehrung erlebt, in der ich mich plötzlich als   Teil eines größeren Bildes empfand. Ich hatte dergleichen glückhafte Erlebnisse  am Kailash in Tibet, in afrikanischen Savannen, in der Sahara, aber auch im Angesicht menschlicher Kulturschöpfungen wie Angkor Wat, Macchu Pichu oder dem Tadsch Mahal.  Und um das Ganze mit einer persönlichen Wendung abzuschließen: Die Suche nach solchen Erlebnissen der Selbsttranszendierung ist es, die den „homo vagans“, oder konkreter gesprochen: Reisende aus der ganzen Welt antreibt. Die Suche nach solchen Erlebnissen ist auch der  Impuls hinter meinem Reisen und beim Verfassen meiner Bücher.   

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