Michel Houellebecq Ist ruhiger geworden. Die Schilderungen sexueller Details in schockierend-behavioristischer Protokollsprache, die seine frühen Werke geprägt hatten, gehören längst der Vergangenheit an. Der vorliegende Roman „Vernichten“ ist von ganz anderer Machart. Er ist ein Gesellschaftsroman im vollgültigen Sinne, der ohne Effekthascherei und mit großer sprachlicher und imigativer Kraft am Beispiel eines leicht in die Zukunft versetzten Frankreichs eine Zustandsbeschreibung der Gegenwart bietet.
Im Mittelpunkt des Romans steht der Ministerialbeamte Paul Raison, ein Mann Ende 40, der sich von seiner Frau Prudence entfremdet hat und der ganz in seiner Arbeit aufgeht. Die Darstellung seiner Doppelexistenz als Familienmensch und politischer Rollenträger erlaubt es Michel Houellebecq die Probleme, um die es ihm geht, aus der Mikro- und Makroperspektive darzustellen, was als Konzept leicht schiefgehen kann, in dem vorliegenden Roman aber funktioniert. Zunächst sieht sich die Familie nach dem Schlaganfall von Pauls Vater Edouard Raison hilflos der Krankenhausbürokratie und der Medizintechnik ausgeliefert. Die kuriose Entführung des gelähmten Vaters aus dem Krankenhaus karikiert die Hilflosigkeit der Individuen gegenüber den großen Strukturen. Pauls Schwager, ein Notar, wird Opfer des wirtschaftlichen Niedergangs im Norden Frankreichs und verliert seinen Arbeitsplatz. Seine Frau, Pauls Schwester Cecile, eine gläubige Katholikin, verdingt sich als Köchin für besser gestellte Kreise in Lyon und erlebt die noch immer lebendigen Klassengegensätze aus nächster Nähe. Pauls labiler Bruder Aurelian. ist mit einem zänkischen Weib geschlagen, das ihn in den Wahnsinn treibt. Am Ende nimmt er sich aus nichtigsten Anlass das Leben. Man sieht, eine ganz normale Familie der französischen Mittelschicht, deren Mitglieder mit privaten und wirtschaftlichen Turbulenzen zu kämpfen haben.
Diese familieninterne Naheinstellung wird in dem vorliegenden Buch durch eine zweite Perspektive ergänzt, denn Paul gehört als Berater des Wirtschaftsministers zu den politisch Eingeweihten und durchschaut das Gemauschel bei der Präsidentschaftswahl des Jahres 2027. Zugleich ist er als Ministerialbeamter mit den Anschläge einer ökofaschistischen Gruppierung befasst, die eine Samenbank, eine Informatikfirma, einen Tanker und ein Migrantenboot angreifen. Im Schnittpunkt dieser beiden Perspektiven entsteht vor dem Auge des Leser das Bild einer stark fragmentierten, fragilen Gesellschaft, die im Wesentlichen auf Technologie und Wirtschaft beruht und in der Politiker nur ihren eigenen Machtinteressen folgen. In immer neuen Anläufen erscheinen gesellschaftliche Einsamkeit, Ökofaschismus als hilflose Opposition gegen die Tendenzen der Technokratie und vor allem die Überalterung der Gesellschaft im Fokus der Gespräche, Betrachtungen und Reflexionen. Die dabei entfalten psychologischen, situativen und soziologischen Detailbeschreibungen sind in ihrer Originalität, Präzision und in ihrer sprachlichen Brillanz schlichtweg meisterhaft.
Am Ende wird Paul Raison selbst zum Opfer, denn er erkrankt an Mundkrebs und sieht sich vor die Wahl gestellt, sich einer bestialischen Operation zu unterziehen oder den Tod anzunehmen. Besonders die letzte Passage hat mich bewegt, weil sie Pauls Annäherung an den Tod mit großer Empathie und Sachlichkeit zugleich beschreibt – und nicht ohne eine Spar von Trost verbleibt, denn seine Frau, mit der er sich wieder ausgesöhnt hat, begleitet ihn durch seine letzten Monate. Ein großartiges, bewegendes Lesererlebnis.