Iriye/ Osterhammel (Hrg.): Geschichte der Welt

Eine „Weltgeschichte“ zu schreiben, ist ein kühnes Unterfangen, eigentlich  ist es ein Ding der Unmöglichkeit, und dass es doch immer wieder versucht wird, verdient Achtung und Anerkennung. Eine Weltgeschichte zu lesen, ist fast genauso spannend. Sich selbst als Winzling im Weltenstrom zur Gesamtheit des Gewordenen in Beziehung zu setzen, schmeichelt der Selbstwahrnehmung, selbst wenn nicht alles beim ersten Mal in den Kopf hineingeht.

Ich selbst bin aufgewachsen mit drei Universalgeschichten, mit der 10 bändigen „Propyläen Weltgeschichte“, herausgegeben von Alfred Heuß und Golo Mann, mit der 36bändigen „Fischer Weltgeschichte“ und mit Will und Ariel Durants  gewaltiger „Kulturgeschichte der Menschheit“ in 18 Bänden.

Alle drei waren für mich in jungen Jahren Varianten eines endlosen Romans,  Kompendien des Aufsteigens und Untergehens, die nur eines gemeinsam hatten: sie endeten in der Gegenwart, von der man nicht wusste, ob sie wirklich ein happy-end darstellte. Am liebsten las ich in Will und Ariel Durants Werken, weil die beiden nicht nur kompetent, sondern auch große Erzähler waren. Über die Taschenbücher der Fischer Weltgeschichte habe ich mich geärgert, weil sie so schlecht gebunden waren, dass man sie nicht offen auf dem Tisch legen und lesen konnte.  Außerdem sind ihre Einzelbände ganz unterschiedlich gelungen. Den gelungenen vier Bänden über die Mittelmeerwelt im Altertum oder Japan steht echter Ausschuss gegenüber wie der völlig misslungene Band über „Das Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung“.    Im Abstand der Jahre hat sich die „Propyläen Weltgeschichte“ am ehesten bewährt. Sie vereinigte gediegenen Stil, wissenschaftliche Akribie und Seriosität mit nachvollziehbar gesetzten Akzenten. Einen der zehn Bände dieses Werkes aufzuschlagen und in ihnen zu schmökern, ist immer eine reine Freude.

Am Beispiel dieser drei Werke lässt sich ein weiteres Strukturproblem erkennen. Alle „Weltgeschichten“ stehen vor dem Problem eines kaum lösbaren Spagats zwischen Abstraktion und Anschaulichkeit.  Das gilt es natürlich für jedes Geschichtsbuch, bei Weltgeschichten stellt sich das Problem jedoch am ausgeprägtesten. Je überschaubarer und klarer die großen Linien gezogen werden, desto mehr entschwindet das Detail. Je anschaulicher eine Geschichte erzählt wird, desto verwirrender stellen die großen Zusammenhänge dar. Mit Abstand am besten gemeistert  finde ich diesen Spagat in der Propyläen Weltgesichte. Sie ist in ihren besten Teilen tatsächlich eine integrative Weltgeschichte, die die beiden „Pole“ der Weltgeschichtsschreibung zur Deckung bringt.  Dagegen sind die „Fischer Weltgeschichte“ und die „Kulturgeschichte der Menschheit“  vornehmlich  additive Werke.

Wie nimmt sich vor diesem Hintergrund der neueste Großentwurf der Weltgeschichtsschreibung, die  von Akira Iriyes und Jürgen Osterhammels herausgegebene „Geschichte der Welt“ in sechs Bänden, aus. Zunächst der Überblick über die sechs Bände:

  • Die Welt vor 600. Frühe Zivilisationen
  • Agrarische und nomadische Herausforderungen (600-1350)
  • Weltreiche und Weltmeere (1350-1750)
  • Wege zur modernen Welt (1750-1870)
  • Weltmärkte und Weltkriege (1870-1945
  •  Die globalisierte Welt (1945-heute

 Der dritte Band der Reihe „Weltreiche und Weltmeere (1350 – 1750)“, mit dem ich angefangen habe,  verdeutlicht die Vorzüge des Werkes in besonderer Weise. Sie liegen nicht nur in den gut fassbaren Synopsen von Politik-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte, sondern, um es etwas hochgestochen zu sagen, in der Fokussierung aller Details auf ihre „planetarische Interdependenz“. Für diese Perspektiven einige Beispiele: Lange bevor sich Europa anschickte ab 1750 seine weltweite Vorherrschaft zu etablieren, existierte bereits eine frühe Globalisierung, die die Seidenprodukte Chinas über die Manila Galleonen nach Mexiko und von dort nach Europa brachten. Die Intervalle der Silberförderung im bolivianischen Potosi beeinflussten über die Geldmengenschwankungen die Konjunkturzyklen im China der späten Ming Dynastie. Ein weiteres  Beispiel für den umfassenden Fokus des Werkes  ist etwa die These von der Krise des frühen 17. Jhdt., die fast gleichzeitig in China (Sturz der Ming), in Russland (Smuta) in Europa (Dreißigjähriger Krieg) und in Japan ( Errichtung des Shogunats) stattfand und die die Autoren auf  Disruptionen des internationalen Handelsverkehrs zurückführen.  Ein weiteres, ausgezeichnetes Beispiel für „Weltgeschichte am Hochreck“ bildet das Kapitel  „Mensch und Umwelt im Zeitalter des Anthropozän“ von John R. McNeill und Peter Engelke im 6. Band der “ Geschichte der Welt“. Dieser Artikel lohnt den Kauf des ganzen Buches.

Soweit die positiven Nachrichten. Gibt es denn gar nichts zu meckern, möchte man fragen. Doch. Denn gerade bei den weit ausgespannten Flügeln der interkontinentalen Betrachtung kommt das narrative Element (notwendigerweise) zu kurz. Das ist schade, denn Geschichtsschreibung ohne die Darstellung von Ereignisabläufen, die immer das poetische Interesse des Lesers wecken, ist wie Spaghetti ohne Soße. Man vergleiche nur einmal die packende Schilderung der Perserkriege in der Propyläen Weltgeschichte mit dem fast lexikalisch- trockenen Abriss des Konflikts im ersten Band von der „Geschichte der Welt“.

Wenn die Darstellung einer planetarischen Interdependenzen, die das Werk bietet, zweifellos seine Stärken darstellen, wie steht es mit der inhaltlichen Plausibilität? Politisch korrekt bis in die Socken, möchte man sagen. Die „Geschichte der Welt“  ist ökologisch, transnationalistisch, europafreundlich und multikulturell. Die Entstehung unserer so gearteten Gegenwart  wird auf diesem Hintergrund sehr einleuchtend beschrieben. Die kritischen Implikationen, die mit der Heraufkunft dieser Tendenzen verbunden sind, fallen ein wenig unter den Tisch. Soweit ich das bisher erkennen kann, bleiben die Schattenseiten der Globalisierung für große Teile der Menschheit unterbelichtet, auch die Wiederkehr der Religionen als großes Thema des 21. Jahrhunderts erhält nicht das Gewicht, das sie verdient. Die Freude darüber, dass die Menschheit (vor allem durch die vereinheitlichende Technologie) zu einer Einheit zusammen wächst, trübt vor allem im letzten Band ein wenig den Blick für die antidemokratischen Implikationen der One-World-Ideologie, wie sie bereits Hannah Arendt erkannte und zur Zeit anhand der Macht von „Big Tech“ und der Bilderberger diskutiert wird. Obwohl das Gesamtwerk, soweit ich das bisher überblicke, in seiner vornehmen  und edlen Aufmachung fast wie ein Wohnzimmerschrankschmuck daherkommt, trotz zahlreicher unbestrittener brillanter Artikel, die die Lektüre lohnen, bleibe ich dann Ende doch lieber bei der guten alten Propyläen Weltgeschichte.

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