Jelzin: Aufzeichnungen eines Unbequemen

Jelzin _Der rätselhaft glatte und so merkwürdig reibungslose Zusammenbruch der UdSSR, die deutsche Einheit und die Freiheitsbewegung der osteuropäischen Völker  werden im Westen gerne als „Wunder“ gefeiert und eng mit dem Namen Gorbartschow verbunden. Da kam ein Heiliger vom Himmel herabgeflogen, befreite die Welt vom Totalitarismus, erhielt den Friedensnobelpreis und gestaltete nach seiner aktiven politischen Zeit Kinderbücher. Und wenn er nicht gestorben ist, dann lebt er noch heute.

Das vorliegende Buch erzählt eine ganz andere Geschichte. Als Kampfschrift mitten in den entscheidenden Kämpfen um Perestroika und Glasnost in der Sowjetunion verfasst, berichtet Gorbatschows Antipode Boris Jelzin von dem Alltag in der niederbrechenden UdSSR, von den tausend Hindernissen, die eine verknöcherte Parteibürokratie den Reformen in den Weg legte, aber auch von einem eitlen und selbstverliebten Generalsekretär Gorbatschow, der – vom Westen gefeiert – den Kontakt zu seinem Volk mehr und mehr verlor. Niemand wird von einem solchen Buch Unparteilichkeit erwarten, Jelzin erzählt immer nur aus seiner Perspektive, mit Engagement und zahlreichen Beispielen, mit Lebhaftigkeit unrd Überzeugungskraft und nicht ohne Anflüge von Selbstkritik.

Und er erzählt duchaus witzig. Zum Beiipel von seiner Taufe, bei der der Pope so hackevoll war, dass er den kleinen Boris im Taufbecken fast ertränkte. Oder von der winterlichen Kälte, in der sich die ganze Familie an der Ziege wärmen musste. Umso bewundernswerter die Sportbegeisterung des jungen Boris(Volleyball) und sein Studieneinsatz. Schnell macht er in der Partei von Jekaterinburg (damals noch nach dem bolschewistischen Mörder Swerdlowsk benannt) Karriere. Als  Parteifunktionär und Baufachmann wird Jelzin von Gorbatschow mit dem Amt des Parteisekretärs von Moskau betraut,  wo Korruption und Schieberei inzwischen selbst für die Verhältnisse der  UdSSR himmelschreiende Zustände erreicht haben. Zum Entsetzen der Parteibürokratie stellt sich der neue Parteisekretär unerkannt in Warteschlangen an, während die Lieferungen verschoben werden, er fährt in den Stoßzeiten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln und deckt  Korruption und Vetternwirtschaft so erfolgreich auf,  dass der etablierte Parteiapparat gegen ihn Sturm läuft. Sogar für Gorbatschow ist Jelzins Tempo zu forsch, so dass er ihn schließlich schon nach zwei Jahren 1987 fallen lässt. Es folgen zuerst bittere Jahre, ehe ihm im Jahre  1989 das Comeback gelingt, als er mit 89 % der Stimmen zum Moskauer Abgeordneten gewählt und entgültig zum  Herausforderer  Gorbatschows wird.

An dieser Stelle endet das Buch. Jelzins Rolle als Exekutor der UdSSR, als gewählter Präsident Russlands, seine Rolle während des kommunistischen Putsches, also sein großer Auftritt auf der Bühne der Weltgeschichte, sollte erst noch folgen. Sein Niedergang als katastrophal gescheiterter Reformer, sein körperlicher und geistiger Verfall, sein Alkoholismus und die schließlich auch in seiner Umgebung überwuchernde Korruption  sind dann wieder reine ganz andere, sehr viel traurigere Geschichte. Auch wenn man das vorliegende Buch natürlich in dem Wissen um Jelzins weiteren Werdegang liest, bleibt die Lektüre spannend und aufschlussreich, es handelt sich um einen packenden Augenzeugenbericht aus einem Jahrzehnt der weltgeschichtlichen Vedichtung, in dem alles möglich schien und auch tatsächlich alles möglich war.

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