Jessica Bruder: Nomaden der Arbeit

Viele sagen, Amerika verdanke seine Stärke der Härte gegen sich selbst. Das Land schont seine Bürgern nicht, sondern zwingt sie, alles  zu geben. Die Schattenseite dieser permanenten Rosskur ist das Elend derer, die alles geben und es doch nicht schaffen. Der europäische, namentlich der deutsche Weg ist ein anderer. Niemand, soll zurückgelassen werden, lautet die Devise. So löblich sich das anhört, so ist es doch ein Rezept für den Niedergang, denn viele Menschen erschlaffen in diesem System und verlassen sich auf das Kollektiv. Gibt es eine Mitte zwischen beiden Wegen, die jeder für sich desaströs sind. ? Ich weiß es nicht. Das vorliegende Buch weiß es auch nicht, aber es beschreibt die Folgen der ersten Maxime, d. h. das Schicksal von Menschen in den USA, die ohne eigenes Verschulden in Not geraten sind und sich noch im Alter auf das edelste plagen müssen.
“Wanderarbeiter, Landstreicher, Vagabunden, rastlose Seelen hat es immer gegeben“, schreibt Jessica Bruder in ihrer Einleitung. „Heute jedoch, im dritten Jahrtausend, entsteht eine neue Art umherziehendes Volk. Leute, die sich nie haben vorstellen können, Nomaden zu sein, machen sich auf den Weg. Sie geben ihre traditionellen Häuser und Wohnungen auf, um in etwas zu leben, das in Anspielung auf real estate, den englischsprachigen Ausdruck für Immobilie, auch scherzhaft als wheel estate bezeichnet.“Sie leben in „ Vans, gebrauchten Wohnmobilen, Schulbussen, Pick-ups mit Campingaufbauten, Trailern und einfachen alten Limousinen. Hinter sich lassen sie Situationen, die sie als Angehörige einer einst als Mittelschicht bezeichneten Bevölkerungsgruppe vor unmögliche Entscheidungen stellen. Entscheidungen wie zum Beispiel wie: Möchten Sie lieber etwas zu essen oder Zahnersatz? Ihre Hypothek abzahlen oder die Stromrechnung begleichen? Ein Auto finanzieren oder Medikamente kaufen?

Das vorliegende Buch beschreibt in sehr eindringlicher Weise Dutzende solcher Schicksale und benennt die strukturelle Ursache: „Löhne und Wohnkosten sind so stark auseinandergedriftet, dass der Traum eines bürgerlichen Lebens für eine wachsende Zahl von Amerikanern mittlerweile nicht nur schwer, sondern gar nicht zu erreichen ist. Während ich diese Zeilen schreibe, gibt es in Amerika nur ein Dutzend Counties und nur eine Metropolregion, wo ein in Vollzeit zum Mindestlohn arbeitender Einwohner die marktübliche Miete für eine Einzimmerwohnung aufbringen kann. Um ein solches Apartment zu mieten, ohne dabei mehr als die empfohlenen 30 Prozent des Einkommens fürs Wohnen auszugeben, müsste man mindestens 16,35 $ pro Stunde verdienen – der staatliche Mindestlohn beträgt die Hälfte kaum mehr als 8 $. Die Konsequenzen sind furchtbar, besonders für das Sechstel der amerikanischen Haushalten, die mittlerweile mehr als die Hälfte ihres Einkommens fürs Wohnen ausgeben müssen.“

Diese Haushalte oder Einzelpersonen „haben sie einen Weg gefunden, das System auszutricksen. Sie gaben ihre bürgerliche Art zu wohnen auf und sprengten auf diese Weise die Fesseln, die ihnen durch Mieten oder Hypotheken angelegt worden waren. Sie zogen in Campingbusse, Wohnmobile und Trailer, reisten dem guten Wetter hinterher von Ort zu Ort und füllten mithilfe von Saisonarbeit ihre Benzintanks.“ Aber die Perspektiven sind trostlos. Aus eigener Kraft werden sie aus dieser Malaise nicht mehr herauskommen. Irgendwann werden sie zu alt oder zu krank, um zu arbeiten und werden elend und einsam sterben.“

Man könnte glatt ein Linker werden, wenn man die Einzelschicksale studiert, die Jessica Bruder schildert.  Das gilt um so mehr, als dass die amerikanischen Zustände ihren Schatten auch über Europa werfen. Noch verhindert der europäische Sozialstaat und die verpflichtende Krankenversicherung die schlimmsten Exzesse, aber die Überbeanspruchung staatlicher Daseinsvorsorge durch exzessive Zuwanderung ist abzusehen. Irgendwann werden die Sozialsysteme zusammenbrechen.Dann wird ein Massenelend folgen, wie man es heute schon an den Rändern der amerikanischen Gesellschaft berachten kann.

 

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