Kappeler: Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart.

Über die Entstehung von Staaten ist viel geschrieben worden. Was aber geschieht, wenn sich ein Teil dieser Staaten aus dem Staatsverband verabschieden möchte – wie etwa die Südstaaten aus den USA, Biafra von Nigeria, Katalonien von Spanien, Bangla-Desh von Pakistan und so weiter? Dann fließen Ströme von Blut, an deren Ende nichts mehr so ist, wie es einmal war. Im Grunde ist das die Rahmenerzählung, innerhalb derer das Verhältnis von Russland und der Ukraine gesehen werden muss.

Für die Russen ist die Sezession der Ukraine von der „russki mir“, der „russischen Welt“, eine widernatürliche Entwicklung, die korrigiert werden muss. Russland, die Ukraine und Weißrussland – früher oft auch als „Großussland“, „Kleinrussland“ und „Weißrussland“ bezeichnet  sind für den russischen Präsidenten Putin untrennbare Bestandteile eines großen Volkes. Ihre Entfremdung beruht auf den Machenschaften von Landesverrätern, denen das Handwerk gelegt werden muss. Ukrainer erzählen dagegen eine ganz andere Geschichte. Für sie ist die Ukraine eine eigene Nation, deren Ursprünge bis ins Mittelalter und die frühe Neuzeit zurückreichen.

Wer hat recht? fragt Andreas Kappeler in dem vorliegenden Buch, das die unterschiedlichen Geschichtsnarrative der russischen und ukrainischen Seite.  detailliert und fair darlegt  und dem Leser am Ende das eigene Urteil überlässt. Darin liegt sein aktueller und ungemein informativer Wert.

Allegorische Darstellung der Chrstianisierung der Kiewer Rus in Sebastopol/Krim

Alles begann mit den Kiewer Rus, einem Staatsverband, der die ostslawischen Stämme am Dnjepr zwischen dem 9. bis13. Jhdt. zusammenfasste. Auf dieses Reich gehen die Christianisierung (988), die Städtegründungen, die Entstehung der ostslawischen Orthodoxie, der Rang Kiews als „Mutter aller russischen Städte“  und die enge Anlehnung an das byzantinische Kaiserreich zurück. Die Russen betrachten das Reich von Kiew als den Ursprung ihrer Geschichte, die Ukrainer dagegen behaupten, dass im Kiewer Reich weder Russen noch Ukrainer gelebt hätten, sondern lediglich ostslawische Stämme, aus denen sich erst später Russen und Ukrainer entwickelten.

Halych Westukraine

Einig sind sich beide Seiten darin, dass der Mongolenstum des 13. Jhdts. zum Untergang des Kiewer Reiches und zur Zerstreuung seiner Bewohner geführt hatte. Ein Teil der Alt- oder Proto-Russen wurde nach Norden „hinter die Wälder“ abgedrängt, wo sie die Mongolenzeit in Gestalt tributpflichtiger Kleinstaaten wie Jaroslaw, Susdal oder Moskau überstanden. Der andere Teil wurde nach Südwesten abgedrängt und bildete im Gebiet der heutigen Westukraine einen eigenen Staat mit der Hauptstadt Halych (daher Galyzien). In der Sichtweise der heutigen Ukrainer erfuhr dieses Galizien eine starke mitteleuropäische Prägung. Seine Städte erhielten das Magdeburger Stadtrecht, sein Adel besaß ganz andere Mitspracherechte als im Norden, und seine Bauern verfügten (wenigstens anfänglich)  über größere Freiheitsgrade. Auch wenn dieses Galizien bald in  Abhängigkeit von Polen geriet, erkennen die heutigen Ukrainer in diesem galizischen Reich des 13. Jhdts. die ersten Anfänge ihrer Nation. Alles Quatsch, sagen die Russen, denn diese „Galizier“ nannten sich selbst „Ruthenen“, was nichts anderes als eine latinisierte Form von „Russen“ ist.

Bogdan ChlemnitzkuiDenkmal Kiew

Von der „Ukraine“, dem Land der „Grenze“ war erst ab dem 16. und 17. Jhdt. die Rede, als sich in diesem Grenzland in der Nachbarschaft von Krimtataren und osmanischen Türken (dem sogenannten „wilden Feld“) Entlaufene, Dissidenten, flüchtige Leibeigene, Kriminelle und Freiheitsuchende aller Art sammelten und sich zu berittenen Kosakenverbänden zusammenschlossen. Kosaken („freie Krieger“) wählten ihren Anführer, den „Hetman“ selbst und  hassten jede Art von Fremdherrschaft. 1648 kam es rechts und links des Dnjepr zum Kosakenaufstand des Bogdan Chmelnitzky, bei dem 30.000 Polen und Juden massakriert wurden. In dieser „Kosaken-Revolution“ erblicken die patriotischen Ukrainer den zweiten eigenständigen Ursprung ihrer Nation. Allerdings unterstellten sich die Kosaken, um sich vor der polnischen Strafexpedition zu schützen, schon einige Jahre später (1654) der Oberhoheit des Moskauer Zaren. „Eben“, sagen die Russen, seit damals ist die „Ukraine“, das Grenzland, ein fester Bestandteil des russischen Reiches. „Eben nicht“, widersprechen die Ukrainer, für die die Unterstellung der Kosaken unter das Zarenregiment rein opportunistisch und zeitlich begrenzt gewesen war. Wie immer dem auch gewesen sein mag, in den folgenden russisch-polnischen Kriegen wurden die Kosaken zur Manövriermassen größerer Reiche. 1686 kam es im „ewigen Frieden“ zwischen Russland und Polen, der das Land der Kosaken entlang des Dnjeprs teilte, der Osten ging an Russland, der Westen an Polen. Die Trennung der heutigen Ukraine in einen  eher russlandfreundlichen und einen eher westlich geprägten Teil lässt sich bis zu dieser Grenzziehung zurückverfolgen. Vergeblich versuchten die Kosaken, die auf beiden Seiten der Grenze lebten, ihre Gebiete wieder zu vereinigen. Als Peter der Große im Nordischen Krieg (1700-1721) gegen die Schweden kämpfte, griffen die Kosaken unter ihrem Hetman Mazepa sogar auf Seiten der Schweden (vergeblich) in den Kampf ein. Seit damals gilt der „Mazepismus“ in Russland als Synonym für Spaltung und Landesverrat. In der Folgezeit geriet der ganze Westen unter die Herrschaft der Russen, die nie auf die Idee gekommen wären, in den „Ruthenen“ eine eigene Nation zu erkennen.

Noch komplizierter wurden die Verhältnisse durch die russisch-türkischen Kriege in der zweiten Hälfte des 18. Jhdts. Sie führten zur Eroberung der nördlichen Schwarzmeerküste inklusive der Krim und zur Gründung von Neurussland. Damals entstanden Odessa, Simferopol und Sebastopol als russische Städte, in denen Russen, Ukrainer, Armenier, Krimtataren und Juden lebten.

Aber zurück zur eigentlichen Ukraine mit den Zentren Kiew und Lemberg. In ihnen entstand im 19. Jhdt. eine ukrainische Nationalbewegung, die sich um die Pflege der ukrainischen Sprache und Kultur bemühte. Taras Tschewstschenko oder Iwan Franko sind nur zwei Namen einer  ganzen Galerie ukrainischer Dichter und Gelehrter, die unter dem Regiment des Zaren nichts zu lachen hatten.

Wie stark das Nationalgefühl der Ukrainer war, zeigte sich, als sich nach dem Zusammenbruch des Zarenreiches am Ende des ersten Weltkrieges ein eigener ukrainischer Staat konstituierte. Bekanntermaßen überlebte der erste ukrainische Staat nicht lange, sondern wurde von der Roten Armee am Ende des russischen Bürgerkrieges wieder einkassiert. Bei der anschließenden Gründung der UdSSR als einer theoretisch freien Föderation von Sowjetrepubliken geschah dann der aus russischer Sicht entscheidende Sündenfall. Lenin konstruierte eine Ukraine auf dem Reisbrett, d. h. er fasste die West- und Ostukraine und die Gebiete Neurusslands am schwarzen Meer zu einer ukrainischen Sowjetrepublik zusammen. 1954 kam in einem kuriosen Schenkungsakt aus Anlass des Jubiläums der ersten russisch-kosakischen Übereinkunft von 1654 die überwiegend russisch besiedelte Krim als Geschenk hinzu. Zum Zeitpunkt der Grenzziehung war das nicht besonders wichtig, weil die  Grenzen der Sowjetrepubliken innerhalb der zentralistischen UdSSR ohnehin belanglos waren.

Gut ist des den Ukrainern in der Sowjetunion aber nicht ergangen, man denke nur an den Holodomor, den Völkermord, den Stalin in den den 1930er Jahren an den Ukrainern beging und der noch heute von russischer Seite abgestritten wird.  Unvergessen ist auch der verantwortungslose Umgang der Sowjetführung mit der Atomkatastrophe von Tschernobyl 1986.

Dass der zweite ukrainische Staat 1991 entstehen konnte, war nur der zeitweisen Schwäche Russlands unmittelbar nach dem Zusammenbruch der UdSSR zu verdanken. Allerdings, auch das gehört zur Wahrheit, war dieser neue ukrainische Staat kein Vorzeigemodel für die neu entstehenden osteuropäischen Demokratien. Der Historiker Timothy Synder beschreibt ihn als eine „Kleptokratie“ schlimmsten Ausmaßes, das innerhalb kurzer Zeit zur Verarmung großer Teile der Bevölkerung führte. Diese krisengeschüttelte Ukraine wurde  außerdem schnell zum Kampffeld russlandfreundlicher und eher westlich ausgerichteter Gruppierungen, was zu diversen Umstürzen führte, in deren Verlauf die russische Seite immer mehr ins Hintertreffen geriet.  Als die Ukraine nach der Maidanrevolution endgültig ins westliche Lager abzudriften drohte, annektierte Putin die Krim und installierte die Separatistengebiete am Donbas.  Man wird allerdings auch zugeben müssen, dass die NATO, die EU  und die zivilgesellschaftlichen Eliten in dieser Phase wenig dazu beigetrugen, russische Befindlichkeiten zu schonen. Man denke nur an die unsinnigen Sprachgesetze, die die Russen in der Ostukraine dazu zwingen sollten, ukrainisch zu sprechen.

Die aktuelle kriegerische Intervention Russlands will diese Westverschiebung der Ukraine aufhalten bzw. rückgängig machen. In Wahrheit ist sie ein gutes Beispiel dafür, wie Akteure, in ihrem eignen Geschichtsbild gefangen, von falschen Voraussetzungen ausgehen. Die russische Führung glaubte allen Ernstes in der Ukraine oder wenigstens im Osten der Ukraine  als Befreier begrüßt zu werden. Möglicherweise schwebte Putin ein ähnlich triumphaler Einzug in Kiew vor, wie er Hitler 1938 in Wien zuteil geworden war. Mit dem verbissenen Widerstand der Ukrainer auch im Osten des Landes hatte man ganz bestimmt nicht gerechnet.

Maidan Kiew

So weit, so detailliert. Aber wie steht es mit der Berechtigung dieser Narrative?,  Weit davon entfernt, dem Leser seine eigene Meinung aufzudrücken, offeriert der Autor einige Beurteilungskriterien, denen man zustimmen kann oder auch nicht. Dass die Ukraine in ihren aktuellen völkerrechtlichen Grenzen tatsächlich eine Schöpfung Lenins ist, kann man nicht abstreiten.  Auf der anderen Seite ist die westliche Ukraine viel eher ein mitteleuropäisches, als ein osteuropäisches Land. Lemberg ist tatsächlich Krakaus gleichwertige Schwester. Außerdem verbirgt das Gerede vom „Brudervolk“ auf russischer Seite nur unvollkommen die klar hervortretende imperiale Stoßrichtung. Die Russen wollen nicht wahrhaben, dass der Zusammenbruch der UdSSR ihnen die Weltmachtstellung gekostet hat. Die Demut, mit denen die Deutschen sich mit dem Verlust Pommerns, Schlesiens und Ostpreußens abgefunden und ihre Großmachtambitionen in den Wind geschrieben haben, ist der russischen Empfindungswelt (noch?) fremd.

Eines aber ist ganz sicher: der  gegenwärtige Krieg trägt dazu bei, die Separierung zwischen Russen und Ukrainern voranzutreiben. Dass die Ukraine nach der Vernichtung eines großen Teiles ihrer Infrastruktur und dem Tod tausender Zivilisten die Russen noch als Brudervolk betrachten, wird man kaum erwarten können.  Putin, der so großen Wert auf die „russki mir“ legt, hat sich in dieser Hinsicht selbst ins Knie geschossen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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