Tolstoi hat bekanntlich seinen Roman „Anna Karenina“ mit der Bemerkung begonnen, alle glücklichen Familien seien auf die gleiche Wiese glücklich, alle unglücklichen seien unglücklich jeweils auf eine andere Art. So verhält es sich auch mit den „unglücklichen“ Ländern Lateinamerikas. Sieht man genauer hin, sind viele von ihnen auf eine andere Weise gescheitert, was bei einer allzu globalen Betrachtung leicht übersehen wird.
Die Autorin des vorliegenden Buches macht sich tatsächlich die Mühe, genau hinzusehen und Bolivien in seiner komplizierten Gewordenheit und Struktur für den Leser nachvollziehbar darzustellen. Das Buch beginnt mit einer breiten und gut lesbaren geschichtlichen Einleitung, die die lange vor der eigentlichen Gründung des bolivianischen Staates im 19.Jhdt. einsetzt. Das Territorium, das heute als Bolivien firmiert, war in der Kolonialzeit als Süd-Peru mit dem Silberberg von Potosi eine der Perlen des spanischen Weltreiches. Eine geschichtlich zwiespältige Erinnerung, denn der Silberberg von Potosi brachte Hunderttausenden indianischer Zwangsarbeitern im Laufe der Jahrhunderte einen elenden Tod in den quecksilberversuchten Stollen, weil jeder Indio innerhalb von sieben Jahren einmal vier Monate lang unentgeltlich für die Kolonialherren nach Silber buddeln musste. Gegen diese Unterdrückung erhob sich 1780/1 vergeblich Tupac Katari, ein Nachkomme des letzten Inkakönigs, in einem Volksaufstand, der blutig niedergeschlagen wurde.
Die eine Generation später erkämpfte Unabhängigkeit von Spanien brachte für die mehrheitlich indianische Bevölkerung (Quechua und Aymara) keinerlei Verbesserungen. Wählen durfte nur, wer des Spanischen mächtig und besitzend war. Die bald vollzogene Abtrennung Boliviens (benannt nach dem Libertador Simon Bolivar) von Peru hatte auf die Lebensverhältnisse der mehrheitlich indigenen Bevölkerung keinerlei Auswirkungen. 1951 führte die sogenannte „unvollendete Revolution“ zu einer bescheidenen Landreform, die aber die gröbsten Ungleichheiten nicht beseitigte. Insofern war Bolivien theoretisch der ideale Ausgangspunkt für eine gesamtlateinamerikanische Sozialrevolution, wie sie Che Guevara von Kuba aus 1966 in Angriff nahm. Praktisch aber ging dieses revolutionäre Abenteuer schief, weil die Campesinos, die gerade erst einen bescheidenen Landbesitz erhalten hatten, keinerlei Lust auf sozialistische Experimente verspürten. Sie verrieten Guevara, der in der Nähe von Cochabamba erschossen wurde. Umso erstaunlicher, dass Che Guevara heute neben Tupac Katari die mit Abstand hochverehrteste geschichtliche Persönlichkeit Boliviens ist. Ein ganzer Heiligenkult inklusive einer „Route de Che“ ist mittlerweile in Bolivien etabliert worden.
Nach dem Ende Ches wurde das Land bis in die Achtziger Jahre von Militärdiktatoren beherrscht. Erst danach begannen zaghafte Versuche einer Modernisierung unter neoliberalen Vorzeichen, die zu einer Verschleuderung des Nationalvermögens und zur Verschlechterung der Versorgungslage führten. Kennzeichnend für diese neoliberale Phase war der „Wasserkrieg von Cochabamba“, der ausbrach, als ein internationaler Konzern das Wassermonopol erhielt, die Preise verdreifachte und den Campesinos den Zugang zu selbstgegrabenen Brunnen beschneiden wollten. Der Rückblick auf die wirtschaftliche Krise im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts verdeutlicht, warum 80.000 Bauernfamilien in das Tiefland einwanderten um dort ihren Lebensunterhalt durch den Anbau der Koka-Pflanze zu verdienen. Seitdem hat Bolivien mit den USA ein massives Problem, weil das bolivianische Koka in Kolumbien zu Kokain weiterverarbeitet und in die USA transportiert wird.
Alles wurde anders, als Evo Morales, ein 1959 geborener Gewerkschaftsführer, den Widerstand organisierte. Morales agitierte zunächst mit Straßenblockaden im landessweiten Kampf gegen die Kokavernichtung. Dieses Engagement hat er beinahe nicht überlebt, denn 1989 wurde er entführt, gefoltert und halb tot im Wald liegen gelassen. Trotzdem gelang ihm 1995 die Gründung einer eigenen Partei und 2005 der triumphale Wahlsieg bei den Präsidentschaftswahlen. Die Mittelschichten befürchten ein neues Kuba und organisieren den Widerstand, der sich auf die reiche Region von Sucre im Osten Boliviens konzentrierte. Aber das war einmal. Inzwischen haben sich durch die von höchster Stelle geförderte indigene Zuwanderung die Mehrheitsverhältnisse auch in Sucre verändert.
Was waren die Reformen, die der erste indigene bolivianische Präsident im engen Schulterschluss mit Chavez (Venezuela). Castro (Kuba) und teilweise auch mit Lula (Brasilien) durchführte? Zuerst kam es zur Renationalisierung der Bodenschätze. Die Konzerne mussten erheblich mehr Abgaben zahlen, so dass aus diesen Geldern Schulen und Straßen, Krankenversorgung und Alphabetisierung finanziert werden konnten. Als besonders ergiebig in dieser Hinsicht erwiesen sich die umfangreichen Gasvorkommen des Tieflands, die allerdings in 10 Jahren zu Ende gehen werden. Ob sich durch den Lithium-Abbau auf der Grundlage der Ressourcen der Salar de Uyuni eine neue Perspektive ergeben wird, bleibt abzuwarten.
Erst aber einmal floss der Rubel und eine Reihe ehrgeizgier Infrastrukturprojekte wurde in Angriff genommen. Eine Seilbahn entstand im verkehrsüberlasteten La Paz, das Straßensystem wurde verbessert und mit kubanischer Hilfe gelang die Etablierung eines einfachen aber landesweiten Gesundheitssystems. Auch die Polizei wurde reorganisiert, d. h. die alte Mindestgröße von 1,75 Meter für einen Polizisten wurde abgeschafft, so dass der Polizeidienst nunmehr auch den Indios offenstand. Allerdings schlug die vorherige Privilegierung von Weißen und Mestizen bald ins Gegenteil um. Ohne ein MAS Parteibuch ist heute in Bolivien bald keine Karriere mehr möglich. Die Folgen sind Inkompetenz und Schlendrian der Amtsträger. Die Indigenisierung als Leitkultur zeitigte kuriose Blüten, etwa die Vorschrift, dass Ärzte angehalten wurden, sich bei Diagnose und Therapie mit Schamamen zu beraten. Die neu eingeführte Rechtsprechung der Dorfältesten orientierte sich an den sehr harten indigenen Prinzipien inklusive Tortur und Todesstrafe. Wie vollkommen anders die indigenen Traditionen des Morales Regimes funktionieren, zeigten die neuen Gesetze zur Kinderarbeit, die es erlauben, dass Kinder ab zehn Jahren arbeiten, weil das der indigenen Kultur entspricht. Sie müssen nur einen bescheidenen Schulbesuch und eine Basisabsicherung inklusive Mindestlohn nachweisen. Die internationale Empörung über diese Gesetze ließ den Präsidenten kalt.
Selbstverständlich wurde die Ächtung der Koka-Pflanze sofort beendet. Ebenso wie Schamanentum und Kinderarbeit wurde die Koka-Pflanze zum Teil des nationalen Erbes erklärt. Nach langen Verhandlungen mit internationalen Organisationen wurde erreicht, dass die bolivianischen Koka Anbauflächen auf 20.000 ha erweitert wurden, was viel mehr war als der Eigenverbrauch erforderte hätte, so dass noch genügend Spielraum für den Drogenhandel verblieb. Inzwischen beteiligen sich sogar normale Familien des Tieflandes an der Kokainherstellung mittels improvisierter Waschmaschinen. Ein großes Problem für die Privatwirtschaft stellen mittlerweile die staatlich verordneten Lohnerhöhungen dar, die den Privatsektor ruinieren. Außerdem verhindert ein extrem rigider Kündigungsschutz wirtschaftliche Anpassungen über Entlassungen. In der Theorie wird viel von Naturschutz und „Mutter Erde“ geredet, in der Praxis aber hat die Ausbeutung der Bodenschätze Vorrang. Überall im Tiefland vollzieht sich Brandrodung und Neulandgewinnung per Sojabohnenanbau, was maßgeblich zur Klimaerwärmung beiträgt. Trotzdem klopft der Präsident auf der Weltklimakonferenz in Paris dicke Sprüche und verlangt „Umweltgerechtigkeit“ und Strafzahlungen des Nordens für den menschengmachten Klimawandel. Die Erderwärmung hat laut der Autorin zum Gletscherschmelze und damit zur Wasserknappheit geführt. Der Titicacasee verliert an Wasser und könnte sich bald in drei Seen aufspalten.
Außenpolitisch krankt das Land noch immer an Belastungen aus der Vergangenheit. Kein Bolivianer bleibt gelassen, wenn er an den Verlust des Meereszuganges nach dem Salpeterkrieges gegen Chile (um 1876) denkt. Mit dem Niedergang Kubas und Venezuelas bröckelt inzwischen auch die Unterstützung, die Morales aus diesen Ländern erhielt. Deswegen kommt es zur Zeit zu einer engen Anlehnung an China, das zu hohen Zinsen im Land investiert, Rohstoffe abbaut und sich wenig um Arbeitnehmerrechte und Umweltstandards kümmert.
Allem in allem ist unverkennbar, dass die Autorin mit der Reformpolitik von Morales sympathisiert, allerdings spart sie auch nicht mit Kritik an der zunehmenden Repression. Morales hat sich unter Bruch der Verfassung zum dritten Mal als Präsident aufstellen lassen und wird auch ein viertes Mal antreten. Das von ihm handverlesene Verfassungsgericht hat diesen Verfassungsbruch bestätigt. Maduro lässt grüßen. 2006 stand Bolivien im Ranking der Pressefreiheit gemeinsam mit Kanada und Österreich auf Platz 16. Seither ging es stetig und rasant bergab, 2018 erreichte das Land nur Platz 110. Drohungen und Gewalt gegen Journalisten sind keine Seltenheit mehr, auch Morde kommen vor. Die Arbeit von NGOs wird mit dem Argument des Umweltimperialismus beschnitten.
Trotzdem glaubt die Autorin, dass der Präsident noch immer die Mehrheit des Volkes hinter sich hat. Das Volk verzeiht Repression, Bereicherung und partielle Gewalt gegen Andersdenkende, wenn es ihm insgesamt etwas besser geht. An dieser Grundeinstellung, die aller Demokratietheorie Hohn spricht, führt auch in Bolivien kein Weg vorbei. Diesen letzten Gedanken spricht die Autorin zwar nicht aus, ihre Darstellung legt ihn aber nahe. Das Buch ist insgesamt äußerst fair und ausgewogen, zugleich informativ und gut lesbar geschrieben. Ideal als ernsthafte Vorbereitung für eine Reise nach Bolivien.