Schnitt und erste Szene. Wir befinden uns auf dem deutschen Dampfer „Prinz Waldemar“, der am Beginn der 20. Jhdts. von Hongkong aus über die Philippinen die deutschen Kolonien in der Südsee ansteuert. Dicke deutsche Pflanzer lassen es sich an Bord bei Bier und fettem Essen gut gehen, widerwillig beäugt von einem Passagier ganz eigener Art. Für den Reisenden August Engelhardt, die Hauptperson des vorliegenden Romans, sind die schnarchenden Pflanzer mit ihrem ungehemmten Fleischgenuss ein Gräuel, denn August Engelhardt befindet sich auf dem Weg in die Südsee, um dort dem Kokovorismus, der Lehre von der Heilkraft der Kokosnuss, zu frönen.
So beginnt der viel diskutierte neue Roman des Schweizer Schriftsteller Christian Kracht, das Porträt eines Ökophantasten, der in der Südsee eine vegetarische Zivilisation auf Kokosnussbasis errichten möchte. Die Welt soll nicht am deutschen Wesen, aber immerhin an der Kokosnuss genesen, aus der der Kokovore Engelhardt von der Nahrung bis zur Kleidung, vom Heizstoff bis zum Baumaterial alles gewinnen zu können glaubt.
Zunächst lässt sich auch alles ganz gut an: in der deutschen Kolonie Neupommern kauft Engelhardt der wohlhabenden Miss Emma Forsythe eine ganze Insel voller Kokosnusspalmen ab und schreibt begeisterte Briefe in die Heimat. Seine Versuche, Kokosnussöl in die Welt oder wenigstens ins Reich zu vertreiben, sind zwar von Anfang an zum Scheitern verurteilt, aber dafür stehen bald ökologische Sonderlinge aller Art vor der Türe – zuerst der Vegetarier
Heinrich Auecken, der sich nicht nur als Antisemit sondern auch noch „erstklassiger Mistkerl“ entpuppt. Als Auecken den kleinen Engelhardt Diener, den kleinen Makeli vergewaltigt, findet er den Tod von der Hand des Kokovorenfürsten. Unnötig zu sagen, was das Mordwerkzeug war? Natürlich eine Kokosnuss.
Etwas besser läuft es zunächst mit dem Pianisten Max Lützow, der zusammen mit seinem Klavier und zahlreichen Gebrechen eines Tages in der deutschen Kolonie Neupommern landet. Diesmal ist die Freundschaft sofort perfekt, Lützow siedelt nach Kabakon um, wohnt in der Hütte von Engelhardt und wird von seinen Zivilisationsleiden geheilt – während Engelhardt aufgrund seiner kokosnussbasierten Mangelernährung vor sich hin siecht. Noch schlimmer wird es, als zum Entsetzen der Obrigkeit eine Schar naturbegeisterter Deutscher in „Neupommern“ landet, um zum Kokosnussmekka Kabakon überzusetzen. Nur mit Mühe kann die schräge Schar heimgeschickt werden, aber um die Reputation des Sonderlings ist es in der Kolonie nun endgültig geschehen. Engelhardt verdient nichts mehr, verarmt, und verwahrlost derart, dass ihm das Ohrenschmalz auf die Schulter tropft („und er muss an sich halten, nicht mit dem Finger ins Ohr zu fahren und das Sekret probierend zum Munde zu führen“ S.172) Am Ende kommt es soweit, dass der deutsche Gouverneur von Neupommern einen Seemann mit der Ermordung des Kokovorenapostels beauftragt. Allerdings wird der Plan nicht ausgeführt, und der bald ausbrechende Erste Weltkrieg mitsamt dem Zusammenbruch der deutschen Südseekolonien verändert alles. Engelhardt, inzwischen an Lepra erkrankt verschwindet und wird – anders als das historische Vorbild – Jahrzehnte später von den Amerikanern auf den Salomonen aufgegriffen und mit Hot Dogs traktiert.
Das ist in starker Raffung in etwa die Geschichte vom Aufstieg und Fall des Kokovoren-Imperiums, eine Erzählung (Roman ist wirklich etwas hoch gegriffen) , die mit zahlreichen historischen Anspielungen (Hitler, Thomas Mann, Hermann Hesse, Franz Kafka und andere) und eingestreuten Reflexionen den Leser auf etwa 230 Seiten ganz gut unterhält. Die Mehrzahl der handelnden Personen besitzt durchaus historische Vorbilder, mitunter ist die Geschichte der Figuren haarklein nacherzählt, manchmal wird auch frei variiert. Formal verfährt der Autor ebenso erfrischend ekklektisch – er entfaltet die Handlung in der Hauptsache als allwissender Erzähler, schlüpft aber ohne formale Skrupel wie ein Spion einfach in die Innenwelt seiner Figuren und wendet sich hier und da auch einmal direkt an den Leser. Die Sprache ist geschliffen, leicht ironisch, gut lesbar – allerdings wird der Wille des Autors, in seinem kleinen Buch eine Art Kracht-Stil zu generieren, überdeutlich.
Was aber soll das Ganze? Inhaltlich kann man die Geschichte von August Englhardt und seinem Imperium selbstverständlich als eine unterhaltsame Art Ökoglosse lesen, als Persiflage auf einen vegetarischen Sonderling in einer Welt der Carnivoren. Möglich auch, dass es sich bei August Engelhardt um einen Art Öko-Candide handelt, der sich die beste aller Welten selbst erschaffen will und in seiner kompletten Vernageltheit elend scheitert. Diese Sichtweise enthielte schon etwas mehr an zeitkritischem Potenzial, über das sich die Ökos unserer Tage wenig freuen dürften. Aber das ist noch längst nicht alles, denn eine ganze Reihe anderer Gedanken drängen sich dem auf, der am Ende des kleinen Werkes seinen Gedanken nachhängt. Dafür nur ein Beispiel: über das Kokvorentum können wir heute nur den Kopf schütteln, aber ist es nicht genauso abgedreht, wenn in unseren Tagen in der regnerischen und meist bewölkten Bundesrepublik weltweit die Hälfte aller Sonnenkollektoren stehen, was die Strompreise ins Unerträgliche steigen lässt? Oder dass wir eine Armee haben, die zwar kaum noch einen Hubschrauber vom Bodne bekommt, aber mit gender Toiletten glänzt? Welche Reflektions- und Kritikebene man auch immer bei dem vorliegenden Buch in Ansatz bringt: dass das Buch überhaupt derartige Überlegungen evoziert, wird man ihm zum Vorteil anrechnen müssen
So weit so gut. Ob es sich wirklich um das „anregendste Buch dieses Bücherfrühlings“ handelt, wie der hoch geschätzte Denis Scheck behauptet, möchte ich allerdings bezweifeln. Dafür erscheint mir dann doch die Charakterzeichnung zu dünn, der Spannungsbogen zu artifiziell, und Struktur der historischen Anspielungen erinnert mir zu sehr an Name-Dropping. Am ehesten erscheint mir das Buch wie die Streitschrift eines antiken Philosphen, der im 4. Jhdt. nach dem Durchbruch des Christentum zur Staatsreligion im spätrömischen Reich in einem Pamphlet die ganze Lächerlichkeit frühchristlicher Asketen persifliert – späteren Zeiten zur Erheiterung, wobei das Wunderliche ist, dass das auch schon in der Gegenwart gefällt.
Nachtrag: Fast zu viel Ehre wurde dem Buch angetan, als es zum Gegenstand einer literarischen Kontroverse wurde, weil der SPIEGEL Kolumnist Georg Diez das Buch „Imperium“ der Verbreitugn von „neurechtem Gedankengut“ beschuldigte.
Kokovorentreff in Köln