Kraß: Ein Herz und eine Seele, Geschichte der Männerfreundschaft

Wir leben in einer Zeit, in der Freundschaften auseinanderbrachen. Die tiefgreifende Spaltung, in die die Politik das Land geführt hat, schlägt ihre Schneisen bis in den privaten Bereich.  Manch einer, der plötzlich überrascht am Ende einer Freundschaft steht, fragt sich: Was war das, was ich verlor?  Und vor allem: war das, was ich verlor, überhaupt eine Freundschaft gewesen?

Grund genug, sich einmal etwas intensiver mit der Freundschaft (hier expressiv verbis: der „Männerfreundschaft“) auseinanderzusetzen. Andreas Kraß hat dies im Rahmen einer  Studie über die großen Freundschaften der Literaturgeschichte geleistet und mit reichlich Luhmannschem Theoriegewürz zu einer „Geschichte der Männerfreundschaft“ von der Antike bis zur Gegenwart aufgetischt. So weit, so beeindruckend . Was habe ich aus der Lektüre des vorliegenden Buches mitgenommen?

Kraß zitiert Platon, nach dem  Freundschaft eine „gegenseitige Wahl“ sei, die auf „Gleichheit“ beruhe. Allerdings sollte es eine „Gleichheit im Guten“ sein. Aristoteles unterscheidet die „zufällige“ und „die auf Tugend beruhende Freundschaft. Diese Aspekte wiederholen sich auch bei Ciceros Abhandlung über die Freundschaft, was bedeutet, dass sich die „klassische Freundschaft“ nicht allein aus sich selbst heraus begründet werden konnte, sondern immer auf ein Drittes bezogen war: in der Antike war es der Dienst am Staat, im Mittelalter die Hingabe an die Religion, in der Neuzeit mit Einschränkungen die gemeinsamen Passion für Kunst und Literatur.  Diese klassische Freundschaft unter dem Schirm eines anerkannten gesellschaftlichen Ideals „veredelte“ die Freundschaft und machte sie zu einem stabilisierenden Strukturelement des  sozialen Systems.

Geht man näher in den persönlich-subjektiven Bereich, so zeigt sich, dass das Kernelement der Freundschaft die „Wesensgleichheit“ ist. Im Extremfall handelt es sich um eine Art „verdoppelter Identität“.  Cicero spricht in seinem Buch über die Freundschaft vom Merkmal des gegenseitigen Wohlwollens und grenzt die Freundschaft als freiwillige Wahl von der Verwandtschaft ab. Beim Diskurs über die Freundschaft in der Antike muss immer mitbedacht werden, dass die Sexualität bei Männerfreundschaften nicht ausdrücklich ausgeschlossen ist. Im Unterschied zum Mittelalter, wo Freundschaft und Sexualität zusammenpassen wie  der Teufel und das Weihwasser.

In der Neuzeit, der Epoche der passionierten Liebe, die nicht mehr begründet zu werden braucht, wird auch die Freundschaft „persönlich“ und bedarf im Prinzip keine Anlehnung an ein Drittes mehr, um sich zu rechtfertigen.  Indem die Freundschaft gleichsam „höchstpersönlich“ wild, verliert sie allerdings ihre gesamtgesellschaftliche stabilisierende Funktion.  Ihre systemstabilisierende Funktion übernimmt die Sympathie beziehungsweise die Empathie.

Die Männerfreundschaft in der Moderne wird also zugleich entweltlicht und emotionalisiert. In Michelle Montaignes Essay über die Freundschaft ist dementsprechend von der Freundschaft als einer „gegenseitigen Offenbarung“ die Rede.   Der Autor nennt das „die narzisstische Struktur der Männerfreundschaft“. Freunde sind Freunde, weil sie Freude aus ihrem Umgang beziehen.

Seit 1800 steht die Freundschaft zunehmend im Schatten der romantische Liebe. Sie wird zugleich durch den neu aufkommenden Rekurs über die Legitimität der Homosexualität belastet Es entsteht eine Dichotomie von  homoerotischer und homosexuelle Liebe, und der Begriff beginnt zu diffundieren. Das Aufkommen korrespondierender Begriffe wie Kamerad, Kumpel oder  Komplize (Bataille) beweist das Bemühen um Abgrenzung und Neubestimmung.

Soweit das vorliegende Buch, das man jedem empfehlen kann, der sich für die Freundschaft interessiert. Allerdings ist sein Begriffshorizont bei weitem nicht vollständig. Was ich vermisse, ist eine Betrachtung der unvollständigen, der ungleichgewichtigen, der fragmentarischen, der einseitigen, der ambivalenten  Freundschaft – und was mir am meisten fehlt, ist eine phänomenologische Analyse des „Bruchs“ einer Freundschaft, einschließlich der damit zusammenhängenden Enttäuschungen und Perspektivenwechsel.

Aber was hat mir persönlich das Buch im Hinblick auf mein Staunen über das Ende meiner  Freundschaften gebracht? Zuerst und vor allem eine Einsicht in die Doppelnatur der gegenwärtigen Männerfreundschaft. Es mag sein, dass die Freundschaft seit der Neuzeit mehr und mehr „privat“ respektive „narzistisch“ geworden ist, aber selbst diese narzistische Freundschaft beruht auf einem verbleibenden Gerüst sozialer Determinierungen und gemeinsamer Vorlieben  für Literatur, Kunst, Klimaschutz, Reisen oder was auch immer.   Insofern melde ich einen Dissenz zum Buch an und behaupte, dass das das „Dritte“ keineswegs verschwunden ist sondern auch in der engsten Freundschaft weiterlebt. Dass dieses Dritte im Normalfall so wenig bemerkt wird, liegt daran, dass das allen Gemeinsame nicht mehr wahrgenommen wird.  Erst wenn eine tiefgreifende gesellschaftliche Bewusstseinskrise und Spaltung die Milieus erschüttert, wenn plötzlich krasse Unterschiede in Bezug auf Religion oder Politik oder was auch immer zutage treten, tritt dieses Dritte als enorm starke Kraft der Dissoziation wieder in Erscheinung. Mühelos zerreißt es die  scheinbar engsten persönlichen Bindungen.  Ich jedenfalls habe erfahren, dass die persönliche Zuneigung, die ich für eine starke und dauerhafte Quelle der Freundschaft hielt, wie Schnee in der Sonne vor der Kraft der sozialen Dissoziation schmilzt, sobald grundlegende Divergenzen in der Weltsicht zu Tage treten.

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