Man soll mit Superlativen vorsichtig sein, aber ich habe in letzter Zeit kein Werk gelesen, dass mich von der ersten Zeile an derart in seinen Band gezogen hat. Dabei ist der erste Teil der Trilogie so kurz, dass diesen Teil innerhalb einiger Stunden zu Ende lesen kann. Aber es ist ein Text, bei dem jeder Satz wie in Stein gemeißelt daherkommt. Das immer wieder geforderte Entschlacken des literarischen Textes von allem Nebensächlichem, seine Befreiung von allem Ballast, die pure Konzentration auf den Kern – in dem vorliegenden Buch ist sie gelungen.
Kompromisslos und eckig wie die Sätze, in denen die Geschichte erzählt wird, ist auch der Inhalt. Zwei Jungen, es handelt sich um ein Zwillingspaar, geraten in der Endphase des Zweiten Weltkrieges in das Elend des Hinterlandes an einer nicht näher bezeichneten Grenze (wahrscheinlich ist es die ungarisch-österreichische). Sie werden von ihrer Mutter bei einer monströsen Großmutter abgegeben und müssen bei der herzlosen, stinkenden alten Frau für jeden Bissen hart arbeiten. Doch die Zwillinge, die ebenso wie alle anderen Handlungsträger völlig namenlos bleiben, leiden nur kurz, bald finden sie sich zurecht und entwickeln eine geradezu gespenstische Überlebensfähigkeit. Für alle, die mit ihnen in Berührung kommen, die Magd, den Vater, den Offizier und andere werden sie zum Schicksal. Sie sind weder gut noch böse, sie folgen einfach einem inneren Kompass der sie manchmal zu Wohltätern und manchmal zu Richtern macht – am Ende sogar zu Richtern über den Vater. Der erste Teil der Trilogie enthält Schilderungen, wie ich sie noch niemals vorher gelesen habe und die ich nicht so schnell vergessen werde.
Noch ganz unter dem Eindruck des literarischen Handkantenschlages von dem ersten Teil „Das große Heft“ war ich ganz begierig darauf, den zweiten Teil der Trilogie über die beiden Zwillinge zu lesen. Wie man weiß, hatte einer der beiden Zwillinge am Ende von „Das große Heft“ das Land (das stalinistische Ungarn) verlassen, der zweite Zwilling, der nun den Namen Lucas erhält blieb rätselhafterweise zurück. Sein weiterer Werdegang ist das Thema des vorliegenden Buches.
Wer sich an die eiskalten Zwillinge des ersten Bande erinnert, wird allerdings Lucas kaum wiedererkennen. Ist er auch nach wie vor listig und intelligent, entwickelt er sich doch nach und nach zu einem Segensbringer für seine Umgebung. Er versorgt den kranken Pfarrer, und er nimmt die geschändete Yasemine und ihren verwachsenen kleinen Sohn Matthias auf, an dem er bald mit der Liebe eines wirklichen Vaters hängt. Das Buch beleuchtet aber auch die Schicksale zahlreicher Personen aus der namenlosen Stadt, die alle eines gemeinsam haben: sie gehen an der kommunistisch verursachten Deformation aller Lebensumstände elend zugrunde. Clara, deren Mann Thomas unschuldig erschossen wurde, der „Schlafwandler“, der seine ermordete Frau nicht vergessen kann, der homosexuelle Parteisekretär Peter, der Buchhändler Viktor, der seine Schwester erwürgt – schier endlos ist die Zahl der Gestalten, die wie halbiert durch die Wirklichkeit gehen.
Im Unterschied zu „Das große Heft“ ist der Erzählfokus in „der Beweis“ breiter, die Sprache ist nicht ganz so kompromisslos, man hat fast einen „normalen“ Text vor sich, der seine Figuren alle nacheinander auftreten und in der Katastrophe enden lässt. Die überraschende Auflösung der Geschichte von den Zwillingen aber deutet sich nur zaghaft an. Der nach Westen geflohene Claus schreibt merkwürdigerweise über Jahrzehnte nicht, und erst nachdem Lucas nach aus der Stadt verschwunden ist, taucht er plötzlich auf. Was hat das zu bedeuten?
Diese Fragen werden im dritten Teil der Trilogie beangtworet.
Die dritte Lüge“ ist Abschluss und Krönung der Trilogie über die beiden Zwillinge, die mit „Das große Heft“ begann und mit „Der Beweis“ fortgesetzt wurde. Beginnt man als Leser schon am Ende des zweiten Bandes zu ahnen, dass alles nicht so gewesen sein kann, wie es bisher erzählt wurde, so bietet der vorliegende dritte Teil eine Auflösung, die den Leser zuerst enttäuscht, dann überrascht und schließlich tief betroffen zurücklässt.
„Das ist alles gelogen“, heißt es zunächst „Ich weiß sehr gut, dass ich in dieser Stadt schon bei Großmutter alleine war, dass ich mir damals schon einredete, wir seien zwei, mein Bruder und ich, um die unerträgliche Einsamkeit zu ertragen.“ Gemessen am artifiziellen Niveau der bisherigen Handlung kommt einem diese Auflösung zunächst ein wenig einfach vor. Aha, denkt man, deswegen hat Claus im zweiten Band niemals aus dem Ausland geschrieben, weil es ihn ja gar nicht gab. Und natürlich ist die Person, die am Ende des zweiten Bandes als Claus auftaucht, mit Lucas identisch. Immerhin schält sich in der fortlaufenden Erzählung von „Die dritte Lüge“ eine zweite, die scheinbar wahre Version des Lucasschen Lebens heraus, und man lernt überrascht die Rohmaterialien kennen, aus denen der einsame Lucas die Gestalten in Das große Heft“ und Der Beweis“ zusammendichtete. So ist Peter in Wahrheit kein Parteisekretär sondern ein Polizist. Clara, die verzweifelte Frau, die im 2. Teil ihren Thomas nicht vergessen konnte, ist in Wahrheit Peters Frau, und die Person, die am Ende des 1. Teiles an der Grenze in die Luft gesprengt wird, ist nicht der Vater, sondern ein einfacher Flüchtling, der Lucas (nach Jahrzehnten des Lebens in der Stadt ) den Weg in den Westen ebnet. So schaut der Leser in dieser zweiten Version der Geschichte dem fabulierenden Lukas gleichsam in sein Dichterhirn und wird gewahr, wie er aus den Figuren seiner Umgebung sich seine Traumbiographie zusammenbastelt.
Erst ganz allmählich dämmert dem Leser, dass Lucas doch einen Bruder besitzt, dass beiden Brüdern in ihrer Kleinkinderzeit etwas Schreckliches geschehen ist, das Lukas ins Waisenhaus brachte und ihn von seiner Familie trennte. Diese Konstruktion, die dem ganzen Plot die Krone aufsetzt, soll an dieser Stelle nicht verraten werden. Nur so viel: Am Ende sehen sich die beiden Zwillinge dann doch wieder, kurz bevor die Trilogie dann entgültig mit einem Schluss ausklingt, der auch dem unsentimentalen Leser die Tränen in die Augen treiben kann.
An sprachlicher und thematischer Eindringlichkeit, an psychologischer und formaler Raffinesse steht die Trilogie von Agota Kristof für mich einzig dar. Sie überragt alles, was ich auch von Nobelpreisträgern in den letzten Jahren gelesen habe. Ein Buch für Leute, die sehr viel lesen und doch noch etwas Neues und Überraschendes kennen lernen wollen.