Am 27.2. 2024 entschuldigte sich London Breed, die Bürgermeisterin von San Francisco, bei allen Afroamerikanern für den Rassismus und die Diskriminierungen der letzten 200 Jahre. Ein ihr zur Seite stehendes Komitee forderte gleichzeitig für jeden Afroamerikaner in San Francisco die Auszahlung einer pauschalen Reparationssumme von fünf Millionen Dollar und ein garantiertes Jahreseinkommen von 100.000 $ auf Lebenszeit.
Wer sich bei solchen Nachrichten an den Kopf fasst, hat intuitiv die entscheidende Problemdimension der amerikanischen Kulturkrise erfasst: Was ist „normal“ und was ist „abseitig“? Was ist „gut“ und was ist „böse“? In der Unfähigkeit, sich über derart elementare Fragen zu einigen, liegt der Kern der amerikanischen Kulturkrise.
Das jedenfalls ist die These von Arthur Landwehr, der in dem vorliegenden Buch die Strukturen und Hintergründe der tiefgreifenden politisch-gesellschaftlichen Spaltung Amerikas beschreibt. Zweierlei unterscheidet sein Buch von anderen Veröffentlichungen zum Thema: Das Bemühen die Gesprächspartner und die Positionen so genau wie möglich zu verstehen, auch wenn der Autor die Auffassungen nicht teilt, und die Ausgewogenheit, in der die Streitfragen in pro- und contra-Manier dargestellt werden. Mit seinen eigenen Präferenzen hält sich der Autor dagegen weitgehend zurück. Sogar das wohlfeile Trump Bashing wird man bei Landwehr nicht finden, auch wenn der Auto alles andere als ein Trump-Anhänger ist.
Mit diesem unparteilichen Blick entfaltet der Autor die ganze Breite der Problemhorizonte: die Krise der amerikanischen Mittelschicht und das abgehobene Leben der „Coastal Elites“, die Massenmigration und ihre Folgen, den Aufstieg der Wokeness und die Black Lives Matter Bewegung, den Mythos des Cowboys als Grundlage der amerikanischen Identität und den Konflikt um die amerikanischen Waffengesetze. Landwehr versteht die Stigmatisierungserfahrungen der Minderheiten, auch wenn er es problematisch findet, dass sich der linke Flügel der demokratischen Partei so vorbehaltlos in den Dienst dieser Minderheiten stellt. Auch die Krisenerfahrung und die Abstiegsängsten der weißen Mittelschicht kann Landwehr gut nachvollziehen, wenngleich er ihre Zuspitzung durch Donald Trump kritisiert. Die kulturpolitischen Ziele der Wolkeness-Bewegung zielen, so Landwehr, auf die moralische Herabstufung der weißen Bevölkerungsmehrheit ab, die in der Sichtweise der Linken historisch beispielloser Verbrechen schuldig ist. Dem gegenüber sieht sich die eben diese Mehrheit innerhalb einer „verrückt“ gewordenen Öffentlichkeit als „White Trash“ verunglimpft. Am Beispiel Virginias. beschreibt Landwehr einen Schulkonflikt, bei dem sich Stammwähler der demokratischen Partei als weiße Eltern dagegen wehren, dass ihren Kindern in den Schulen beigebracht wird, dass sie sich für ihre geschichtliche Identität zu schämen haben. Besonders am Begriff der Eigenverantwortung scheiden sich die Geister. Landwehr zeigt, dass das Leitbild einer eigenverantwortlich geführten Existenz der weißen Mittelschicht eine permanente Existenzangst auferlegt: Habe ich mich für den Krankheitsfall ausreichend versichert? Sind die Schulen, die meine Kinder besuchen, zukunftstauglich? Habe ich für mein Alter hinreichend vorgesorgt oder muss ich als Siebzigjähriger an der Supermarktkasse arbeiten? Auf Seiten der Minderheiten dagegen gilt schon die Frage nach der Eigenverantwortung individuellen Scheiterns als Beweis für rassistisches Denken. Ein Schelm, wer hier an die Opfernarrative innerhalb der deutschen Migrantenszene denkt.
Ähnlich verhält es sich mit den Begriffen von Demokratie und Freiheit. Landwehr zitiert die klassische Sentenz von Mike Lee, dem Senator von Utah: „Demokratie selbst ist nicht das Ziel. Das Ziel ist Freiheit, Wohlstand, und das Gedeihen der Menschheit. Demokratische Prinzipien haben sich als wichtig für diese Ziele bewährt, sie sind aber nur ein Teil eines Systems von Checks und Balances.“ Die Forderung progressiver Aktivisten nach „mehr Demokratie“ erscheint in dieser Perspektive als sei ein getarnter Egalitarismus, der über die Bestimmungen der Verfassung hinaus gehe. Für die Anhängern des sogenannten „Third Wave Anti-Rassism“ ist das Beharren auf „Checks und Balances“ dagegen pure Besitzstandswahrung.
Am Ende kommt Landwehr zu einem deprimierende Befund. Die komplett unterschiedlichen Weltsichten in allen Wirklichkeitsbereichen haben den Raum für einen neuen Tribalismus freigemacht, der die Zuordnung zu einem Lager von einer Reihe von „Gretchenfragen“ abhängig macht: „Bist du für mich oder gegen mich? Wie hältst du es mit der Religion, dem Recht auf Abtreibung, dem Recht auf Waffenbesitz, der Freiheit der sexuellen Orientierung? Glaubst du an systematischen Rassismus, an Quoten für Minderheiten, einen Vorrang jeder individuellen Identität gegenüber einem gemeinsamen Wertekanon?“ Da zwischen beiden Lagern eine vermittelnde Mitte fehlt, beginnt ein Prozess der „Dezivilsierung“, was nichts anderes bedeutet, als dass die Debatte endet und die Gewalt beginnt. Ein Fünftel bis ein Drittel der Anhänger der großen Parteien, so Landwehr, stellen sich bereits auf einen Bürgerkrieg ein. Das muss alarmieren, weil sich vollkommen legal Millionen Schusswaffen in den Schränken der Antagonisten befinden.
Das Buch endet mit der Darstellung von „Project 2025“, einem Sofortprogramm, mit dem eine neue Trump-Regierung das Steuer in der Umwelt, Wirtschafts- und Kulturpolitik. herumwerfen möchte. Typisch Landwehr ist, dass er es dem Leser überlässt, ob er diese politische To-do Liste der konservativen Opposition als Schreckgespenst oder Verheißung ansieht.