Laqueur: Europa nach dem Fall

Als Walter Laqueur  im Jahre 2007 sein Buch „Die letzten Tage von Europa“ veröffentlichte,  wurde er als Kassandra gescholten. Fünf Jahre später, im Erscheinungsjahr von „Europa nach dem Fall“ haben sich die meisten seiner Thesen bewahrheitet. Auf dem Höhepunkt der weltweiten Finanz- und Eurokrise von 2012 konstatiert Laqueur Europa hat seine großen Tage hinter sich. Es muss sich darauf vorbereiten, in die zweite oder dritte Reihe zurückzutreten. Es kommt nur noch darauf an, ob dieser Niedergang in sozialverträglichen Formen von statten geht, etwa indem es eine große Schweiz wird, die sich neutral und machtlos, aber geachtet, der internationalen Konfliktlösung widmet oder ob es sich in einem großen Kultur- und Freizeitpark verwaltet, der von Millionen Asiaten besucht wird.
Die Gründe für diesen Niedergang Europas werden im vorliegenden Buch noch einmal in aller Breite entfaltet. Es ist der altbekannte Mix aus rückläufiger Bevölkerungszahl,  Abnahme der wirtschaftlichen Effektivität und Leistungswilligkeit, das zusammenbrechende Bildiungssystem, die erschreckend ausufernde Staatsverschuldung, der Aufstieg überlegender Konkurrenten und – das brachte dem Autor herbe Kritik von Seiten des politischen Mainstreams ein – die seit Generationen anhaltende Migration von überwiegend Geringqualifizierten, die im Wesentlichen von dem System partizipieren, ohne zu seinem Wachstum in gleicher Weise beizutragen. All diese Elemente des Niedergangs werden noch einmal gebündelt und verstärkt  durch eine erschreckend inkompetente Politikerklasse, die diesen Herausforderung bei weitem nicht gewachsen ist. Geradezu lächerlich erscheint dem Autor vor diesem Hintergrund die grandiose Selbsteinschätzung der Europäischen Union und die peinliche Neigung der Eurokraten, dem Rest der Welt die eigene Gutmenschen-Moralität unter die Nase zu reiben.
Dieser Prozess des Niedergangs vollzieht sich mit einer fast naturgesetzlichen Kraft, und es ist nicht erkennbar, woher die Impulse für eine Wende kommen sollen. Eine neue Erweckungsbewegung ist nicht in Sicht, von überzeugende Führergestalten ganz zu schweigen. Seine technologische Vorherrschaft hat Europa längst verloren, ebenso wie sein Leistungsethos. Ein Fähnchen Hoffnung hegt der Autor im Hinblick auf einer sich möglicherweise europäisierende Migrantenjugend, aber so recht kann er an diesen grotesken Gedanken selbst nicht glauben.  Die Jugend, nach einem Wort von Martin Buber, „das das in jeder Generation erneuerte Glücksversprechen der Menschheit“,  gibt zu wenig Hoffnung Anlass.
All das wird mit der zurückhaltenden Weisheit eines antiken Philosophen geschildert, der Rom fallen sieht, ohne dass er daran etwas ändern könnte. Laqueur Belege für diese Entwicklung sind überzeugend und lesenswert, wenngleich  Lektüre ein zwiespältiges Erlebnis ist. Einerseits nimmt man nicht ohne Kummer den Abgesang auf die eigene Heimat zur Kenntnis, andererseits ist man erleichtert darüber, dass endlich jemand die Realität klar benennt. Die Lektüre heute ist übrigens noch eine Spur bitterer, denn der Weg in den Untergang hat seit der merkelschen Grenzöffnung des Jahres 2015 und dem Ukraine Krieg seit 2022 nur einmal erheblich Anfahrt aufgenommen.

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