Wer sich heute auf den Inseln des Mittelmeeres vergnügt, bedenkt nur selten, wie ärmlich und perspektivlos das Leben auf diesen Inseln noch vor verhältnismäßig kurzer Zeit gewesen ist. Das trifft in besonderer Weise für die große Insel Sardinien zu, auf der noch nach dem zweiten Weltkrieg Hunderttausende Menschen mit ihren Familien am Rande des Hungertodes dahinvegetieren mussten. Von einer solchen Familie, genauer gesagt von dem ältesten Sohn und dem Vater, dem Padre Padrone, handelt das vorliegende Buch. Der Sohn ist niemand anderes als der Autor, der sich mit diesem Buch die traumatischen Erfahrungen seiner Kindheit und Jugend von der Seele schrieb.
Das Buch beginnt mit einer für den kleinen Gavino einschneidenden Lebensentscheidung. Der ganze erst eingeschulte Gavino wird von seinem Vater wieder von der Schule genommen, weil seine Arbeitskraft zum Überleben der Familie benötigt wird. Zunächst muss er als Kleinkind im Alter von fünf oder sechs Jahren in eisiger Kälte die Schafe hüten und sie vor Banditen und wilden Tieren schützen. Viele seiner Altersgenossen, die genau wie Gavino zu diesen Diensten herangezogen werden, erfrieren in den eiskalten Nächten, auch Gavino überlebt den ersten Winter nur mit Mühe. Seine weiter Lehre umfasst die ganze Bandbreite landwirtschaftlicher Tätigkeiten: Säen, Ernten, Transportieren, Zuschneiden, Holzhacken, Erde umgraben, melken, und das in einer solchen Fülle, dass kaum noch Zeit zum Schlafen bleibt. Für den modernen Leser kaum noch nachvollziehbar ist die unmenschliche Härte, mit der der Vater auch den kleinesten Fehler Gavinos bestraft. Der Vater zeigt keinerlei elterliche Zuneigung, denn er gibt an Gewalt nur weiter, was er auch von seinem Vater erfahren hat. Noch feindseliger ist die Stimmung zwischen den einzelnen Hirtenfamilien des Dorfes. Keiner traut dem anderen, jeder stiehlt und lügt, wo er nur kann. Die Knechte werden so schlecht ernährt, dass sie Schafe stehlen müssen, um nicht zu verhungern. Menschenunwürdig sind die Äußerungsformen der Sexualität bei den jungen Männern, da bleibt kein Schaf und kein Huhn verschont, All das wird auf den ersten 175 Seiten des Buches mit schockierender Anschaulichkeit und so großer sprachlicher Kraft beschrieben, das man sich kaum von der Lektüre lösen kann. Eine brutal-realistische Saga des sardischen Hirtentums entfaltet sich vor den Augen des Lesers, weltenweit entfernt von dem idyllischen Schmus der sardischen Nobelpreisträgerin Grazia Deledda, die Sardinien als Kind verließ und ihr ganzes Leben von einer verlogenen ländlichen Idylle auf Sardinien fabulierte.
Am Ende gelingt Gavino Ledda gegen jede Wahrscheinlichkeit der Ausbruch aus diesem Teufelskreis – und zwar durch Bildung. Gegen den Willen des Vaters trat er in die Armee ein, erhielt eine elementare Schulbildung, die es ihm später erlauben sollte, weiter zu studieren und schließlich zu schreiben. Am Ende, Gavino ist 24, kommt es dann zur Emanzipation vom Vater, einfach, weil dieser aufgrund seines Alters nicht mehr in der Lage ist, den erwachsenen Sohn körperlich zu züchtigen. Froh und glücklich ist Gavino Ledda übrigens trotzdem nicht geworden. Ledda, der sich inzwischen als wohlhabender Mann in seinem in seinem Heimatdorf niedergelassen hat, ist von der Dorfgemeinschaft zur Unperson erklärt worden. Auch Schüsse wurden schon auf sein Haus abgegeben. Von diesem fortdauernden Atavismus merkt man nichts, wenn man heute durch das schöne Sardinien fährt.