Lehnstaedt. Der vergessene Sieg. Der polnisch- sowjetische Krieg 1919/20

Nach dem Zusammenbruch der drei Kaiserreiche Deutschland, Russland und Österreich erblickten in Osteuropa neue Nationen das Licht der Welt: die baltischen Staaten. Estland, Lettland, Litauen, Polen, Weißrussland und die Ukraine – manche wie  die Ukrainer und Weißrussland nur kurzfristig, andere wie die baltischen Staaten und Polen für die gesamte Zwischenkriegszeit.  Jedes dieser Länder war schon im Zeitpunkt seines Entstehens mit den Kainsmalen des Nationalismus geschlagen: Chauvinismus, Kulturdünkel, einem mörderischen Antisemitismus und dem unbedingten Wunsch, sich auf Kosten seiner Nachbarn zur Geltung zu bringen. Erschwerend kam hinzu, dass der russische Koloss im Osten durch den Bürgerkrieg zwar zeitweise geschwächt war, aber  nach Abschluss seiner inneren Wirren versuchen würde, seine alte Machtstellung in Osteuropa zu restituieren.

Pilsudski

Zentraler Akteur dieser Umbruchszeit war Polen, das von der zeitweisen Schwäche Russlands und Deutschlands profitierte und weitreichende territoriale Ziele verfolgte  Ob diese Konzeption „von Meer zu Meer“ entweder als polnisch dominierte Föderation von Polen, Litauen, Weißrussland und Ukraine mit Stoßrichtung gegen Russland (Pilsudski) oder als ein alle Minderheiten assimilierendes Imperium mit Stoßrichtung gegen Deutschland (Dmowski) verwirklicht werden sollte, war allerdings strittig.  Kein  Polen wollte auf polnische Kulturzentren wie Lemberg in der Westukraine oder Wilna in Litauen verzichten, die allerdings komplett von ukrainischem bzw. litauischem Siedlungsgebiet umgeben waren.

Noch verwirrender waren die Verhältnisse bei den „kleineren“ Nationen, die keine Lust hatten, ihre gerade erst erworbene Unabhängigkeit zu verlieren. Unfähig zu eigenen dauerhaften Siegen beschränkten sich die nationalistischen Milizen in weiten Teilen darauf, die Zivilbevölkerung und hier besonders die Juden auszuplündern und zu ermorden.   Kommunisten kämpften gegen Konservative, Polen gegen Ukrainer, Katholiken gegen Orthodoxe, Reiche gegen Arme und alle gegen die Juden.

In dieser Situation gelang es den mit französischen Waffen ausgerüsteten Polen 1918/19 weite Teile der Westukraine und Litauens, darunter auch Wilna und Lemberg, zu besetzen. Die Sowjets wichen zunächst auf allen Fronten zurück, weil sie sich im innerrussischen Endkampf gegen die „weißen“ zaristischen Generäle Denikin und Wrangel befanden. Ein Bündnis der nationalen Kräfte Osteuropas mit den weißrussischen Kräften gegen die Kommunisten kam übrigens nicht in Frage, weil die zaristischen Generäle nach ihrem Sieg auf einer Wiederherstellung des alten Zarenreiches bestanden hätten.

Die Polnischen Truppen standen bereits tief in der Ukraine, als sich Ende 1919 die strategische Situation durch den Sieg der „Roten“ über die „Weißen“ im russischen Bürgerkrieg grundlegend wandelte. Seit Beginn des Jahres 1920 zogen die Sowjets im Norden der Ukraine und Weißrusslands die frei gewordenen Kräfte für einen Vorstoß nach Westen zusammen. In dieser Situation entschloss sich Józef Pilsudski, polnische Oberbefehlshaber, im April 1920 zu einem Präventivschlag, der innerhalb weniger Wochen  zu erheblichen Geländegewinnen führte. Polnische Soldaten erreichten ohne große Gegenwehr die Peripherie von Kiew und fuhren mit der Straßenbahn in die Innenstadt.

Tuchatschewski

Allerdings sollte sich die  Besetzung von Kiew durch die Polen als zweischneidiges Schwert erweisen. Sie revitalisierte ein enormes russisches Nationalbewusstsein, das sich die Bolschewiki zu Nutze machten. So trat  der prominiente zaristische General Brussilow in die Rote Armee ein und begann mit der Ausarbeitung von Plänen für einen Gegenangriff nach Westen. Dieser Gegenangriff stand unter dem Kommando des genialen 27järhigen sowjetischen Generals Tuchatschewski, der im Mai 1920 folgenden Tagesbefehl erließ: „Die Zeit der Abrechnung ist gekommen. Die Armee des Roten Banners und die Armee des räuberischen Weißen Adlers stehen einander im tödlichen Kampf gegenüber. Hinter der Leiche des Weißen Polens leuchtet die Straße eines weltweiten Flächenbrands. Mit unseren Bajonetten werden wir der gequälten Menschheit Glück und Frieden bringen. Nach Westen!“

Innehralb kurzer Zeit brachen die Stellungen der Polen zusammen. In zwei Stoßrichtungen rückten die Sowjets vor, im Westen unter der Führung Tuchatschweskis, der im Bündnis mit den Litauern Riga eroberte und im Osten unter der Führung General Budjonys, der die Polen aus Kiew verjagt und gen Lemberg marschierte. Beide Seiten kämpften mit hochmobilen Armeeeinheiten, wobei der fast schon abgeschriebenen Kavallerie eine neue Bedeutung zukam. Gegenüber defekter Tanker ohne Benzin und Munition war eine Reiterschwadron immer im Vorteil.

Im Sommer 1920 gewannt der sowjetische Vormarsch immer mehr an Wucht, so dass der fantastische Plan entstand, mit der Roten Armee durch Polen hindurchzustoßen, um in Deutschland die sozialistische Revolution zu entfachen. Diese Ideen wurden von der Überzeugung bestärkt, dass sich in Polen und Deutschland sozialistische Arbeiter erheben würden, sobald die Rote Armee heranrückte.

Bekanntlich ist es aber ganz anders gekommen. Der Vormarsch der Sowjets wurde überraschend gestoppt, was als „Wunder an der Wechsel“ in die Geschichtsbücher einging, aber ganz reale historische Gründe hatte. Da es den Polen gelungen war, die sowjetischen Funkcodes zu dechiffrieren, waren sie über die sowjetischen Planungen gut informiert. Außerdem hatten sich die Kräfteverhältnisse im polnischen Kernland umgekehrt. Tuchatschewski hatte sich weit von seinen Nachschublinien entfernt, während die polnische Seite mit Massenaushebungen Oberhand gewann. Unbedingter Einsatzwille der Polen, die mit dem Rücken zur Wand um ihr Vaterland kämpften, kam hinzu, ebenso wie Risikobereitschaft, die – vom Glück unterstützt – schließlich den Sieg brachte.

Der polnische Oberbefehlshaber Pilsudski wusste, dass die sowjetische Armee von Grodna aus nach Warschau vorstoßen wollte. Diese Armee sollte von relativ schwachen polnischen Truppen aufgehalten werden, während starke polnische Kräfte die Weichsel bei Pulawy überschreiten sollten, um die Tuchatschewski-Truppen von Süden zu umfassen. Das war ein riskanter Plan, der sofort zusammengebrochen wäre, wenn die Sowjets unter General Budjony von der Westukraine aus in die Kämpfe eingegriffen hätten. Aber Budjony hatte sich vor Lemberg in eine erfolglose Belagerung verrannt und griff nicht ein, weil er die Lage nicht verstand. Die polnischen Truppen stießen wie geplant von Süden aus vor und Tuchatschewski musste sich, um der Einkreisung seiner gesamten Armee zu entgehen, nach einer knapp zehntätigen Schlacht hinter Bug und die Memel zurückziehen. Als die sowjetische Südostarmee unter  Budjony sich endlich von Lemberg löste und Lublin angriff, kam es  bei Zamosc Ende August 1921 zur größten Kavallerieschlacht des Jahrhunderts. Auch hier wurden die Sowjets geschlagen, so dass sie sich wieder über den Bug zurückzogen. Die Polen besiegten Tuchatschweski kurz darauf ein zweites Mal in der Schlacht an der Memel und eroberten Lemberg und Wilna zurück, womit die Auseinandersetzung entschieden war.

Allerdings waren die polnischen Kräfte zu beschränkt, um einen Vernichtungssieg über die zurückweichenden sowjetischen Truppen zu erringen. Mit Recht weist der Autor auf die paradoxe Lage der Polen hin, die die Schlachten gewonnen hatten, ohne in der Lage zu sein, einen Siegfrieden herbeizuführen. Auch der Waffenstillstand, den beide Seiten im Oktober 1920 schlossen, beendete den Krieg noch nicht, denn die Polen rüsteten verbündete nationalistische ukrainische und weißrussische Unabhängigkeitsbewegungen mit Waffen aus und schickten sie über die Demarkationslinie. Doch sowohl der Ukrainer Petljura wie der berüchtigte weißrussische Schlächter    Bulak-Balachowitz scheiterten und mussten sich wieder auf polnisches Gebiet zurückziehen.

Jetzt erst kam es im März 1921 zum Erschöpfungsfrieden von Riga. Polen behielt große Teile der Ukraine und Weirusslands und die litauische Hauptstadt Wilna, was das Verhältnis von Polen und Litauern nachhaltig verbitterte.  Polen wurde ein Vielvölkerstaat, dessen Minderheiten, Ukrainer, Weißrussen, Juden und die Deutschen im Westen, die polnische Titularnation hassten. Pilsudskis Idee einer osteuropäischen Föderation aus Ukrainern, Weißrussen und Litauern unter polnischer Führung wurde beerdigt.

Die Bilanz des Krieges war schrecklich. Hunderttausende Zivilisten hatten in den Kämpfen den Tod gefunden. Weit über 100.000 Soldaten waren auf beiden Seiten gefallen, unter anderem ein Fünftel (!) des gesamten polnischen Offizierschors. 100.000 Russen und 50.000 Polen befanden sich in Gefangenschaft, Zehntausende von ihnen gingen auch nach dem Friedensschluss durch Seuchen und Unterernährung zugrunde.  Am schlimmsten aber hatte die jüdische Zivilbevölkerung zu leiden. Allein auf dem Gebiet der heutigen Ukraine wurden schätzungsweise 100.000 Juden in den anhaltenden Kriegen seit 1917 ermordet. Dazu kamen weitere 200.000 jüdische Hunger- und Seuchentote, die über 50.000 Waisen zurückließen. Insgesamt wurden über eine halbe Million Juden  Opfer von Raub oder Zerstörung

Soweit in aller Allgemeinheit die Abläufe des polnisch-sowjetischen Krieges, den der Autor in dem vorliegenden Buch sehr detailliert beschreibt. Das Buch schließt mit einer Darstellung der Kontroversen über den  sowjetisch-polnischen Krieg, die bis heute anhalten. Interessanterweise kommt die Kritik am Vertrag von Riga vor allen Dingen aus konservativer Ecke. Der Frieden von Riga habe die Kommunisten entlastet und den späteren sowjetischen Völkermord an den Polen in der Ukraine erst ermöglicht. Der Autor selbst hält die weltgeschichtliche Verklärung des Wunders an der Weichsel für übertrieben. Auch bei einem Sieg Tuchatschewskis hätte die Rote Armee in Deutschland keine Revolution ausgelöst, ganz abgesehen davon, dass dann auch die Franzosen und Briten eingegriffen hätten. Für Polen aber waren die Jahre 1919-1921 trügerische  Schicksalsjahre, deren scheinbar glückliches Ende in die furchtbare Katastrophe des zweiten Weltkrieges und der vierten polnischen Teilung mündete

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