Nur vergleichsweise wenige Menschen haben die öffentliche Anhörung im Parlamentsfernsehen gesehen, bei der Vera Lengsfeld und Henryk Broder im Petitionsausschuss des deutschen Bundestages am 8.10.2018 die „Gemeinsame Erklärung 2018“ zur widerrechtlichen Grenzöffnung des Jahres 2015 vorstellten. Die großen Tageszeitungen verschwiegen wohlweislich dieses Ereignis, denn das Bild, dass die Abgeordneten, vornehmlich der Union, der Grünen und der Linken dabei abgaben, war zum Fremdschämen. Junge Abgeordnete, die in ihrem Leben noch nichts anderes geleistet haben, als sich in Hinterzimmern einen Listenplatz zu erkungeln, fuhren den gestandenen Bürgerrechtlern und Journalisten Lengsfeld und Broder in einer Dreistigkeit über den Mund, die sprachlos machte. Man wird der Bildungsgeschichte dieser angepassten Bonsai-Demokraten nicht zu nahe , wenn man vermutet, dass ihnen gar nicht recht bewusst war, wen sie in dieser unflätigen Weise abbürsteten, im Falle Vera Lengsfelds eine international bekannte Bürgerrechtlerin, die nichts weiter verbrochen hatte, als von ihren Bürgerrechten Gebrauch zu machen.
Für mich war die deprimierende Sitzung des Petitionsausschusses vom 8.10.2018 Grund genug, mich eingehender mit der Lebensgeschichte von Vera Lengsfeld zu beschäftigen. Das vorliegende Buch, „Ich wollte frei sein. Die Mauer, die Stasi, die Revolution“, beschreibt den Werdegang der DDR-Dissidentin bis zum Beginn der Neunziger Jahre. Schon nach wenigen Seiten wurde mir klar, dass dieses Buch auf zweifache Weise gelesen werden kann: zunächst als biografischer Abriss einer demokratischen Bürgerrechtlerin innerhalb eines linksdiktatorischen Systems, aber auch als ein Menetekel dafür, wie stark sich Merkeldeutschland bereits wieder in Richtung auf eine DDR 2.0 bewegt.
Vera Lengsfeld wurde als Tochter eines staatstreuen SED Mitglieds am 4. Mai 1952 geboren. Ihr Lebensweg in der DDR war deswegen zunächst durchaus privilegiert, auch wenn sie als aufmüpfige Schülerin und Studentin ihrer linientreuen Familie manches Ungemach bereitete. Schon in den frühen Siebziger Jahren war sie in politischen Diskussionsrunden aktiv, in denen relativ offen über die Missstände der DDR gesprochen wurde. Schon damals war die Stasi so allgegenwärtig, dass wie selbstverständlich von Diskussionszirkel ein Gruppenmitglied benannt wurde, der mit Wissen der Gruppe belanglose Internas an die Stasi weitergab. Schon als junge Studentin wurde Vera Lengsfeld Ehefrau und Mutter, ließ sich jedoch schon bald wieder scheiden und zog ihren ältesten Sohn Philipp als alleinerziehende Mutter groß (zwei weitere Söhne hat sie mit Knud Wollenberger, von dem später noch die Rede sein wird).
Ein wesentlicher Impuls zur weiteren Politisierung nicht nur von Vera Lengsfeld sondern der gesamten oppositionellen Szene entwickelte sich im Gefolge der Ausbürgerung von Wolf Biermann im Jahre 1976 und den Schikanen, denen die Autoren des offenen Briefes an Erich Honecker im Jahre 1979 ausgesetzt waren. Bedrückend für den heutigen Leser sind dabei die Passagen, in denen die öffentlichen Hetzkampagnen beschrieben werden, denen die Bürgerrechtler von Seiten der DDR Presse und der DDR Kultur ausgesetzt waren. Kaum ein sozialistisch gehätschelter Staatsschriftsteller, der damals nicht im Staatsauftrag öffentlich den Stab die Abweichler brach. Ein Schelm, wer hier an die Ergebenheitsadressen der deutschen Geschichtsprofessoren oder regimeaffine Jubelpresse von SZ bis FAZ denkt. So wie damals die Behördenmitarbeiter zu Hunderten antreten mussten, finanziert und organisiert die Parteienoligarchie heute Demonstrationen und Straßengewalt gegen Merkelkritiker.
Doch zurück zum Lebensweg von Vera Lengsfeld. Parallel zum Protest der Dissidenten wird ab den späten siebziger Jahren das System der DDR immer maroder. So führte etwa der harte Winter 1978 Versorgungsausfällen und staatlich verordneten Zimmertemperaturen von 16 Grad. Vera Lengsfeld, die inzwischen ein prominente Dissidentin geworden ist, wird Anfang der Achtziger Jahre aus der SED ausgeschlossen – was sie aber nicht daran hindert, sich weiter in kirchlichen Friedenskreisen zu engagieren. Immerhin gelingt es der Stasi mit geschulten Diskutanten die Friedenskreise teilweise lahmzulegen und Freundschaften durch das Säen von Verdächtigungen zu zerstören. Immer wieder wundert sich die Autorin über den Hass, der ihr von staatlichen Stellen entgegenschlägt. Heute erkennt sie darin „die hässliche Fratze des Sozialismus“ – nach den gegenwärtigen Erfahrungen möchte man hinzufügen: dieser Hass ist nichts Zufälliges, sondern das Wesensmerkmal einer moralisch bigotten Linken, die die Macht besitzt. Nicht alle Einzelheiten, die Lengsfeld in ihrem Buch darstellt, kann der heutige Leser einordnen, zweierlei aber muss für die Geschichte des DDR-Dissidententums in den Achtziger Jahren festgehalten werden: erstens die entscheidende Rolle, die die protestantische Kirche für die DDR-Friedensbewegung spielte, weil sie ihr geschützte Aktionsräume zur Verfügung stellte, und zweitens die Allgegenwart der Stasi. Manchmal fanden die Friedenkreise in Kirchen statt, deren Pfarrer ein stasi-IM war. Überhaupt keinen Zweifel gibt es übrigens für Lengsfeld, dass Gregor Gysi und Manfred Stolpe Stasi- IMs waren, auch wenn das heute niemanden mehr interessiert.
In der zweiten Hälfte der Achtziger Jahre, als das DDR-Regime durch die russische Perestroika immer mehr unter Druck gerät, reagiert die Stasi mit einem kuriosen Wechselspiel von Repression und Zugeständnissen. Im Zuge der Teilnahme von Vera Lengsfeld und anderen am „Olof Palme Gedächtnismarsch“ kommt es zu Verhaftungen, rechtsradikale Angriffe auf die Friedensgruppen werden von der Stasi entweder organisiert oder gebilligt. Im Zusammenhang mit der Teilnahme der Friedensbewegung an der staatlichen „Luxemburg-Liebknecht“ Demonstration greift der Staat dann hart durch und verurteilt Lengsfeld und andere Gefängnisstrafen. Bitter zu lesen, wie selbst enge Freunde bei dem Gerichtsverfahren der Angeklagten in den Rücken fallen. Schäbig war auch das Verhalten der Stasi Agenten Wolfgang Schnur und Gregor Gysi, die im Dienst der Stasi im Hintergrund die Fäden ziehen. Ein ganz besonders abstoßendes Beispiel statseinschleimerischer Anbiederei bot noch kurz vor dem Untergang der DDR der DDR- PEN Präsident Heinz Kamnitzer, der Lengsfeld öffentlich auf das Übelste beschimpfte. Typisch für die „Wikipedia“ übrigens, dass davon in dem Kamnitzer-Artikel nichts zu finden ist. Was Vera Lengsfeld damals noch nicht wusste, war, dass ihr Ehemann, der Lyriker Knud Wollenberger selbst im Dienst der Stasi stand und alle Aktionen seiner Frau schnurstracks an den Geheimdienst verriet.
Nach der Verurteilung wegen „Rowdytums“ wird von DDR Seite versucht, Lengsfeld gegen ihren Willen in die BRD abzuschieben, was an ihrem Widerstand scheitert. Am Ende aber nimmt sie die Gelegenheit wahr, in Cambridge zu studieren, was die Stasi weidlich nutzt, um Lengsfelds Ansehen in der DDR herabzusetzen. Die gesamte Zeit über bleibt sie mit den Dissidenten in Ost und West verbunden, wobei sie von den westdeutschen Grünen und der SPD starke Unterstützung erfährt. Man muss also immer im Hinterkopf behalten, dass sich die oppositionelle Bürgerbewegung in der DDR bei aller Kritik am realen Sozialismus als „linke“ Bewegung definierte, was ihre spätere Instrumentierung durch die SED/PDS während des Zusammenbruchs der DDR erleichterte.
Dann ist es soweit. Bei einem Besuch in der DDR erlebt Vera Lengsfeld zufällig die Maueröffnung mit und tritt nun auch offiziell den Bündnisgrünen bei. Bei den sich nun überschlagenden Ereignissen spielt die Bürgerrechtsbewegung am sogenannten „Runden Tisch“ dann eine verhängnisvolle Rolle, weil sie es nicht verhindert, dass die SED/PDS ihr Parteivermögen in den Untergrund verschieben kann. Während die Stasi Agenten Wolfgang Schnur und Lothar de Maiziere bei der Ost-CDU und Ibrahim Böhme bei der Ost-SPD zeitweise zu Hoffnungsträgern werden, wird Vera Lengsfeld Pressesprecherin bei den Bündnisgrünen und erlebt das totale Debakel der Ost-SPD und des „Runden Tischs“ bei der Märzwahl des Jahres 1990. Nun überrollt die CDU alles, und als sich die Bündnisgrünen mitsamt dem „runden Tisch“ gegen eine zu schnelle Wiedervereinigung aussprechen, verlieren sie empfindlich an Anhang bei den Wählern.
Ab 1990 sitzt Vera Lengsfeld für die Bündnisgrünen im deutschen Bundestag und beschäftigt sich mit der Abwicklung der Nationalen Volksarmee, mit der Abtreibung, dem Bonn-Berlin-Gesetz und dem Stasi-Gesetz. Von Anfang an erlebt sie, wie sich die SED/PDS immer geschickter in dem demokratischen System der BRD einrichtet und wie ihre verbrecherische Vergangenheit verharmlost wird. Als Vera Lengsfelds Ehemann Knud Wollenberger kurz darauf als IM „Donald“ enttarnt wird, gerät sie in das Visier infamer linker Presseattacken vor allem von Seiten des SPIEGEL. Ein bezeichnendes Detail schildert Lengsfeld am Ende des Buches. Lengsfelds Buch „Virus der Heuchler“ erscheint 1992 in einem Verlag, an dem die PDS beteiligt ist und wird stillschweigend zurückgezogen, als Gysi entdeckt, dass in dem Buch von ihm als Stasi Agent „Notar“ die Rede ist.
Damit endet die lesenswerte Biografie und Vera Lengsfeld zieht ein zwiespältiges Fazit. Ihrer Ansicht nach ist die Aufarbeitung der Stasi-Aktivität in der BRD gescheitert. Die kriminellen Aktionen der Stasi wurden in den Westmedien kaum thematisiert, ihre Mitarbeiter wurden kaum zur Rechenschaft gezogen und mit hohen Altersbezügen belohnt. Längst haben sich ihre Seilschaften in den Medien und in der Politik breitgemacht. Heute sitzen Stasi Spitzel wie Dieter Dehm im Parlament, die SPD Vorsitzende Andrea Nahles lässt sich von einer ehemaligen Stasi Agentin beraten, und ein linker SPD Minister (Heiko Maaß) beauftragt eine ehemaligen Stasi Agentin wie Annette Kahane und ihre Antonio Amadeo Stiftung mit der Bespitzelung der Netzöffentlichkeit. Umso bewundernswerter, dass Frau Lengsfeld ihren Kampf um die Freiheit nicht aufgibt und sich auch nicht durch die eingangs erwähnten Unverschämtheiten im Petitionsausschuss irre machen lässt. Ihr lesenswerter Blog legt Tag für Tag den Finger auf die zunehmende Erosion des bundesrepublikanischen Rechtsstaates, zu dem die Linkspresse überwiegend schweigt, wenn sie ihn nicht sogar befördert.