„So ‚skandalträchtig‘ oder ‚skandalös‘ etwas auch erscheinen mag, den Skandal als solchen gibt es nicht“, schreibt Leonie Langer. „Es sind immer die Medien, die ein Thema aufgreifen und daraus einen Skandal werden lassen.“ Mit dieser Ausgangsthese beginnt Leonie Wagner ihre literaturwissenschaftliche Abschlussarbeit an der Freien Universität Berlin, in der sie am Beispiel der Literaturskandale um Christian Krachts Buch „Imperium“ und dem Israel Gedicht von Günter Grass „Was gesagt werden muss“ eine kleine Phasentheorie der literarischen Skandalisierung entwickelt. Das hört sich zunächst vielleicht ein wenig seminaröde an, ist aber erstaunlich interessant und kurzweilig zu lesen. Methodisch geht die Autorin so vor, dass sie zuerst ihre theoretischen Postulate darlegt, um sie dann an den beiden konkreten Fällen zu überprüfen.
„Zu einem Skandal gehören mindestens drei Akteure,“ beginnt Langer, „der Skandalisierte, der wegen eines (vermeintlichen) Fehltritts angeprangert wird, der Skandalisierer, der den Fehltritt und seinen Verursacher öffentlich anklagt – in der Regel handelt es sich um einen oder mehrere Journalisten –, sowie Dritte, (von) denen darüber berichtet wird und die darauf reagieren.“ Natürlich hängt die Entfaltung des Skandalpotentials fast ausschließlich von der Reaktion der Medien ab, wobei zu bedenken ist, dass Medien per se „selbstreferentiell“ sind und sich schon von daher ein automatischer Verstärkungseffekt ergibt. Ist der literarische Skandal einmal in der Welt, verläuft er in mehreren Phasen: „der Latenzphase mit Schlüsselereignissen, der Aufschwungphase, der Etablierungsphase mit Klimax, der Abschwungphase und der Rehabilitationsphase.” In der Etablierungsphase vollzieht sich die Urteilsfindung über den skandalisierten Autor, die fast immer rein moralisch fundiert ist. Hier geht es nur um Siegen oder Verlieren, um gut oder böse.“
Soweit so die Theorie. Wie aber verlief die Skandalisierungen ganz konkret bei Kracht und Grass? Was im Fall des Buches „Imperium“ von Christian Kracht sofort auffällt, ist der Umstand, dass der Versuch der Skandalisierung durch den Spiegel Kolumnisten Georg Diez relativ schnell auf ihn selbst zurückfiel. Und das zu Recht. Den Leser überkommt ein regelrechtes Fremdschämen, wenn er die Galerie der bösartigen Unterstellungen liest, mit denen Diez nicht nur dem Buch, sondern auch dem Autor persönlich zu Leibe rückt. Kein Zweifel: Hier war ein Denunziant der schlimmsten Sorte am Werk, der sich etwas vorschnell darauf verließ, dass allein schon das Prädikat „rechts“ genügen würde, um die Hetzmeute der politischen Korrektheit auf Christian Kracht zu lenken. Dies misslang jedoch – nicht zuletzt, weil sich Krachts Verlag Kiepenheuer und Witsch sofort auf die Seite seines Autors stellte und auch andere Mediengrößen Krachts Partei ergriffen. (Ein Schelm, wer jetzt an das würdelose Verhalten des Suhrkamp-Verlages gegenüber Uwe Tellkamp denkt). Am Ende bestand der Skandal nicht mehr in dem vermeintlichen „rechten Gedankengut“ von Christian Kracht sondern in der Herabwürdigung der Literaturkritik auf die Ebene niederträchtigster Sykophantie.
Anders verlief der Skandal um das Israel-Gedicht „Was gesagt werden muss“ von Günter Grass. Hier traten Verlage, Zeitungen und etablierte Premium-Journalisten mit großem Engagement ( „Günter Grass, der ewige Antisemit“ oder „Lyrischer Erstschlag“) gegen den Skandalisierten auf den Plan und bekräftigten die Vorwürfe eines verdeckten Antisemitismus unter anderem durch die Technik der „Kontextualisierung“, in dem man Grass´ lange Zeit verschwiegene SS-Mitgliedschaft thematisierte. Dass Grass sich anders als Kracht von Anfang an heftig wehrte, hat seine Position eher geschwächt als bestärkt. Am Ende ebbte zwar auch diese Debatte ab, das Ansehen von Grass als moralische Instanz der Bundesrepublik hatte aber schweren Schaden genommen.
Insgesamt hat Leonie Langer hat einen ganz ausgezeichnete Monographie zum Verständnis literarischer Skandale vorgelegt, der zum Weiterdenken anregt. Die Sprache ist exakt und unprätentiös, der Duktus unparteilich (viel unparteilicher als diese Rezension). Ihre allgemeinen Schlussfolgerungen sind überzeugend und erweisen ihren Wert nicht zuletzt dadurch, dass sie den Blick auf andere Skandale lenken. So zeigt etwa der Blick auf die skandalisierte Paulskirchenrede von Martin Walser, dass der Skandalisierte, immerhin ein weltweit geachteter Autor, durch die Skandalisierung auch domestiziert, das heißt in den Mainstream „heimgeholt“ werden kann. Bei dem Buch „Finis Germania“ des ebenfalls recht etablierten Autors Rolf Sieferle kam es nur in einem sehr eingeschränkten Sinne zu einem literarischen Skandal, weil das Buch nach einer ersten wegweisenden Skandalisierung durch Herwig Münkler (die an Perfidität durchaus der Diez´schen Denunziation gleichkam) ganz einfach aus allen Regalen der Buchhandlungen verschwand. Der Spiegel nahm es einfach aus seiner Bestsellerliste heraus, was an sich selbst wieder ein literarischer Skandal war, der aber von der Literaturgemeinde nicht aufgegriffen (skandalisiert) wurde. Diese Methode des Totschweigens als Alternativmethode der Skandalisierung zeigt, dass Skandalisierungen immer auch Grenzziehungen sind, in denen über den Bereich des Sagbaren gestritten wird. Jenseits einer bestimmten Meinungsgrenze gibt es dann nur noch Schweigen. Interessant ist auch eine vergleichende Betrachtung der Tellkamp-Grünbein Kontroverse. Uwe Tellkamp hat sich als Literat zwar nicht in einem Buch, aber doch in einer literarischen Veranstaltung sehr kritisch mit der Massenzuwanderung auseinandergesetzt, worauf ihn sein Gesprächspartner, Durs Grünbein, durch Kontextualisierung mit Pegida und der AfD öffentlich skandalisierte. Verquickt hat sich diese Debatte mittlerweile mit dem Streit um die „Gemeinsame Erklärung“ von einigen Dutzend Prominenten, die das Recht einfordern, in Deutschland auch gegen ungesetzliche Zustände in der Massenmigration demonstrieren zu dürfen. Dass mittlerweile über 2000 Kulturschaffende aus allen Teilen des Landes, unter ihnen auch der Verfasser dieser Zeilen, die Gemeinsame Erklärung öffentlich unterschrieben und damit für die Position von Tellkamp votiert haben, bedeutet nicht mehr und nicht weniger als den Versuch, dem Literatur- und Medienbetrieb das Herrschaftsmittel der Skandalisierung zu entwinden.
Mag dieses Weiterdenken berechtigt sein oder nicht, dass das vorliegende Buch dazu anregt, ist schon mehr als man von den meisten werken in diesem Genre sagen kann.