Lepore: Die Wahrheiten. Eine Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika

Jill Lepore, eine junge Historikerin, hat eine viel gelobte Geschichte der USA vorgelegt. Viel gelobt, weil sie voll im Trend des Zeitgeistes liegt. Aber muss sie deswegen auch schlecht sein? Keineswegs, nur etwas einseitig, wenngleich auf eine interessante Weise. Interessant deswegen, weil das vorliegende Buch die Geschichte der USA als eine halbierte Erfolgsgeschichte beschreibt – halbiert, weil sich nur die weiße männliche Bevölkerung emanzipierte. Nur für sie galten „diese Wahrheiten“ der Unabhängigkeitserklärung, auf die im Titel angespielt wird – nicht aber für Schwarze, Asiaten, Indianer und lange Zeit auch nicht für die Frauen. Das hat man eigentlich immer schon gewusst, aber noch nie so eindringlich und überzeugend dargestellt, gelesen. Diese Perspektive bringt es mit sich, dass die Autorin die dunklen Stellen der amerikanischen Geschichte kräftig nachkoloriert, was nicht allen gefallen wird, aber trotzdem zum Gesamtbild gehört. Was mir zum Beispiel unbekannt gewesen war, war die katastrophale Entwicklung der Rassenfrage gerade nach der Niederlage des Südens im Sezessionskrieg. Auf die rein äußerliche Gleichstellung der Schwarzen, die der siegreiche Norden nach 1865 mit vorgehaltenem Gewehr erzwingen wollte, antwortete der Süden mit Ku Klux Klan und Lynchjustiz. Da nach den Fall der „Drei Fünftel Regel“, die Südstaaten auf der Bundesebene politisch stärker wurden (weil jetzt jeder Schwarze im Süden wie ein Weißer zählte), gelang es dem Süden unter dem Deckmantel der föderalen Eigenständigkeit die Emanzipation der Schwarzen zurückzudrängen und sie durch die sogenannten „Jim Crowe-Gesetze“ auszuhebeln. In dem Maße, in dem die Farbigen Opfer des Lynchmordes  wurden, ging ihre Wahlbeteiligung zurück. Die Rassisten ergriffen erneut die Macht in den Einzelstaaten des Südens, und die Schwarzen wanderten zu Hunderttausenden aus. Die „Great Migration“ begann, die die Rassenfrage auch in den Norden brachte.

Neu für mich waren außerdem diverse Details zur Geschichte des amerikanischen Parteiensystems. Ich hatte mich immer schon gewundert, wie aus den Demokraten, einstmals der Partei der Sklavenhalter im amerikanischen Bürgerkrieg heute die Partei der Minderheiten werden konnte, die von 90 % der Schwarzen gewählt wird. Die demokratische Partei war nach dem Bürger Krieg föderalistisch (um im Süden  die Schwarzen weiter unterdrücken zu können), sie war rassistisch und kollektivistisch. Am Ende des  19. Jahrhunderts verband sie sich mit der halb faschistischen „Peoples Party“, die die Interessen des weißen Prekariat vertrat und mit liberalen Progressivisten, die einen Schuss Staatszentralismus und sozialem Paternalismus mit ins Spiel brachten. Die Republikaner dagegen, die Partei der Sklavenbefreier, entwickelten sich zur Partei des Kapitals und des Wohlstandes, die heute von den Schwarzen kaum noch gewählt wird.

Das sind nur zwei unter vielen einprägsam herausgearbeiteten Einsichten, die das umfangreiche Buch  bietet. Im Mittelpunkt aber steht die große Politik in Washington und der Kampf der gesetzgebenden Organe, vor allem die Auseinandersetzung zwischen der Exekutive und dem obersten Gerichtshof, wobei jede Seite mal den Fortschritt oder die Reaktion vertritt. Obwohl die Autoren erkennbar, dem liberalen Lager zuneigt, bekommen alle Teile ihr Fett weg. Sogar Obama bleibt von ihrer Kritik nicht verschont, Clinton wird gar als „Schlawiner“ bezeichnet.  Aber die Schuld an der gegenwärtigen Spaltung der Nation weist sie beiden Seiten zu: den Demokraten, weil sie die soziale Frage vergessen und sich einer Identitätspolitik für die Minderheiten verschrieben haben, und den Republikanern, weil sie die Verfassung wie eine Monstranz vor sich her tragen und damit jeden sozialen Fortschritt behindern. Kaum aus zu denken, was sie über Trump gesagt hätte, wenn dessen Präsidentschaft in ihrem Buch noch beschrieben worden wäre.

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