Lesen in der Epoche der verschwundenen Menschheit

In Jahre 2020 fiel die reguläre Frankfurter Buchmesse wegen der Corona-Pandemie aus. Stattdessen gab es eine Internet-Buchmesse mit 13 Themenwelten, an der die Besucher aus dem Cyberspace partizipieren konnten. Diese Konstellation ist die Grundlage für die unten abgedruckte Satire

 Digitale Frankfurter Buchmesse 2020

 Stellen wir uns einen Augenblick vor, die Welt sei untergegangen. Die Städte vergammelt, die Berge umgekippt, die Flüsse ausgetrocknet. Nichts ist mehr vorhanden von der menschlichen Zivilisation als digitale Überreste aus dem 21. Jahrhundert, eine Unendlichkeit meist beschädigter Dateien, die von einer verschwundenen Menschheit erzählen.

Stellen wir uns ferner vor, dass eines fernen Tages eine intelligente intergalaktische Spezies auf unserer Erde landet wie Captain Cook auf den Osterinseln und sich fragt: Was ist eigentlich hier passiert? Wie sah die Welt aus, die sang- und klanglos im Orkus der Geschichte verschwand? Was hat ihre Bewohner umgetrieben, ehe sie sich aus der Geschichte verabschiedeten?

Bei der Beantwortung dieser Frage fiel  Captain XPKL2, dem Leiter des Forschungsschiffes der Galaktonen, die Datei „Frankfurter Buchmesse Digital 2020“ in die Hände. Im Unterschied zu den meisten Dateien war sie gut erhalten und bot wichtige Einblicke in das Leben der verschwundenen Spezies. Sofort gingen Captain XPKL2 und seine Mitarbeiter ans Werk.

Das erste, was Captain XPKL2 herausfand, war ein kulturgeschichtlicher Befund. Einstmals, in der  Epoche der verschwundenen Menschheit gab es einen Brauch, nach dem sich  sogenannte „Kulturschaffende“ aus aller Welt einmal im Jahr in einer kleinen Stadt namens „Frankfurt“, versammelten, um sogenannte „Bücher“ vorzustellen. Bücher bestanden aus Blättern, die mit zahllosen Buchstaben bedruckt waren. Man konnte sie lesen, mit sich herumtragen, in Regalwände stellen,  seinem Gegenüber an den Kopf werfen oder sie auf Flohmärkten verhökern.  Obwohl es schon Millionen Bücher gab, erschienen jedes Jahr Zigtausende Neuerscheinungen, und die wichtigsten von Ihnen wurden einmal im Jahr in der besagten kleinen Stadt namens Frankfurt vorgestellt.

Schnell wurde deutlich, dass die Bücher in der Epoche der verschwundenen Menschheit eine  besondere  Funktion besaßen. So wie es aussah, war die Geschichte der Menschheit immer auch eine Geschichte der Bücher gewesen  Alle  Gedanken, die jemals gedacht worden waren, hatten ihren Platz zwischen die beiden Deckel eines Buches gefunden. Was nicht in einem Buch stand, besaß keine Wirklichkeit, oder noch zugespitzter formuliert: die Welt der Bücher war die zweite Wirklichkeit, die sich wie ein Zelt über die erste erhob.

Bei der Frage nach den Strukturen dieser zweiten Wirklichkeit durchmusterte  Captain XKPL2 und sein Team zuerst die gesamte digitale Präsentation der „Frankfurter Buchmesse 2020“, um sich schließlich auf die zentrale Datei „Themenwelten“ zu fokussieren. Die „Themenwelten“ waren  für die Galaktonen interessant, weil sich in ihnen die Gesamtheit der literarischen Kultur der menschlichen Spezies in 13 Schubladen präsentierte und weil in jeder dieser 13 Rubriken einige Werke als besonders beispielhaft und wichtig herausgestellt wurden.  Diese 13 Themenwelten waren: Comic, Fantasy und Science Fiction, Hörbuch, „Independent“, Kinder, Kunstbuch und Fotografie, Literatur und Sachbuch, Politik und Gesellschaft, Ratgeber, Reisen und Genuss, Spannung, Unterhaltung und last noch least  „Young Adult“, eine kulturelle Visitenkarte der verschwundenen Menschheit auf engsten Raum.

Noch etwas fiel Captain XPKL2 und seinem Team ins Auge. Es war sehr viel von (1) Frauen und (2) von jungen Menschen die Rede und dementsprechend standen jungen Frauen (1+2) im MIttelpunkt.  Viele dieser jungen Frauen schienen in der Epoche der verschwundenen Menschheit ihren Lebenssinn darin zu sehen, Bücher zu schreiben, in denen sie ihre eigene Erlebniswelt in möglichst düsteren Farben beschrieben. Das überraschte den Captain, denn die weiblichen Galaktonen auf seinem heimatplanet lebten fast alle als heitere Mütter in kinderreichen Familien. Ein solches Familienbild war in der Epoche der verschwundenen Menschheit verpönt. Einige der Frauen wetterten offen gegen die Fortpflanzung als solche, andere feierten das Recht auf Abtreibung bis zur Geburt. Einige waren schön anzusehen, andere trugen einen Ring durch die Nase wie etwa eine Person namens Pia Lamberty, die ein Buch über sogenannte „Fake News“ geschrieben hatte. Fake News war übrigens ein Zentralbegriff in der Epoche der verschwundenen Menschheit. Man verstand darunter Informationen, anhand derer die Regierung unter Rückgriff auf sogenannte „Verschwörungstheorien“ kritisiert wurde. Eine vertiefte Analyse der Bücher, die innerhalb der Themenwelten vorgestellt wurden, zeigte jedoch, dass auch die Regierung Fake News verwendete. Allerdings nannte sie ihre eigenen Fake News „Faktencheck“ „Correctiv“, „Tagesschau“, „Heute“ oder „Anne Will“.

Ein großer Teil der Autoren, die auf den Themenwelten zu Wort kamen, waren voller Sorge – nicht nur wegen der Fake News, sondern auch wegen „Populisten“, „Rechtsradikalen“, „Reichsbürgern“ und dem „Kapitalismus“.  Diese Sorgen wurden ausweislich der vorliegenden digitalen Quellen vor allem durch zwei Menschengruppen verursacht: alte weiße Männer im Allgemeinen und Faschisten im Besonderen, wobei die zweite Kategorie eine Teilmenge (manche meinten auch: nur ein anderer Name) der ersten war. Die alten weißen Männer hatten mit Klimaschutz, Weltoffenheit und Diversity nichts am Hut und waren nach dem Tenor der meisten Bücher voll verantwortlich dafür, dass es mit der Welt der Menschheit so rapide abwärts ging. Da blieb nur noch die Flucht in den Sex und die Melancholie, wie sie etwa eine Person namens Paulina Czienskowskis in einem Buch mit dem Ttiel „Taubenleben“ beschrieb. Das Buch beginnt mit dem Warten der Protagonistin auf das Ergebnis eines HIV-Tests, den sie nach einem sogenannten „one-night stand“ vornehmen ließ. Sogenannte „one night stands“, unter denen man einen spontanen Geschlechtsverkehr unter sich ansonsten wildfremden Menschen verstand, gehörte in der Epoche der verschwundenen Menschheit zum normalen Alltagsverhalten geschlechtsreifer Großstädter, auch wenn er ausweislich der beworbenen Bücher nicht immer nur Freude bereitete. Mitunter führte der schrankenlos ausgelebte Sexualtrieb auch zu Ungemach und Traumata, wie etwa bei einer Person namens Vanessa Springora, die  in ihrem Buch „Die Einwilligung“ darstellte, wie sie  als junges Mädchen von dem linken Feuilletongiganten Gabriell Matzneff missbraucht worden war.

Je mehr Captain XKPL2 und sein Team sich in die Themendateien der Frankfurter Buchmesse vertieften, desto deutlicher wurde, dass Autoren wie Leser von einer großen Einsamkeit geschlagen waren. Die Leser waren einsam und lasen über Einsamkeit, sie waren wütend und lasen Empörendes, und weil sie ohne Hoffnung waren, berauschten sie sich an Büchern über eine hoffnungslose, untergehende Welt. Obwohl sie permanent  kommunizierten,  waren sie alleine mit sich und ihrem Körper, der sich ihnen als rätselhaftes, übermächtiges, manchmal auch verfluchtes Enigma  entgegenstellte. Dass, was es auf den Heimatplaneten der Galaktonen gab, eine Religion, die ihren Anhängern Sinn und Richtung schenkte, schien es in der Epoche der verschwundenen Menschheit nicht mehr zu existieren.  Auch Musik, Kunst, Kultur und Tradition spielten in der digitalen Visitenkarte der Frankfurter Buchmesse keine herausgehobene Rolle. So, wie es aussah, waren sie Ballast, die von der Menschheit in der Epoche ihres fortschreitenden Verschwindens bereits abgeworfen worden waren. Alles war innerweltlich, dort aber unbegrenzt wie eine Durchmusterung von Textproben aus  den Büchern der Kategorie „Independent“ und „Young Adult“ bewiesen. Die Melange aus Fäkalsprache und Sex, gut durchgerüttelt mit politischer Moralität und einem triumphal präsentierten absoluten kulturellen Nullmeridian warf lange Schatten auch auf die seriösen Bücher in ihrer Nachbarschaft. Wollte man es überspitzt ausdrücken, segelte das das Schiff der Literatur in der Epoche der verschwundenen Menschheit schnurstracks einem Ozean der Abwässer entgegen.

Diese Selbstauflösung der Literatur in der Ätze einer belletristisch verbrämten Kreatürlichkeit  stand offenbar mit einer Seuche in Zusammenhang.  Diese Seuche, die sich von  China aus über die ganze Welt ausgebreitete, verängstigte die Menschen und sorgte dafür, dass sie, wo immer es möglich war, zu Hause blieben. Die Epoche der verschwundenen Menschheit begann also mit ihrem Verschwunden aus der Öffentlichkeit. Soweit es die Todeszahlen erkennen ließen, waren an dieser Seuche, allerdings zunächst überwiegend ältere Personen, die am Ende ihres Lebens standen, gestorben. Aber zu dem Giftgetränk aus Sex und Moralität, den grellen Farben des Zeitgeistes, fügte die Seuche in der Epoche der verschwundenen Menschheit die Angst als düstere Grundierung hinzu, eine extrem übertriebene Angst, die die letzten Überlebensinstinkte lähmte. Die zweite Wirklichkeit der Welt in Gestalt der Bücher wurde zu einem Zelt, das sich von innen ausnahm wie eine Leinwand des Grauens.   Damit endete die Datei. Was nachher geschah, bleibt ein Rätsel.